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sie ist nicht gut im abschiednehmen
Verfasst: 01.01.2008, 19:23
von Ylvi
sie ist nicht gut im abschiednehmen
als sie ein kind war, versteckte sie sich und glaubte
das hilft vor blendenden lichtern, rauchschwaden
die grau durch straßen ziehen. vor ihm
dem laut. er steigt aus allen winkeln. vor jedem haus
das knistern droht. ein knall erschießt etwas
keine zeit zum trauern oder suchen
keine sorge? das geht vorbei
anderes bleibt. sie fühlt sich fremd
auf gesichtern spukt der schein
vielleicht hilft es, sich zu betrinken
eine flamme zündet die schnur. jetzt
warten. zu schnell. sie schließt die augen
vor dem verglühn, schreibt blaue sterne aufs traumpapier
dann denkt sie, warum vergeht das jahr und der mensch
und wie geht das, mit dem lustigsein
möchte jemandem etwas sagen
doch sie weiß nicht wie und einer ist tot
das neue jahr hat 365 ungewissheiten und keinen funken erinnerung
und es nützt nichts, wenn sie ihr gesicht verbirgt
ihr herz liegt immer offen
Verfasst: 01.01.2008, 19:48
von Gast
Liebe smile,
Impressionen aus der Gedankenwelt eines Menschen, der nicht gelernt hat damit umzughen, dass alles vorbei geht, anhand der Sylvesternacht, den Böllern und dem Feuerwerk beschrieben.
Der Text spricht mich an, wenngleich mir der Titel zu platt (zu zeitgeistgemäß) ist, erzählt er sehr fein von den Gefühlen des Kindes und denen des Erwachsenen.
Es bleibt unklar, was ich aber gut finde, ob die Person nur der Angst vor dem Knallen (vor Geräuschen) nicht Herr werden konnte, und/oder, ob da nioch etwas anderews immer wieder auf der Lauer lag, vor dem sie sich versteckt hat.
Abschied nehmen zu lernen, ist eine schwierige Sache und hat viel mit "Loslassen" zu tun, und "Dem sich Fügen" in den Prozess des Vergehens, das hast du insgesamt anschaulich gemacht, aber
du willst - so glaube ich - ein wenig zu viel mit diesem Text, denn wenn ich allein den Schluss betrachte, so handelt der nicht vom Abschied, sondern behandelt ein anderes Phänomen, was für sich genommen schon ein ganzes Gedicht beanspruchen könnte: Kinder glauben bis zu einem bestimmten Alter, wenn sie sich die Augen zuhalten, werden sie nicht gesehen. Hier also die Erkenntnis, dass das Augen zuhalten nichts nützt, man bleibt verletzlich.
eine kleine techn. Sache noch:
eine flamme zündet die schnur.
Ich kenne mich zwar nicht so gut aus, aber ist es nicht so, dass die Flamme an der Schnur entlangläuft und den Sprengstoff entzündet?
Liebe Grüße
Gerda
Verfasst: 01.01.2008, 22:17
von Ylvi
Hallo Gerda,
wenn du schreibst der Titel wäre dir zu platt (zeitgeistgemäß), meinst du dann, er ist zu erklärend, zeigend, vorwegnehmend?
Der Verweis auf diesen Kinderglauben am Ende, den du richtig herausgelesen hast, schließt für mich den Kreis zur ersten Zeile. Ich denke das Gedicht kann dieses Bild tragen.
Mit dem Zünden könntest du recht haben. Wie nennt man denn diesen Moment, wenn man die Zündschnur anzündet? Weiß das Jemand?
Danke für deine Gerdanken zu diesem Text. Es freut mich sehr, wie er bei dir angekommen ist.
liebe Grüße smile
Verfasst: 02.01.2008, 00:09
von scarlett
Hallo smile,
allein wegen dieses Satzes könnte ich dich beneiden:
"das neue jahr hat 365 ungewissheiten und keinen funken erinnerung"
Einfach Klasse! ... der Satz und das Gedicht!
Grüße,
scarlett
P.S. Allein mit der Interpunktion komme ich nicht ganz klar...
P.S.2 Den Titel finde ich wiederum dem Inhalt des Textes angemessen, den würde ich nicht ändern wollen.
Verfasst: 02.01.2008, 00:45
von Gast
Liebe smile,
ich meine der Titel trifft schon, aber mir hört er sich zu umgangssprachlich (zeitgeist war blöd), an.
Ich höre des Öfteren, dass Leute sagen, dass sie in etwas nicht gut seien. Es geht aber doch eher darum auszudrücken, in etwas keine Übung zu haben, nicht wahr. Ich hoffe, ich habe mich verständlich ausgedrückt ... Ist aber wahrscheinlich zu pingelig
.gif)
Ja und jetzt nachdem der Text bei mir gesackt ist, kann ich sagen, dass sich mit dem vorletzten Vers
und es nützt nichts, wenn sie ihr gesicht verbirgt
der Kreis schließt, weil er mit dem Anfang
als sie ein kind war, versteckte sie sich und glaubte
korrespondiert, was mir zunächst garnicht so klar war, aber ich denke, dass ich dann auf den Schluss in dieser Form mit dem "offenen herz" verzichten würde.
Liebe Grüße
Gerda
Verfasst: 02.01.2008, 11:52
von Ylvi
Hallo Scarlett,

das ist schön, dich hier zu lesen, danke!
die Interpunktion ist etwas eigenwillig, aber für mich intuitiv so richtig
.gif)
(Ich bin froh, dass du wieder hereingekommen bist!)
Hallo Gerda,
ich denke der Titel und auch das Ende müssen für mich so bleiben. Danke fürs nochmal hinschauen.
liebe Grüße smile
Verfasst: 02.01.2008, 12:10
von Mnemosyne
Hallo Smile,
es wurde ja schon eifrig kommentiert, aber ich wollte mich dem positiven Echo anschließen: Ein beeindruckender Text.
Eine Frage: Wenn der "jemand", dem sie etwas sagen möchte, der "eine" Tote aus der nächsten Zeile ist, wäre es dann nicht ´dichter´, dasselbe Wort zu benutzen?
Viele Grüße
Merlin
Verfasst: 02.01.2008, 16:57
von Ylvi
Hallo Merlin,
danke fürs beeindruckend.
Eine Frage: Wenn der "jemand", dem sie etwas sagen möchte, der "eine" Tote aus der nächsten Zeile ist, wäre es dann nicht ´dichter´, dasselbe Wort zu benutzen?
Doch, wäre es, aber ich wollte das bewußt offen lassen.
liebe Grüße smile
Re: sie ist nicht gut im abschiednehmen
Verfasst: 02.01.2008, 17:35
von Elsa
Liebe smile
sie ist nicht gut im abschiednehmen
Ich nehme an, das bezieht sich auf :
und einer ist tot sonst wüsste ich nicht worauf.
Dem LyrIch ist jemand gestorben, und es hat wohl mit der Silvesterknallerei zu tun? Und LI war klein und ängstlich. Es blieb voller Angst wegen der Feuerwerkskörper, auch als Erwachsene/r.
Sehr gelungen unter ganz viel anderem die Sache mit dem zwanghaften "lustig" sein (ich verstehe das auch nicht), auf Teufel komm raus, LI hat das nie gelernt oder verstanden.
ihr herz liegt immer offen
die Zeile entzieht mir jedoch gänzlich, mir scheint eher, das LI verbirgt ihr Herz ganz und gar in Angst und Traurigkeit.
eine flamme zündet die schnur
die flamme läuft die zündschnur entlang. das wäre ev. deutlicher?
Sehr gern gelesen und mich eingefühlt.
Lieben Gruß
ELsa
Verfasst: 03.01.2008, 10:12
von Ylvi
Hallo Elsa,
Elsa hat geschrieben:sie ist nicht gut im abschiednehmen
Ich nehme an, das bezieht sich auf : und einer ist tot sonst wüsste ich nicht worauf.
Ich hatte es hier als grundsätzlichere Aussage angelegt, aber natürlich auch mit dem von dir erwähnten Bezug. (Z.B. vom Jahr, von Illusionen, Hoffnungen, Träumen, Ängsten...)
Deine Leseart, dass du dem Tod eine Geschichte gibst, finde ich spannend.
Elsa hat geschrieben:ihr herz liegt immer offen
die Zeile entzieht mir jedoch gänzlich, mir scheint eher, das LI verbirgt ihr Herz ganz und gar in Angst und Traurigkeit.
Das erscheint mir aber gerade eine wichtige Aussage über das Lich zu sein.
Zum zünden: Ich wollte den Moment, in dem man eine bewußte Handlung ausführt, das entflammen, entzünden...? der Zündschnur. Vielleicht fällt mir da noch etwas besseres ein.
liebe Grüße und danke für dein einfühlen!
smile
Verfasst: 06.01.2008, 22:25
von Lisa
Liebe smile,
sagenhafter Titel (beschreibt das Wort nicht doppelt schön?), schlicht und wehmütig - eine selten gelingende Mischung!
Dann folgt der erste Teil, mit dem habe ichh sprachlich meine Probleme, einige Versatzstücke finde ich kürzenswert, andere etwas schwach (kursiv, die Stellen, die ich schwächer finde:)
als sie ein kind war, versteckte sie sich und glaubte
das hilft vor blendenden lichtern, rauchschwaden
die grau durch straßen ziehen. vor ihm
dem laut. er steigt aus allen winkeln. vor jedem haus
das knistern droht. ein knall erschießt etwas
keine zeit zum trauern oder suchen
keine sorge? das geht vorbei
anderes bleibt. sie fühlt sich fremd
auf gesichtern spukt der schein
vielleicht hilft es, sich zu betrinken
eine flamme zündet die schnur. jetzt
warten. zu schnell. sie schließt die augen
vor dem verglühn, schreibt blaue sterne aufs traumpapier
Ich könnte mir vorstellen den Anfang extrem zu kürzen, für mich wäre es sogar möglich alles zu streichen und nur den zweiten Teil stehen zu lassen und die guten Stellen des oberen Teils für einen anderen Text zu bewahren, denn danach wird es wieder berührend und sprachlich balanciert und wie ich finde stünde diese Passage im Anfang toll:
dann denkt sie, warum vergeht das jahr und der mensch
und wie geht das, mit dem lustigsein
möchte jemandem etwas sagen
doch sie weiß nicht wie und einer ist tot
das neue jahr hat 365 ungewissheiten und keinen funken erinnerung
und es nützt nichts, wenn sie ihr gesicht verbirgt
ihr herz liegt immer offen
Ich weiß, so setzt du das sicher nicht um (und das ist auch gut so), aber mir fiel das so unmittelbar nach dem Lesen zu, dass ich es doch anmerken wollte.
So oder so berühren mich viele Passagen des Textes und fangen gelungen das Gefühl für ein neues Jahr, das schon ganz alt ist, gelungen ein.
Liebe Grüße,
Lisa
Verfasst: 07.01.2008, 11:31
von Ylvi
Liebe Lisa,
als ich deinen Kommentar gelesen habe, war meine spontane Reaktion, ja, sie hat irgenwie recht und mein nächster Gedanke, aber ich kann es trotzdem nicht ändern. Der zweite Teil war der Anfang, der Auslöser oder der Gedanke für das Gedicht, dann im Rückwärtsgehen entstand der erste Teil, die Geschichte, die Bilder dazu, die Verortung. Und ich finde es erstaunlich, wie genau dein Blick da ist. Aber zumindest im Moment hängen ich an jedem Bild, Schritt, den ich da gedanklich gegangen bin. Und hätte das Gefühl es würde eine Lücke entstehen, wenn ich etwas streiche. Es würde die erzählende Melodie, die Stimme des Gedichtes verändern. Ich werde mir das aber mit etwas Abstand nochmal anschauen.
Es hat mich sehr gefreut, dass das Gedicht und vor allem der Titel

dich berühren konnten.
sagenhafter Titel (beschreibt das Wort nicht doppelt schön?),
doch, das ist ein wunderbares Wort. Danke
liebe Grüße smile
Verfasst: 07.01.2008, 13:17
von Lisa
Liebe smile,
als ich deinen Kommentar gelesen habe, war meine spontane Reaktion, ja, sie hat irgenwie recht und mein nächster Gedanke, aber ich kann es trotzdem nicht ändern. Der zweite Teil war der Anfang, der Auslöser oder der Gedanke für das Gedicht, dann im Rückwärtsgehen entstand der erste Teil, die Geschichte, die Bilder dazu, die Verortung.
Ja, das spürt man auch. Und vielleicht ist es eben die Geschichte des Textes, die man eben nicht ausradieren kann und wer weiß das besser als der Autor (wissen heißt hier entscheiden). Mir geht das auch oft so. ich glaube, da wir keine Nobelpreise wollen, ist das vielleicht sogar perifer. (Man könnte überlegen, den ersten Teil als Prosa länger zu machen oder was weiß ich...). Ich denke, der Text wird sich schon nochmal zu Wort melden, wenn er zu etwas bereit ist. Fazit: Ästhetisch würde ich anders argumentieren, emotional empfinde aber selbst ich es so wie du.
Liebe Grüße,
Lisa