Seichter Sonntag

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Last

Beitragvon Last » 24.07.2008, 12:07

Seichter Sonntag

Irgendwo auf dem Hügel
fehlt dem Morgen sein Horn.
Niemand bläst und niemand hört.

Das Schweigen liegt auf der Wiese.
Ein erster Tau. Wir schlafen.
Vor dem offenen Fenster
wiegt sich der dünne Stoff der Gardine
und erzählt nicht, was ihn stört.



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[Edit]: Z. 6 'Hinter' geändert in 'Vor'
Zuletzt geändert von Last am 26.07.2008, 14:06, insgesamt 1-mal geändert.

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leonie
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Beitragvon leonie » 24.07.2008, 19:49

Lieber Last,

mir gefällt diese "Stimmungsbild" sehr.
Einzig frage ich mich, woher der Schlafende das weiß, was er erzählt. Eine kleine Unlogik liegt für mein Empfinden darin...

Liebe Grüße

leonie

DonKju

Beitragvon DonKju » 24.07.2008, 22:04

Hallo Last,

Deine Zeilen haben Melodie, sind schön zu lesen - aber am Sinn, da knabbere ich noch herum, vor allem da der Text ja unter "Liebeslyrik" steht und ich außer "wir schlafen" noch nichts weiter dazu gefunden habe,
aber ich versuch's in ein paar Tagen noch mal

Einen Abendgruß von Bilbo

Caty

Beitragvon Caty » 25.07.2008, 07:38

Lieber Last, das fiel mir auf: vorm offenen Fenster statt: hinterm (denn die Geschichte wird ja von innen erzählt). Ja, ist schon zauberhaft, ihr müsst wie der Riese Polyphm mit einem Auge gewacht haben, sonst hätten wir heute nicht dieses kleine Stillleben. Ist was dran an Leonies Zweifeln.

Liebe Grüße, Caty

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 25.07.2008, 19:31

Hallo Last,

das ist ein schönes lakonisches Stimmungsbild. Wobei ich es erstaunlich finde, dass sich der Titel das Wort „seicht“ erlauben kann und es durch das Gedicht (oder den Sonntag? die klangliche Nähe zum „leicht“?) einen seltsam wohligen, vertrauten Klang erhält. Es wäre wohl wichtig, aufmerksam zu sein, aufzuwachen, zu erkennen, zu benennen, was stört, Laut zu geben, damit man auch gehört werden kann. Aber man ist müde und irgendwie ist es eine träge Müdigkeit, da ist ein Gemeinsames, ein „Wir“ (vielleicht auch die Verteilung der "Schuld"). Ach, vielleicht ist es auch gut so, die Fenster sind offen, der Stoff ist dünn, er wiegt sich, das ist ein heimeliges Bild, da scheint keine Bedrohung in diesem Schweigen zu liegen, wäre da nicht der erste Tau.
Das Schlafen lese ich nicht als körperliches Schlafen, sondern als eine innere Abwesenheit, eine fehlenden Aufmerksamkeit, Wachheit.

Das hab ich wieder sehr gern gelesen.

liebe Grüße smile

Trixie

Beitragvon Trixie » 25.07.2008, 20:08

Hallo Last!

Ja, es kommt bei mir so an als würde man noch friedlich schlafen, alles ist in bester Ordnung, man braucht überhaupt keine übertriebene Aufmerksamkeit nach allen Seiten hin, doch es naht in weiter Ferne eine Bedrohung, die man noch gar nicht wirklich greifen kann, sehen kann. Und doch schwebt sie da über der schönen Welt wie eine Glaskuppel über eine Schneekugel-Stadt...

Was mich enorm stört ist "fehlt dem Morgen sein Horn" - das hört sich so wie das berühmte Buch "Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod". Ich verstehe schon, dass es eigentlich Dativ ist, wenn man sagt "mir fehlt deine Stimme", etc, aber vielleicht ist es das "sein", das ja den Genitiv ausmacht, wessen Horn, das des Morgens. Also würde es einfach besser klingen, wenn da stünde "fehlt das Horn des Morgens" oder "fehlt des Morgens Horn" für mich. Ansonsten sehr rund und gelungen!

Lieben Gruß
Trixie

Max

Beitragvon Max » 25.07.2008, 22:08

Lieber Last,

das gefällt mir bei jedem Lesen besser.

Es hat eine Tiefe, ohne aufdringlich zu sein. Das "dem Morgen fehlt sein Horn" finde ich beinahe kühn, aber nicht auffällig.
Catys Anmerkung bzgl, der Perspektive kann ich nachvollziehen.

Liebe Grüße
Max

Last

Beitragvon Last » 26.07.2008, 14:03

Hallo zusammen,

danke für eure tollen Rückmeldungen. Ich war mir hier recht unsicher, weil ich bei Liebeslyrik immer ein hohes Potential sehe kitschig zu schreiben.


Liebe Leonie,

unlogisch, sicherlich ein bisschen. Ich habe schon etwas darüber nachgedacht, leider gibt es keine Formulierung, die den Zustand trifft und nicht zu lang wird. Oder mir fällt nur keine ein(?).
Da es in etwa so gemeint ist wie smile es unten beschreibt, habe ich mich so damit zufrieden gegeben. Wie soll man denn den Zustand sonst nennen? Wir halbschlafen? Wir schlafen noch? Wir dösen? Wir ruhen? Hmm, irgendwie ist es das alles nicht. Vielleicht kommt noch die Erleuchtung, vielleicht ist es aber auch richtiger, als wir es empfinden(?).


Lieber Bilbo,

jetzt interessiert mich deine Lesart natürlich brennend, falls sich inzwischen etwas ergeben hat.


Liebe Caty,

danke für den Hinweis. Ich werde das "Vor dem..." wohl übernehmen. Es macht zwar auch in der Außenperspektive einen Sinn. Der ist aber einfach zu kompliziert (und ergibt sich auch in der Innenperspektive^^).


Liebe Smile,

schön deine Lesart, die du hier präsentierst. Sowas freut mich besonders zu lesen. Gerade am Wort seicht habe ich eine Weile herum gedacht. Ursprünglich kam eine seichte Brise in dem Gedicht vor. Ich habe sie gekürzt, weil ich mich entschieden habe, dass der Text selbst die Brise sein soll (und die seichte Brise zu abgenutzt ist(?)).


Liebe Trixie,

Der Vergleich ist super mit der Glaskuppel. Wenn auch ich es selbst so auslege, dass die Idylle selbst die Bedrohung ist. (Was tut sich das schon?)
Ich mag das Dativbuch ja eigentlich gar nicht, weil ihm meines Erachtens nach ein Missverständnis zu Grunde liegt, das betreffend, was Sprache eigentlich ist. Die von dir erwähnte Konnotation ist trotzdem ärgerlich. Zwar eigentlich richtig erinnert es, so gelesen, an eine Plumpheit, die hier einfach nichts zu suchen hat.
Leider empfinde ich deine beiden Ersetzungsvorschläge noch als zu mächtig, nicht beiläufig genug. Die Betonung wäre zu hoch. Ich muss darüber wohl noch etwas grübeln. Momentan mag ich meine Formulierung noch mehr.


Lieber Max,

danke für deine Anmerkung. Das hilft sehr. Schön wenn's dir so gefällt, wie gesagt, ich war mir unsicher...

LG (von der Mosel)
Last, der sich mit seiner Freundin ein paar Urlaubstage gönnt :)

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 26.07.2008, 15:26

Hallo Last!

Trixies Vorschläge scheinen mir nicht nur "zu mächtig"; sie verändern auch den Sinn?! Ich finde, du solltest den Genitix hier wirklich vor dem Fenster, äh, der Tür lassen ;-)

Dummerweise helfen Umstellungen innerhalb des Satzes zwar dem Problem ab, führen aber gleichfalls zu leichten bis mittleren Sinnverschiebungen:

Dem Morgen fehlt sein Horn
Irgendwo auf dem Hügel

Sein Horn fehlt dem Morgen
Irgendwo auf dem Hügel

etc.

Na ja. Obwohl auch ich an dieser Stelle etwas gestutzt habe ob der Konstruktion - eigentlich geht es hin. Wenn dir natürlich noch etwas besseres einfiele, gewänne das Gedicht sicher noch einmal :-)

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Perry

Beitragvon Perry » 26.07.2008, 17:23

Hallo Last,
ich will mich gern ein wenig mit deinem "lyrischen Weckruf" beschäftigen.
Das Horn lässt auf einen Bläser schließen, der am Sonntag nicht weckt. Warum auch, da sollen die Leute ja auch ausschlafen können. Zum Glück scheint keine Kirche und kein Hühnerstall mit Hahn in der Nähe zu sein.
Damit ich nicht nur rumalbere, hier mein Vorschlag zum Einstieg:

Irgendwo fehlt dem Morgen
sein Weckruf
Niemand bläst das (oder ins) Horn
und niemand hört zu

LG
Manfred

DonKju

Beitragvon DonKju » 27.07.2008, 15:59

Hallo Last,

da bin ich wieder - und eines kann ich Dir sagen, Dein Text hat mich nicht losgelassen, was für sich schon mal gut ist.

Und das fällt mir dazu mittlerweile ein :

Seichter Sonntag = "So wie immer, so schön gewohnt"

Irgendwo auf dem Hügel
fehlt dem Morgen sein Horn.
Niemand bläst und niemand hört.

= "Hallo, das ist keiner, der einen aufweckt und keiner, der aufgeweckt werden will"

Das Schweigen liegt auf der Wiese.
Ein erster Tau. Wir schlafen.

= "Das passt zum ach so friedlichen Bild und wir schlummern, anstatt ..."

Vor dem offenen Fenster
wiegt sich der dünne Stoff der Gardine
und erzählt nicht, was ihn stört.

= "Das ist ein bißchen schwierig, weil Gardinen eigentlich per se nicht sprechen, aber wenn sie denn könnte, würde sie dann schreien : Warum passiert hier nichts ?"

Tja, so viel zu meiner Lesart deines Textes, ob alles so gemeint war, lassen wir mal dahingestellt mit einem

freundlichen Sonntagsgruß von Bilbo

Last

Beitragvon Last » 30.07.2008, 12:43

Hallo ihr drei,

danke auch für eure Kommentare. Ich habe sie jetzt ein paar Tage auf mich wirken lassen.


Lieber Ferdi,

leider kam mir noch immer keine vernünftige Alternative in den Sinn.



Lieber Perry,

auch nach wiederholtem Nachdenken kann ich deinem Vorschlag nicht viel abgewinnen. Ich bleibe lieber bei meiner Version.



Lieber Bilbo,

danke für deine Lesart. Gerade weil sie im letzten Punkt etwas von meiner abweicht ist sie sehr wertvoll für mich.

LG
Last

[Edit]: An alle,

ich habe mich entschieden, dass die verschiedenen unlogischen Elemente im Text bedeutungstragender Natur sind.

aram
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Beitragvon aram » 30.07.2008, 18:42

lieber last,

sehr schön! die kraft des schlussbildes haut mich (positiv) um. wunderbar.
- für mich beinhaltet die zweite strophe alles, glaube ich...


Seichter Sonntag

Das Schweigen liegt auf der Wiese.
Ein erster Tau. Wir schlafen.
Vor dem offenen Fenster
wiegt sich der dünne Stoff der Gardine
und erzählt nicht, was ihn stört.




liebe grüße.


p.s. was hältst du davon, nur "irgendwo" zu streichen?

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 30.07.2008, 19:35

Lieber Last,
darf ich mich ausnahmsweise kurz hier drunterhängen? Ich hab nicht viel zu sagen, außer, dass ich den Text einfach gelungen finde in seiner Einfachheit, in der er trotzdem klassisch wirkt. Das war mir bisher für einen Kommentar zu wenig, aber wo ich jetzt arams Idee sehe zum irgendwo (streichen), da mag ich doch sagen, dass ich das einen feinen Vorschlag finde und dann hab ich ja auch was gesagt, damit ich eigentlich nur sagen kann, wie gut der Text mir gefällt :-).

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.


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