Maria

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Last

Beitragvon Last » 22.11.2008, 10:56

Wenn morgens früh, bevor der Wecker klingt,
ein neuer Tag um alten Atem ringt,
sucht sie sich ihre Sorgen aus.
Ein Hahn, der kräht: Ich steh nicht auf!
Weil doch der Himmel einen Abend bringt.


Er kräht zugleich, er sei bereit.
Ein jedes Tier hat seine Zeit.

Bald ziehen helle Flecken auf dem Flur
die ersten Bahnen einer vagen Spur
nach der Gardinen Wunsch und Norm
- den Lichtern geben sie die Form.
Dann ächzt der Boden unter Schritten stur.

Der Boden ächzt, er sei bereit.
Der Hahn kräht zwei, bald kräht er drei.

Sie taucht die Hände in das Becken Pflicht,
greift dabei durch ihr Spiegelbildgesicht
und die Gedanken wehen wirr.
Vom Vortag spült sie das Geschirr,
bevor ein Teller fällt und bricht.





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Änderung: Einen Gedankenstrich aus Vers 11 gestrichen
Zuletzt geändert von Last am 17.04.2009, 23:13, insgesamt 2-mal geändert.

Max

Beitragvon Max » 23.11.2008, 11:37

Lieber Last,

das ist ein Text, der mir selbst nach mehrfachem Lesen das Gefühl gibt, ihn noch nicht genügend durchdrungen zu haben. Entsprechend bleibt mein (erster) Eindruck auch zwiespältig. Ich mag die die ironischen Passagen, etwa

Ein Hahn, der kräht: Ich steh nicht auf!
Weil doch der Himmel einen Abend bringt.


gefolgt von


Er kräht zugleich, er sei bereit.
Ein jedes Tier hat seine Zeit.


oder die Wiederkehr des Hahns in

Der Boden ächzt, er sei bereit.
Der Hahn kräht zwei, bald kräht er drei.


Ich mag auch die genauen Beobachtungen wie in

Sie taucht die Hände in das Becken Pflicht,
greift dabei durch ihr Spiegelbildgesicht



Das sind Passagen, die mich für das Gedicht einnehmen.

Hingegen macht es mir der Reim (ich bin ja i.a. nur noch ein milder Gegner gereimter Texte ;-) ) sehr schwer den Inhalt des Gedichts zu erfassen. Er scheint mir an einigen Stellen die Wortwahl erzwingen zu wollen und Reim und Rhynthmus zusammen sind streckenweise so dominant, dass ich darüber jeden Inhalt vergesse. Dadurch ergibt sich bei mir das (bedauernde) Gefühl, Maria nicht so gut kennen zu lernen, wie es eigentlich möglich wäre.

Liebe Grüße
Max

Mucki
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Beitragvon Mucki » 23.11.2008, 13:44

Hallo Last,

die Reime und der Rhythmus bereiten auch mir Schwierigkeiten. M. E. holperts da teilweise. Ich frage mich außerdem, warum dein Text ausgerechnet "Maria" als Titel trägt.
Diesen Passus empfinde ich als zu konstruiert:
Bald ziehen helle Flecken auf dem Flur
die ersten Bahnen einer wagen Spur
nach der Gardinen Wunsch und Norm
- den Lichtern geben sie die Form -.
Dann ächzt der Boden unter Schritten stur.

Auch hier geht es mir so:
und die Gedanken wehen wirr.
Vom Vortag spült sie das Geschirr,

Insgesamt frage ich mich, was du mit dem Gedicht eigentlich ausdrücken möchtest. :12:

Saludos
Mucki

Last

Beitragvon Last » 23.11.2008, 17:53

Hallo Max,

das ist ein Text, der mir selbst nach mehrfachem Lesen das Gefühl gibt, ihn noch nicht genügend durchdrungen zu haben. Entsprechend bleibt mein (erster) Eindruck auch zwiespältig.


Mit dieser Wirkung des Textes wäre ich eigentlich sehr zufrieden, wenn nur die Ursache nicht darin liegen würde:

Hingegen macht es mir der Reim (ich bin ja i.a. nur noch ein milder Gegner gereimter Texte ;-) ) sehr schwer den Inhalt des Gedichts zu erfassen. Er scheint mir an einigen Stellen die Wortwahl erzwingen zu wollen und Reim und Rhynthmus zusammen sind streckenweise so dominant, dass ich darüber jeden Inhalt vergesse.


:confused:

Mir persönlich ist vom Schreiben noch in Erinnerung, dass ich eigentlich nur in der dritten Strophe, die Mucki ja auch anspricht, im Vers "der Gardinen Wunsch und Norm" eine altmodischere Formulierung benutzt und im Vers "Dann ächzt der Boden unter Schritten stur." die gewöhnliche Satzreihenfolge etwas verdreht habe. Der Preis schien mir gering zu sein, für das, was ich mir bei der Wahl der Form und deren Einhalten gedacht habe.
Evtl. bin ich aber auch wegen des Studiums etwas älterer Literatur einschlägig beeinflusst worden.



Hallo Mucki,

"Maria" bezieht sich auf Maria, die Mutter Gottes.

Die Verse: "und die Gedanken wehen wirr./ Vom Vortag spült sie das Geschirr," gefielen mir so eigentlich sehr gut, von Wortwahl und Setzung her. Entsprechend habe ich jetzt ein Brett vor'm Kopf, was du hier mit "konstruiert" meinst?

Von meinen Gedanken her, war das "Konstruierte" in Strophe drei am zulässigsten. Ich wollte unter anderem etwas bremsen im Lesefluss.
Die Form hat, jedenfalls von der Grundidee her, eine bestimmte Funktion im Text. Sie stellt, grob gesagt, die Ordnung des Alltags dar, in den Maria nicht hinein findet. In Strophe drei ist diese Funktion am stärksten ausgeprägt.
So viel zu meiner Überlegung. Was die Umsetzung angeht bin ich mir natürlich nicht sicher, ob alles so funktioniert hat. Ich habe im Reimen noch nicht so viel Übung.

LG
Last

Mucki
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Beitragvon Mucki » 23.11.2008, 18:53

Hallo Last,
Gabriella hat geschrieben:Ich frage mich außerdem, warum dein Text ausgerechnet "Maria" als Titel trägt.

Last hat geschrieben:"Maria" bezieht sich auf Maria, die Mutter Gottes.

Ja eben, das dachte ich mir. Und genau das bereitet mir Schwierigkeiten bzw. wirft meine oben noch mal zitierte Frage auf.
Was hat der Inhalt deines Textes mit Maria, der Mutter Gottes zu tun? :12: Wie geht das zusammen? Beschreibung eines Alltages mit Maria? Irgendetwas verstehe ich hier offensichtlich nicht. Was ist deine Intention?
Saludos
Mucki mit Brett vorm Kopf

Last

Beitragvon Last » 23.11.2008, 19:24

Dahinter steckt mein Verständnis von Religiösität. Im inneren Zwiespalt eines Prototyp-Mütterchens kurz vor'm Burn-Out meine ich eine Sphäre der Heiligkeit zu erkennen.

Max

Beitragvon Max » 23.11.2008, 19:26

Lieber Last,

dann sollte ich vielleicht noch einmal in mich gehen und schauen, was genau bei mir zu der Wahrnehmung geführt hat.

Liebe Grüße
Max

Mucki
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Beitragvon Mucki » 23.11.2008, 19:35

Hallo Last,
Dahinter steckt mein Verständnis von Religiösität. Im inneren Zwiespalt eines Prototyp-Mütterchens kurz vor'm Burn-Out meine ich eine Sphäre der Heiligkeit zu erkennen.

Alles klar! Danke für die Erläuterung. Darauf wäre ich nicht gekommen. ,-)
Saludos
Mucki, die deinen Text jetzt in einem völlig anderem Licht sieht.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 27.11.2008, 12:19

Hallo Last,

Inhaltlich weiß ich nicht, ob ich ohne deine Erklärung auf die Maria-Interpretation gekommen wäre, wahrscheinlich eher nicht. Ich glaube das liegt daran, dass man gar keinen wirklichen Blick auf sie werfen kann? Das Spiegelbildgesicht verrät nichts, es fehlt für mich hier diese Aura der (Schein)heiligkeit, die versuchte edit: bzw. von außen erwartete Perfektion, die Aufopferung, Kinder, der Alltagstrott, die Monotonie, die Wiederholung der immer gleichen Tätigkeiten? Vielleicht könnte man das in einer weiteren Strophe noch mit hineinnehmen, um diesen Aspekt, wenn er dir wichtig ist, erfahrbarer zu machen?

Mit dem Rhythmus habe ich keine Schwierigkeiten, es liest sich für mich sehr flüssig, aber nicht so, dass es den Inhalt überdeckt. Durch den Hahn und die Reime bekommt es ein bisschen eine trockene Wilhelm Busch Stimme. Dadurch erscheint der Blick auf Maria doch sehr ironisch, distanziert, was nach deinem Komm zu schließen vielleicht so gar nicht von dir beabsichtigt war?

Nur zwei Kleinigkeiten:
„der Wecker klingt“ klingt sehr dem Reim geschuldet, man vermisst hier das „klingeln“. Vielleicht könnte es ein Radiowecker sein, der „singt“ .-) ?

- den Lichtern geben sie die Form -.
Hier würde ich auf den Punkt verzichten, er sieht etwas seltsam angehängt aus.

liebe Grüße
smile

Last

Beitragvon Last » 27.11.2008, 14:11

Hallo Smile,

smile hat geschrieben:Inhaltlich weiß ich nicht, ob ich ohne deine Erklärung auf die Maria-Interpretation gekommen wäre, wahrscheinlich eher nicht. Ich glaube das liegt daran, dass man gar keinen wirklichen Blick auf sie werfen kann? Das Spiegelbildgesicht verrät nichts, es fehlt für mich hier diese Aura der (Schein)heiligkeit, die versuchte edit: bzw. von außen erwartete Perfektion, die Aufopferung, Kinder, der Alltagstrott, die Monotonie, die Wiederholung der immer gleichen Tätigkeiten? Vielleicht könnte man das in einer weiteren Strophe noch mit hineinnehmen, um diesen Aspekt, wenn er dir wichtig ist, erfahrbarer zu machen?


Ich finde es zwar schade, dass genau die Weise, wie ich Maria skizziere, nicht ankommt. Sie deshalb stärker zu personalisieren kommt aber nicht in Frage; ich würde sie gleichzeitig ent-heiligen.
Die Aussage, die ich treffen möchte, zielt nicht darauf ab, Charakterstärke, Disziplin, Kraft oder andere lohnenswerten Eigenschaften zu rühmen. Marias Wesen darf nicht an materielle Dinge gebunden werden.


Mit dem Rhythmus habe ich keine Schwierigkeiten, es liest sich für mich sehr flüssig, aber nicht so, dass es den Inhalt überdeckt. Durch den Hahn und die Reime bekommt es ein bisschen eine trockene Wilhelm Busch Stimme. Dadurch erscheint der Blick auf Maria doch sehr ironisch, distanziert, was nach deinem Komm zu schließen vielleicht so gar nicht von dir beabsichtigt war?


Ich hatte auch eine Rezension, die hier gar keine Ironie gesehen hat. Die hat mich ebenso verwundert, wie die, die die Ironie in den Vordergrund rückt. Ironie ist sicherlich enthalten, wenn man ein morgendliches Missgeschick zum Symbol einer Lebensweise erhebt. Aber eben nicht in der Form: Schaut euch Maria an! Ist die aber blöd.

LG
Last

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 27.11.2008, 14:42

Hallo Last,
Aber eben nicht in der Form: Schaut euch Maria an! Ist die aber blöd.
Huch, so hatte ich das auch gar nicht gemeint. Vielleicht ist es einfach nur so, dass du bereits ein sehr genaues Bild von Maria und ihrem Leben, oder Alltag hast, das für dich die selbstverständliche Grundlage oder Basis ist, zumindest ich das aber aus deinen Zeilen nicht herausfiltern kann.
Ich finde es zwar schade, dass genau die Weise, wie ich Maria skizziere, nicht ankommt. Sie deshalb stärker zu personalisieren kommt aber nicht in Frage; ich würde sie gleichzeitig ent-heiligen.
Die Aussage, die ich treffen möchte, zielt nicht darauf ab, Charakterstärke, Disziplin, Kraft oder andere lohnenswerten Eigenschaften zu rühmen. Marias Wesen darf nicht an materielle Dinge gebunden werden

Hatte ich das geschrieben? Dann habe ich wohl völlig falsch formuliert. :confused:

liebe Grüße
smile

Mucki
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Beitragvon Mucki » 27.11.2008, 15:27

Hallo Last,

du schriebst:
Im inneren Zwiespalt eines Prototyp-Mütterchens kurz vor'm Burn-Out meine ich eine Sphäre der Heiligkeit zu erkennen.

Sie deshalb stärker zu personalisieren kommt aber nicht in Frage; ich würde sie gleichzeitig ent-heiligen.

Nach meinem Empfinden geschieht aber genau das hier. Dadurch, dass du Maria hier zum "Prototyp-Mütterchen" stilisierst, wird sie quasi "entheiligt", wobei im Text selbst vorher nicht einmal das "Heilige" vorkommt, sondern lediglich durch den Titel assoziiert wird.
Saludos
Mucki

Last

Beitragvon Last » 27.11.2008, 15:56

smile hat geschrieben:Vielleicht ist es einfach nur so, dass du bereits ein sehr genaues Bild von Maria und ihrem Leben, oder Alltag hast, das für dich die selbstverständliche Grundlage oder Basis ist, zumindest ich das aber aus deinen Zeilen nicht herausfiltern kann.


Ja, ich habe ein recht genaues Bild von Maria. Aber eben nicht von einer Person, ihrem Leben oder ihrem Alltag, sondern nur innerhalb des Raums, in dem ich Religiösität verstehe; und das ist der Raum, den ich auch im Gedicht zu öffnen versuche. (Ob das klappt sei dahingestellt.)
"Von außen erwartete Perfektion, die Aufopferung, Kinder, der Alltagstrott, die Monotonie, die Wiederholung der immer gleichen Tätigkeiten", all das befindet sich nicht in diesem Raum. Es drängt lediglich von außen hinein. Sobald es aber die Tür öffnet, zerfällt der Raum, dessen Strukturmerkmal es gerade ist, dass er sich außerhalb dieser Dinge befindet. Diese Dinge kann ich also keinesfalls explizit benennen; ich kann lediglich versuchen, ihren Druck symbolisch und formal darzustellen, der in der Zerbrechlichkeit des Raumes sein Pendant findet.


smile hat geschrieben:Hatte ich das geschrieben? Dann habe ich wohl völlig falsch formuliert. confused


Nein, das hast du so nicht geschrieben. Ich möchte nur die Aufmerksamkeit auf das zurück lenken, was im Text steht. Damit nicht zu sehr über das diskutiert wird, was dort nicht steht.
dementsprechend sollte ich wohl anmerken, dass ich über deine beiden Vorschläge (Punkt weglassen, Wecker singt) momentan nachdenke.

LG
Last

Last

Beitragvon Last » 27.11.2008, 16:45

Hallo Mucki,

Gabriella hat geschrieben:Nach meinem Empfinden geschieht aber genau das hier. Dadurch, dass du Maria hier zum "Prototyp-Mütterchen" stilisierst, wird sie quasi "entheiligt", wobei im Text selbst vorher nicht einmal das "Heilige" vorkommt, sondern lediglich durch den Titel assoziiert wird.


Das kommt darauf an, was man unter "heilig" eigentlich versteht. Ich versuche mein Verständnis von Heiligkeit unter anderem durch diesen Text zu definieren.
Dabei gibt es wohl zwei Verständnisse von Heiligkeit, die ich zusammenführe damit beide scheitern: ein religiöses und ein a-religiöses.
Das Religiöse geht von der heiligen Schrift aus und proklamiert anhand einer subjektiven (zeitlich gebundenen) Auslegung einen angeblich über-zeitlichen, angeblich objektiven Begriff der Heiligkeit. Das A-Religiöse ist die Kritik daran, es verweist eben auf Subjektivität und zeitliche Abhängigkeit des Begriffes, der deshalb nicht hält, was er verspricht. Beide Verständnisse sind gebunden an eine bestimmte Rhetorik; das Religiöse verblumt das Geschilderte, das A-Religiöse negiert das Verblumte.
Ich versuche nun das Negierte zu negieren, indem ich dem Subjektiven sein Subjekt nehme und dem A-Religiösen damit den Boden der Rhetorik raube.
Was sich darus ergibt ist mein Verständnis von Religiösität, das keinen Anspruch auf Objektivität hat, aber ab und an einen Schleier der Über-Subjektivität (meinetwegen auch Unter-Subjektivität) anlegen kann, aus dem heraus sich das Subjekt selbst versteht.
Ich denke, dass es der Raum der Selbstordnung, des Selbstentwurfs, weniger im Konkreten, eher im Abstrakten, das ist, was wir unseren Glauben nennen. Es ist ein Raum der Wahrheit und der Kraft, aber blumig ist er nicht.
Insofern die Maria des Textes in ihrer Begrenztheit auf den kleinen Raum des Textes ein Urbild für den Glauben. In diesem kurzen Moment manifesteirt sich an ihr das, was Glauben ist. - Oder sie ist einfach noch nicht richtig wach!? :blink2:

LG
Last


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