Vatersprache vertont

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 21.05.2006, 16:54

Hallo,
ich habe die Ehre, dass jemand (ohne Aufforderung) mein Gedicht Vatersprache vertont hat! Das ist für mich so wundervoll, dass ich es doch zeigen mag!

Vertonung: http://hardyheinlin.de/etc/riese01.mp3

Noten:
Bild

Homepage des Künstlers: http://hardyheinlin.de

Text noch mal:
Vatersprache

Eines Tages
werde ich
einen Riesen
sprechen.

Mit rotem Gebrüll
und luftigem Geschrei
steigt er aus meinem
Höhlenmund.

Seine Stiefel fliegen
über die Gipfel deiner
erhabenen Grundsätze.

Sein Echo trifft Deine aus
Imperativen erbaute Stadt
bis nichts mehr steht.

Außer deiner Heimat Turm.
Das unablässige/stetige/ewige
Ausrufezeichen.

Neben diesen setzt er sich
ins Gras und lässt
das Schwarz des Turmes
gegen seine Spiele verblassen.
Straft Wortreich Lügen
mit seinem Lachen.

Schafft ein Babel für mich
um endlich nicht mehr
deine Sprache zu sprechen.

Um endlich kein Wort mehr
von dir zu verstehen.

Ich finde das so gelungen, dass musste ich posten :grin:

Louisa

Beitragvon Louisa » 21.05.2006, 19:44

Schön, Lisa!

Ein großes Kompliment an den lyrischen Musiker und die musikalische Dichterin!

Beide Werke beeindrucken mich.

Sonntagsgrüße, louisa

Gast

Beitragvon Gast » 21.05.2006, 23:53

Klasse, Gruß an dem Kompositeur... erinnert mich ein wenig an "Peter und der Wolf"... :smile:

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 22.05.2006, 00:47

Wie ich eben das Forum zum ersten Male betrat, so habe ich auch gerade erstmals bemerkt, daß Du Dein Gedicht inzwischen verändert hast, Lisa.

Besonders bei einem Gedicht wie diesem, halte ich Kritik für paradox. Im folgenden will ich nicht die Neufassung kritisieren, dazu fehlt mir persönlich der Zugang, ich will vielmehr die Kritik kritisieren; die Kritik der Väter(!) an der Originalfassung.

Mir scheint, als wäre die Neufassung nicht mehr ein Gedicht über Vatersprache, sondern eine in Vatersprache. Der Vater hat das Gedicht klammheimlich geschnappt und nach seinem Gusto sterilisiert, und das riesensprechende Ich hat die Vereinnahmung nicht bemerkt. Vielleicht irre ich mich; aber wenn nicht, dann sei dies mein Versuch, diesen klammheimlichen Vorgang ins Bewußtsein zu rufen.

Die Originalfassung hat bei mir besonders durch die ersten Zeilen sofort gezündet. "Könnte ich nur einen Riesen sprechen" -- das hat so viel Farbe, daß ich das, als optisch denkender Mensch, nicht übersehen kann; und diese Farbe ist so vollgefüllt mit Sehnsucht, so leidenschaftlich, und in seinen Worten so außergewöhnlich, so spontan und impulsiv, daß die Neufassung nur farblos dagegen wirken kann: "Eines Tages werde ich einen Riesen sprechen". Schade. Für mich stimmt jetzt die Chemie nicht mehr. Statt Sehnsucht und Leidenschaft, sehe ich jetzt eine vatersprachlich verseuchte Trockenheit, eine kühle Abgeklärtheit, eine selbstverständliche Flachheit, über der keine angreifbare Obrigkeit mehr steht (wozu dann überhaupt einen Riesen benötigen?), kein glaubhaftes Unten mehr, welches ein Potential für das dynamische Aufbäumen eines Riesen böte.

Bezeichnend ist auch die Grundsatzfrage bezüglich "stünde" versus" "stände". Den nebensächliche Grundsätze niederschmetternden Riesen hat es nicht zu kümmern, ob es "stünde" zu heißen hat, zumal der Poesie so viel antiorthographische Frechheit gestattet sein muß. Ich hätte zum Trotze geschrieben: "stönde"!

"Könnte ich nur ein mächtiges Wort sprechen." Ein farbloser Satz wie dieser hätte meine Aufmerksamkeit nicht erregt.

Apropos Konjunktiv. Ich kann nicht nachvollziehen, was an ihm ästhetisch oder technisch schlecht sein soll, selbst dann nicht, wenn er das gesamte Gedicht von oben bis unten durchzöhöge, und zwar ohne "würde".

"Deiner Heimat Turm". Das klingt, als wäre in der Neufassung der Turm einer von vielen Gegenständen in der Heimat. Wieder eine vatersprachliche Vereinnahmung des Gedichts. "Deine Heimat Turm" in der Originalfassung hingegen ist die Heimat namens Turm. Der einzige Gegenstand. Das ist konzentrierter und wuchtiger, würde ich meinen.

So bauen die Väter Schritt für Schritt die Dynamik der Originalfassung ab. Das Unten wird verstärkt, das Oben wird abgeschwächt. Die Spannung wird reduziert. Das Impulsive, das Spontane, wird trockengelegt.

Mir scheint, als ginge es in der Neufassung nicht um ein Gedicht, sondern um einen parlamentarisch verhandelten Verfassungstext, in dem sich die unterschiedlichsten Charakterköpfe wiederfinden wollen. In der Demokratie sind Kompromisse essentiell, aber in einem persönlichen Gedicht kann es nur einen einzigen Charakterkopf geben.

Die Neufasssung hat für mich keine Seele mehr. Meine Musik gilt ausschließlich der Originalfassung, nur in ihr bekomme ich optische und akustische Visionen.

Noch eine kleine Anmerkung: ich übertreibe gerne. Ha! Also bitte nicht allzu ernst nehmen, meinen Kommentar hier. Die Neufasssung ist bestimmt auch sehr gut. Ich bin kein Lyriker, ich kann nicht wirklich mitreden.


Nastrovje

Pjotr

Gast

Beitragvon Gast » 22.05.2006, 08:24

Guten Morgen Ptjor, Willkommen im Salon,
Dafür dass du kein Lyriker bist, nimmst du den Mund ja ganz schön voll ;-) ...
Spaß beiseite, ich finde dass du stellenweise wirklich absolut Recht hast. Du bestätigst im Grunde meinen Eindruck, dass es auf dieses Gedicht eine männliche und eine kindliche (nicht zu verwechseln mit kindisch) Sicht gibt...
Dass Texte von Forenmitgliedern zum Teil so behandelt werden, als stünden sie zur Disposition hast du auch messerscharf erkannt.
Allerdings hat als Erstes der Autor dafür Sorge zu tragen, dass sein Text nich dahingehend geändert wird, wie quasi abgestimmt wird.
Es wäre gut, dich hier öfter als Kommentator zu lesen.

Sei begrüßt
Gerda

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 22.05.2006, 10:14

Guten Morgen Gerda und alle Lesende,

höchste Zeit, daß ich anständig grüße; ich glaube, gestern bin ich arg plump mit der Tür ins Haus gefallen.

Mir ist noch etwas eingefallen: Selbst wenn die Originalfassung ein paar streitbare stilistische Ecken und Kanten hätte, naja, was sie vielleicht gewisserweise auch hat -- gewisserweise --, dann machen doch gerade diese Ecken und Kanten die Charme aus; die Charme des Kontrastes zur aalglatten Vatersprache. Das macht es ja so authentisch für mich: ich spüre noch eine restliche Spannung des Unterlegenen, des leicht Unbeholfenen (im sympathischen Sinne), aber es fehlt dem Unterlegenen nicht mehr viel, dann ist genug Energie angesammelt und die Kraft des angestauten Riesen explodiert. Ich finde, diese Spannung war perfekt in der Originalfassung. Sogar im Schriftbild war ein Spannungsbogen zu sehen, in der Form der Zeilenanordnung.


Salute

Pjotr


Danke für die netten Worte!

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 22.05.2006, 10:25

Hallo Pjotr,

vielleicht hast du (mit fast allem) Recht. Ich nag ja immer noch an dem Text. Vielleicht kommt es manchmal auch nicht auf die quantitative Lesemöglichkeit an - dies beziehe ich jetzt auf den Konjunktiv. Ich habe ihn sicher zu schnell fallen lassen (weil er auch in anderen Texten immerzu kritisiert und als überflüssig angesehen wurde).

Ich lasse diesen text jetzt aber erst einmal ruhen. Vielleicht hilft es dir, dass die Neufassung genauso instabil ist wie die Erstfassung.

Die Spannung wird reduziert. Das Impulsive, das Spontane, wird trockengelegt.


Ja, du hast recht...

Danke, dass du dich hier SO (und überhaupt) zu Wort gemeldet hast. das hat mir eine warme (!) Ohrfeige verpasst!

Lisa

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 22.05.2006, 10:50

Hallo Lisa.


Seine Stiefel
flögen über die Gipfel
Deiner Grundsätze
die wohl über alles
und jeden erhaben sind.



Einfach perfekt. Es ist so echt, so glaubwürdig. Außerdem steckt da für mich ein ganz außergewöhnlicher virtuoser Mix aus Alltagssprache und Lyrik drin ... ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Und dieses Wort "wohl" hat darin, finde ich, sowohl etwas konjunktives als auch etwas von "Was glaubst du wohl, wer du bist." Diese Lebendigkeit vermisse ich in der Neufassung. -- So, aber jetzt halte ich mich wieder zurück.

Übrigens, ich muß noch etwas fairerweise vervollständigen: auch die Neufassung zeigt in der optischen Zeilenanordnung einen schönen Spannungsbogen.


Pjotr


P.S.: Wenn 10 Kritiken negativ sind, heißt das nicht, daß die restlichen 1000 auch negativ sein werden.

Louisa

Beitragvon Louisa » 22.05.2006, 16:50

Na, na, na...befinden wir uns hier etwa in der "Textwerkstatt"? O:)

-Ich vermisse die empörten Aufschreie. Also ich finde auch, dass der erste Riesen-Anfang besser wäre, aber ansonsten bin ich immer noch beeindruckt von diesem Gedicht.

-Finde es auch nicht kindlich (noch wneiger kindisch). Einfach gut.

Grüßchen, louischen

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 23.05.2006, 21:39

Hallo Pjotr, auch von mir ein herzliches Willkommen. Dein Einbruch hier mag ungestüm, aber nichtsdestotrotz absolut gerechtfertigt sein.

Und ich bin froh, dass sich die liebe Gerda die 'warme Ohrfeige' selbst gegeben hat :grin:

Wenn dieser Mann kein Lyriker ist, dann fress' ich 'nen Besen. Und dazu muss er keine Gedichte schreiben. Eine solche Auseinandersetzung mit Lisas Text - musikalisch wie sprachlich - zeugt von höchster Auffassungsgabe und Sensibilität, von denen sich manch einer ein Scheibchen abschneiden könnte.
Und aus diesem Grunde muss ich die Aussagen von Pjotr und Lisas Text noch ein paar mal lesen, um überhaupt dahinter zu kommen. Wo finde ich das Original als Ganzes?

Ganz großes Kino, Pjotr. Ich bin beeindruckt. So wahr ich hier stönde.

Tom.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 24.05.2006, 00:01

Haha. Danke sehr, Tom.

Dort hatte ich Lisas Meisterstück zufällig aufgeschnappt: http://www.philosophie-raum.de/thread.php?threadid=6892

Gut für die Originalfassung, daß man dort Forenbeiträge bereits nach einer halben Stunde nicht mehr editieren kann! :-)


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