Erfahrung II

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Sam

Beitragvon Sam » 28.07.2008, 21:19

Vergangenheit:


Eine alte Diva,

die grell geschminkt

hinter der Bühne sitzt,

vergeblich ihren Auftritt erwartet

und jedem, der sie ansieht

stolz verkündet:

Einst nannten sie mich Zukunft

Max

Beitragvon Max » 28.07.2008, 23:21

Lieber Sam,

dieses Spiel mit Vergangenheit und Zukunft gefällt mir sehr.

Einzig in

vergeblich ihren Auftritt erwartet


ist mir für den Rhythmus eine Silbe zu viel - ist aber schlecht zu beheben.

Gern gelesen.

Liebe Grüße
Max

Mucki
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Beitragvon Mucki » 29.07.2008, 00:40

Hi Sam,

schön, mal wieder etwas von dir zu lesen ,-)

Zu deinem Gedicht: der Inhalt gefällt mir sehr, die Umsetzung finde ich jedoch nicht so gelungen, einmal durch die gleichmäßigen Zeilenabstände und weil ich glaube, dass hier eine Verdichtung deinem Gedicht mehr Ausdrucksstärke verleihen könnte.

Mal nur als Anregung, in welcher Richtung ich verdichten würde:

Vergangenheit

die alte Diva
grell geschminkt
hinter der Bühne

vergebliches Warten
auf ihren Auftritt
stolzes Murmeln

Sie nannten mich
Zukunft



Vielleicht kannst du ja damit etwas anfangen.
Saludos
Mucki

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 29.07.2008, 00:53

Hallo Sam!

Ich schließe mich meinen Vorkommentatoren an: Ein schönes Stück (nur hinter "ansieht" fehlt ein Komma) :-) Eine kleine Idee hätte ich auch noch, nämlich am Schluss zu schreiben:

Einmal nannten sie mich

Zukunft.



Aber das ist natürlich keine Verbesserung, nur ein anderes Sprachgefühl :-)


Max, über deinen "Rhythmuskommentar" musste ich schmunzeln, klang mir doch gerade diese Zeile dank ihres Hexameterähnlichen Rhythmus und vor allem des typischen Hexameterschlusses "X x x / X x" sehr vertraut und "heimatlich" im Ohr ;-)

Mucki, ich weiß nicht, ob deine Absicht der "Verdichtung" wirklich eine völlige stilistische Neuformulierung des Textes rechtfertigt? Denn der Text führt einen langen Satz aus, du formulierst in Bruchstücken. Der Text ist verbal geprägt (fünf Prädikate!), du wirfst diese raus oder substantivierst sie (Warten, Murmeln). Für mich steht da am Ende in deiner Fassung ein völlig anderer Text!

Ferdigruß :-)
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 29.07.2008, 00:59

Hi Ferdi,

das ist doch nur eine Anregung von mir. Was Sam daraus macht, entscheidet er.
Wenn meine Idee nichts für ihn ist, ist das doch ok. Ich wollte aber meine Idee hier einbringen. Und das dürfte ja wohl erlaubt sein, oder? :rolleyes:
Saludos
Mucki

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 29.07.2008, 01:07

Hallo Mucki!

Klar ist das erlaubt :-) Aber im Hintergrund steht doch die spannende Frage, wann denn eine Bearbeitung aufhört, eine Bearbeitung zu sein, und in die Neufassung übergeht. Welche Elemente müssen erhalten bleiben, damit es noch Sams Stil ist? Welche können aufgegeben werden (zum Beispiel mit dem Ziel einer stärkeren Verdichtung)? Und: Darf sich ein "bearbeitender Vorschläger" dieser Stilmerkmale entledigen, wenn das Gedicht dadurch extrem gewinnt? Oder wird es so vollständig vom Autor gelöst und zum Gedicht eines anderen? Ich denke, man kann ohne weiteres begeistert & zu Recht "Das übernehme ich!" rufen und dabei das Gedicht verlieren, obwohl es immer noch unter dem eigenen Namen firmiert. Na ja, egal... ich glaube, ich gehe schlafen, ich ich noch seltsamere Dinge behaupte ;-)

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 29.07.2008, 01:18

Hi Ferdi,

ich schrieb doch oben:
und weil ich glaube, dass hier eine Verdichtung deinem Gedicht mehr Ausdrucksstärke verleihen könnte.

Mal nur als Anregung, in welcher Richtung ich verdichten würde:

Damit ist doch klar, dass es nur die Richtung ist, die mir zu Sams Gedicht einfiel.
Und dann schrieb ich noch mal unten:
Vielleicht kannst du ja damit etwas anfangen.

Also, Sam hat doch wirklich genug Cochones, um für sich zu entscheiden, ob er meinen Ansatz in Ablage P wirft oder es ihn zum Nachdenken anregt, mehr isses doch gar nicht.

Ach, was solls, der Autor entscheidet letztendlich immer!
Müde Grüße
Mucki

Nicole

Beitragvon Nicole » 29.07.2008, 07:17

Lieber Sam,

oh, das gefällt mir gut!
Irgendwie tut mir die Diva fast leid ... aber der Gedanke gefällt mir sehr, daß die Vergangenheit vergeblich auf ihren Auftritt wartet. Implizierst Du doch, das sie im Jetzt keinen Auftritt mehr haben wird - nur lauernd hinter der Bühne sitzt und sich darüber definiert, daß sie einst Zukunft war.

Sehr gerne gelesen,

Nicole

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annette
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Beitragvon annette » 29.07.2008, 14:34

Hallo Sam,

das Bild der alten Diva, die in der Vergangenheit lebt, ist etwas abgedroschen.
Als Metapher gefällt es mir fast schon wieder. Allerdings nicht als Metapher für die Vergangenheit, weil ich die nicht personifizieren würde, sondern als Metapher für eine Geisteshaltung, der wir alle vermutlich leicht anheim fallen: Weil die Gegenwart so hauchdünn wird zwischen großer Erwartung und selbstmitleidiger Nostalgie.

Mein Vorschlag zur vierten Zeile:
auf ihren Auftritt wartet

Dass der Auftritt der Vergangenheit nicht stattfinden wird, und daher das Warten vergebens ist, versteht sich von selbst. Und so passt der Rhythmus m.E. besser.

Gruß - Annette

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 29.07.2008, 18:10

Lieber Sam,

mir geht es wie annette:

das Bild der alten Diva, die in der Vergangenheit lebt, ist etwas abgedroschen.


Allerdings nicht als Metapher für die Vergangenheit


Ich kann jetzt keine anderen Texte nennen, aber mir kommt selbst diese Metaphernverwendung für sie schon sehr bekannt vor. Und auch die Pointe/die Aussage am Ende, dass die Vergangenheit mal die Zukunft war ist schon ziemlich oft verwendet, diese Dialektik der menschlichen Seele und Vergangenheit wirkt auf mich unecht und überdramatisch, ich bin unempfindlich gegen solche Kunst geworden.


Was mir gefällt ist, ist die Satzkomposition des Textes - das macht das ganze weniger schwerfällig, schlichter und moderner.

liebe Grüße,
Lisa


PS: Deine Kommatasetzung kann ich nicht ganz nachvollziehen :smile:
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Sneaky

Beitragvon Sneaky » 29.07.2008, 19:21

Hallo sam,

ähnliches gibts als Grabaufschrift:

Eram quod es, eris quod sum
Ich war, was du bist, du wirst sein, was ich bin

Gruß

Sneaky

Sam

Beitragvon Sam » 30.07.2008, 20:25

Hallo Ihr Lieben,

vielen Dank für eure Meinung zu dem Text.


@Max
Freut mich, wenn es dir gefällt. Und was das Versmaß angeht, wenn Ferdi damit zufreiden ist, will ich mal auch sein :-)

@Mucki
schön, mal wieder etwas von dir zu lesen ,-)

Ja, so langsam erscheint wieder ein Licht am Horizont, was meine Zeit angeht. Und wenn ich meinen Umzug Ende August hinter mir habe, dann wird es auch wieder öfter was von mir geben was Texte und Kommentare angeht.

Deine Version verändert das Gedicht doch sehr stark. Verdichten ist zwar gut, aber ich mag auf den klaren Gedankengang nicht verzichten.
Also habe ich die Cochones deinen Vorschlag zwar nicht in Ablage P zu werfen, aber dennoch bei meiner Version zu bleiben. :-)


@ferdi
Wie ich bei Max schon sagte, wenn du mit dem Versmaß leben kannst, bin ich zufrieden. Kommas dagegen sind meine natürlichen Feinde.
Zwischen den Wörtern "einst" und "einmal" liegt sinnmäßig doch ein rechter großer Unterschied. Man konnte natürlich als Kompromiss "einstmals" nehmen, aber das gefällt mir vom Klang wieder überhaupt nicht. ;-)


Liebe Nicole,

freut mich sehr, dass es dir gefällt. Ja, die Vergangenheit bekommt keinen Auftritt mehr, sie kann zwar noch hinter der Bühne zetern und den Auftritt auf der Bühne dadurch etwas stören, mehr aber nicht.
Dank dir!

@anette
Sicher ist das Bild der alten Diva sehr bekannt. Aber deswegen passt es meiner Meinung nach, weil der Leser sofort ein konkretes Bild vor Augen hat. Und durch die Personifizierung wird m.E. das Bild sogar noch verstärkt oder eindrücklicher (aber das ist natürlich nur meine Meinung).
Ich habe lange über legt, ob man das vergeblich wirklich weglassen kann. Aber ein vergebliches Warten ist ein anderes, wie ein Warten an sich. Es hat so einen gewissen "gedemütigten" Unterton, und der passt für mich sehr gut in dieses Bild.

@Lisa

Ob diese Metapher schonmal verwendet wurde, oder vielleicht sogar oft kann ich nicht sagen. Diese Art von Kurzlyrik hat für mich den Reiz, vor allem einen Gedanken klar zu formulieren, aber dennoch bildhaft und nicht erklärend zu sein. Über Originalität mache ich mir ehrlich gesagt weniger Gedanken.

PS: Deine Kommatasetzung kann ich nicht ganz nachvollziehen

Ich auch nicht :-)

@sneaky

Die Grabinschrift kenne ich. Und das passt insofern zu dem Textlein oben, als dass während die alte Diva vergeblich hinter der Bühne wartet, ein andere wohl auf der Bühne ist, die aber irgendwann mal auch genau dort landen wird, wo die alte jetzt ist.

Nochmals vielen Dank euch allen!


Liebe Grüße

Sam

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 30.07.2008, 22:27

Hallo Sam!

Ich wage, dir zu widersprechen: Einst und einmal liegen ziemlich dicht beieinander in der Bedeutung. Lies die beiden Wörter doch mal im Online-Grimm nach, wenn du magst :-)

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)


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