Hallo Lisa,
mal schauen, ob ich es schaffe, meine Gedanken zu diesem gedicht schnell genug niederzuschreiben. Ich habe nicht so viel Zeit. Wenn ich es aber nicht sofort schreibe, dann verfolgt es mich noch den ganzen Tag in der Uni, und das kann ich mir heute nicht erlauben.
Der Titel ist Programm des Textes, fast schon im Sinne einer Programmiersprache.
Der Punkt steht ein Leerzeichen von der gängigen Schreibweise versetzt. Dadurch fällt er ins Auge, wird zu mehr als dem Zeichen des Satzendes. Er ist die Mitte beider Sätze, ihnen beiden zugehörig, somit markiert er sie als gleichwertig und relativiert die Leserichtung, die auch von rechts nach links geschehen könnte.
Der Punkt fungiert als Spiegel. Die parallelistische Struktur der Sätze tut ihr Übriges hinzu. Was auf der einen Seite des Spiegels Fenster sind, sind auf der anderen Seite eben Spiegel. Der Spiegelfunktion verzerrt also das gespiegelte Bild, fügt ihm etwas hinzu, was eigentlich nicht da ist oder nimmt ihm etwas weg, oder verändert etwas. Was genau sie tut ist wegen der Gleichwertigkeit beider Seiten nicht entscheidbar. Deshalb beginnt das lyrische Ich seine Selbstfindung dadurch, dass es die Spiegelbilder miteinander vergleicht und auf das reduziert, was sie gemeinsam haben. Am Schluss wird das nochmal ausgedrückt durch: "habe sie bitter/ habe bitter": Bitterkeit ist das Produkt der Reduktion, ein Bittersein, dass nicht mehr auf etwas gerichtet ist, weil es nicht wüsste auf was.
Im Text werden grob gesagt zwei Bildebenen als Spiegelung verkauft: Zimmer und Garten, Innen und Außen. Weil die Fenster hier die Spiegel sind, kann lyr. Ich mal hindurchsehen und mal werden seine Blicke zurückgeworfen.
Das Gewächs, das sich auswächst, ist das Ich, im metaphysischen Sinne, selbst. Als Produkt seiner eigenen Augen, die nach drinnen und draußen schauen: "gewächs/ vor meinen augen/ meine augen"
Deshalb fällt ihm es so schwer die Realität wahr zu nehmen, sich zwischen Spiegeln und Fenstern zu unterscheiden, weil es nicht weiß, wo es sich befindet und beides durcheinander gerät: Ich und Realität, Welt und Wahrnehmung. Aus dieser Unbestimmtheit folgt die Bitterkeit. ("vor meinen augen . bäche/wo meine augen nicht sind//war an den wasserfällen der häuserfront/war ich an den wasserfällen der häuserfront/habe sie bitter") Das Wasser symbolisiert -für mich- erneut den fließenden Übergang zwischen beiden Spiegelbildseiten.
Diese Verwirrung veranlasst lyr. Ich zu grotesken Handlungen. Es tut drinnen Dinge, die es eigentlich draußen tun sollte: "meine gärten . die teppichmuster/ich nässe euch . ich sehe euch/ich nässe das zimmer"
In diesem Punkt ist Denken und Handeln wieder als beide Seiten des Spiegelbilds miteinander eins geworden. Aber nicht so, wie es ursprünglich bezweckt war. Statt die Unentscheidbarkeit entscheidbar zu machen, wurd die Entscheidbarkeit völlig aufgelöst. Daran charakterisiert sich die Bitterkeit.
Das Gedicht hat mich stark an Ingeborg Bachmanns Entfremdung erinnert: "In den Bäumen kann ich keine Bäume mehr sehen./Die Äste haben nicht die Blätter, die sie in den Wind halten./Die Früchte sind süß, aber ohne Liebe./Sie sättigen nicht einmal./Was soll nur werden?"
Der Entfremdungsgedanke wird auch in deinem Gedicht an einer Auflösung verdeutlicht. Jedoch nicht wie bei Bachmann einer einseitigen Auflösung, sondern eben gespiegelt, doppelseitig.
Außerdem erinnerte mich das "habe bitter" stark an Celans
"Zähle die Mandeln". Du scheinst mir mit bitter ein ähnliches Gefühl zu meinen, aber ohne zwischenmenschlichen Bezug. Bei dir gibt es letztlich nicht etwas Bitteres sondern nur noch bitter, als Attribut, das als solches bloß auf einen Träger verweist, den es vorher wegreduziert hat.
So, jetzt habe ich es doch noch geschafft. Ich hoffe halbwegs getroffen zu haben. Mir hat es sehr gefallen neben den vielen Gedichten, die oft kaum noch Form haben, mal eines zu lesen, das in gewisser Weise den Spieß umdreht und fast nur noch von seiner Form lebt, die den Leser in eine mögliche Bedeutung des Bildinhalts erst hineinziehen muss.
LG
Last