Es ist ihre Geschichte

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Estragon

Beitragvon Estragon » 04.09.2008, 13:44

die dichterin(es ist ihre geschichte)

in einer bahnhofshalle

mitternacht

fernsehbild verschwindet

ein tag wird geleugnet

nichts wird gesehen

an den gleisen stille

zwischen den rufen

angst

sieg heil

nur ein junge

ein bißchen getrunken

ein bißchen was sucht er noch



erzählt mir

die dichterin



der wind dreht sich

er tut es ein paar mal



eine junge frau sucht nach

ihrem ersten flirt

fragt die dichterin

danach



ein standbild

das gehörig durcheinander gerät

-faschisten-

möchte die dichterin im schlaf brüllen



ich ahne es nur

sie hat es erzählt

es ist ihre geschichte



RÖSTET SARAJEVO
sagt ein herr namens Mladic

SIEG HEIL

brüllt ein junge

schmiedet pläne für die nächste nacht

sein traum geht auf

luftschlösser ausgebrannte flüchtlingsheime

säuberungsaktionen in pale

die sterne funkeln
(sie tun es doch immer)


hörst du wie sie reden



schweigen

schweigen bedeutet grab


doch die schritte

hörst du die schritte

dichterin

ganz nah

diese schritte

die klingen nach mutigen herren die auf kinder schiessen

hörst du sie rufen

wir sind stolz

stolz stolz stolz



gewehre

die gierig

ins feld stechen

massengräberfeste

abgeschnittene köpfe


die dichterin erkennt es

wo sucht sie ihr seelenheil

im kampf gegen die ohnmacht; in der schönheit der kunst?


rufe

wenn sie die rufe hört

spürt sie

diesen nationalen klang


alles was oben steht

bewundert beäugt

die fahnen lösen sich von den

schweigsamen

von den ewig verstummten

kommt höchstens

ein staunen



wenn du willst erzähl ich dir eine geschichte

sagte mir einst eine frau aus doboy

ihre eltern leben dort abgetrennt von jeder zeit

sie sterben nicht - sie leben nicht

ihr alltag ein zaun

ein gefangenenchor aus doboy


kein klagelied

dafür ist jetzt nicht die zeit

schritte-schritte die keine gemeinsamkeiten mehr suchen

lieder-stolze lieder

du hörst sie doch auch

du nichtschlafende dichterin

wer färbt dir das haar

wer gilbt den mond
wer weiß was es ist

das atmen es löst sich von den toten
die nicht mehr schreiben
kennen keine worte mehr


du singst ja gar nicht mit

grinst die frau aus doboy

nein ich singe nicht

aber ich höre zu

und frage dich

wie kannst du von der liebe singen

wo alles um dich stirbt?

sie grinste

deshalb

sprach sie und sang


ich erwache

die dichterin erwacht

ich rufe sie an

sie schläft noch

die dichterin

in einer bahnhofshalle

mitternacht

fernsehbild verschwindet

ein tag wird geleugnet

nichts wird gesehen

an den gleisen stille

zwischen den rufen

angst

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