Der Freiberufler und der Regentropfen

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Estragon

Beitragvon Estragon » 25.08.2008, 11:01

der freiberufler war schon alt
er war 46
und 46 ist alt
als ich..aber reden wir nicht von mir
und trotzdem
als ich einmal über eine schale obst gestolpert bin
war ich danach so verwirrt
dass ich meine cousinen nicht auseinanderhalten konnte
die eine roch nach zungenstaub
und die sah in die leere
jeder kennt das meer, jeder hat schon einmal
das wort HAFEN gehört und es in die luft geworfen
nein
in die luft geworfen haben es die wenigsten
aber die meisten haben einen wunsch und manche
haben den wunsch in der luft begraben zu werden
das ist ein dummer wunsch
denn selbst wenn man ihn erreicht
was soll das
was bekommt man noch davon mit
dann möchte ich doch lieber ein tier sein
jeden tag ein anderes
aber sehen sie
ich entferne mich schon von der geschichte
und sie sind schuld; weil sie lesen
anstatt mir zu schreiben dass ich zur sache kommen soll
der freiberufler war unglücklich
er kaufte sich traubensaft und war unglücklich
er kaufte sich ein pornoheft und war unglücklich
er schaltete das radio an und war unglücklich
er traf den pfarrer und sagte ich bin unglücklich
der pfarrer lachte
das ist schön dann ist gott nicht so alleine
ja ist gott denn unglücklich fragte er
aber freilich sagte der pfarrer
ihm ist die glühbirne auf den kopf gefallen
sie hat solange gehalten und jetzt das
auf seinen kopf fragte der freiberufler
sind sie sicher
sicher bin ich sicher
gott ist überall da wo das unglück ist
und diesmal war es ganz nah bei ihm
aber sagte der freiberufler
so eine glühbirne die ist doch schnell wieder reingeschraubt
der pfarrer schaute ihn an
aber was soll er denn die kaputte glühbirne wieder reinschrauben
das bringt doch nichts
gott ist überall wo das unglück ist dachte der freiberufler noch lange
er hatte das gefühl in der schräge zu hängen
er hatte ein gefühl von misslingen...
weißt du
sprach er zu dem kleinen regentropfen der auf seine nase fiel
und ihm wirklich zuhörte
weißt du dass du niemals unglücklich sein wirst
der regentropfen vertrocknete und bewies damit das gegenteil
Zuletzt geändert von Estragon am 25.08.2008, 12:16, insgesamt 1-mal geändert.

aram
Beiträge: 4509
Registriert: 06.06.2006

Beitragvon aram » 25.08.2008, 12:07

lieber estragon,

für mich ein von vorne bis hinten gelungener text. sowohl die inhaltliche als auch die sprachliche rhythmik finde ich schön. ich lese eine originalität, die sich weder erklärt (rechtfertigt) noch bemäntelt; m.e. der 'optimalfall'.
(die 'cousinnen' haben ein n zuviel. eine zeile -einzige beim ersten lesen- die ich schwächelnd finde: als ich..aber reden wir nicht von mir)

liebe grüße

Estragon

Beitragvon Estragon » 25.08.2008, 12:16

Ich dachte weil zwei sind, zwei Coisinen :-)

Danke schön

Benutzeravatar
Thomas Milser
Beiträge: 6069
Registriert: 14.05.2006
Geschlecht:

Beitragvon Thomas Milser » 25.08.2008, 13:34

Mir gefällt diese erzählerische Unbefangenheit auch sehr gut. Irgendwo zwischen Selbst- und Zwiegespräch, von einer gewissen Atemlosigkeit/Sprunghaftigkeit/Unsicherheit geprägt, erfrischend unbelehrend und -erklärend.
Der Schluss ist mit traumwandlersicher Sicherheit verwandelt. Vollspann, Tor.

Kann man schön lesen, Estragon.

Tom
(Freiberufler, 44 Jahre alt).
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

DonKju

Beitragvon DonKju » 25.08.2008, 16:46

ich mach' worte
ganz viele worte
manche mit sinn
manche ohne
und dann denk' ich
wird schon schön
und wenn nicht
auch gut
worte platzen
wie regentropfen

komische kritik mit einem gruß von bilbo


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: Bing [Bot] und 5 Gäste