Lieber carl,
danke fürs Einstellen!
Was ich an diesem Text mag, sind die Doppeldeutigkeit und Doppelbezüge vieler Worte. Es passt zum Gedicht, finde ich.
Es ist (im Gegensatz zu Lydies Text), für mich ganz eindeutig ein Liebesgedicht.
Ein geheimnisvolles, ein Schattengedicht. Die Liebenden stehlen sich aus Raum, Zeit und Licht, die Naturgesetze gelten für sie nicht mehr. (Das scheint die Liebe möglich zu machen, ich erinnere mich an einen anderen Text von Dir, in dem es bezogen auf die Zeit auch so war). Ihnen wächst (ein Prozess, der zweite Schatten wird nicht „geworfen“, s.u.) ein zweiter Schatten zu. Wie das genau geschieht, auch das bleibt geheimnisvoll und der Phantasie des Lesers überlassen. Weil der andere im Spiegel wächst, habe ich zunächst an den Vollmond gedacht, der manchmal einen Rotton hat. Der Titel „Zwieschatten“ (statt „Zwielicht“) könnte es vermuten lassen, ebenso der nach Osten fallende Schatten, der durch die Abendsonne im Westen geworfen wird. Der Mond wäre dann der Gegenpol, der Spiegel (so ist es ja auch, er leiht sich das Licht ja nur von der Sonne) auf der andern Seite. Er erscheint langsam, deshalb der Prozess.
Es könnte aber durchaus auch ganz anders sein.
So wird das Geheimnis durchgehalten, was zwischen den beiden geschieht, ist für die anderen unerreichbar, nur eine Ahnung.
Damit komme ich zum Wort „umsonst“, das zwei Bedeutungen hat. Die Jets versuchen vergeblich, Richtung und Ziel vorzugeben. Nicht nur für sich, auch vielleicht für die Liebenden, denn auch „ihren“ kann auf beides bezogen sein. Damit werden die „Jets“ zur Metapher für das, was gegen die Liebe sprechen könnte und ihr das Leben schwer macht.
Aber die Anstrengungen der Jets laufen ins Leere, denn der „ blaue löschblatt abend“ löst sie auf, so wie sich Kondensstreifen der Flugzeuge auflösen (besonders in Hochdruckgebieten, glaube ich).
Umsonst also. Für die Liebenden bedeutet dieses „umsonst“ aber gerade nicht „vergeblich“, sondern: geschenkt. Es wird etwas Ungeheuerliches möglich. In diesem geschenkten Schattenraum. Und wer würde bezweifeln, das das ein Geschenk ist?
Bei Lydies Text liegt für mich der Schwerpunkt eindeutig auf der Behutsamkeit im Umgang mit den Worten. Eine Gratwanderung.
Hier ist die Gefühlsebene für mich mehrschichtiger. Geheimnis, Zärtlichkeit, Erstaunen...
Und der Grat das Geschenk zwischen Abend und Morgen...
Das Gedicht ist eine Assoziationsfundgrube, wunderbare, unverbrauchte Bilder, die innere Räume öffnen.
Soviel erst mal. Dass ich das gern gelesen habe, brauche ich vermutlich nicht mehr zu erwähnen...
Liebe Grüße
leonie