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Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Herby

Beitragvon Herby » 28.11.2007, 10:15

Suche

Auch an diesem Morgen
zog es sie zum Grab
der verlorenen Träume.
Mondtränen perlten noch
von Blättern,
netzten die Wurzeln.

Lange blieb sie,
rief leise.
Als sie ging,
stieg der Kolibri auf,
stäubte schwirrend
seine Farben.

scarlett

Beitragvon scarlett » 28.11.2007, 13:08

Lieber Herby,

das ist mal wieder so ein feiner, verhaltener, leiser Text, den ich sehr mag.

Es sind im Grunde zwei antithetische Bilder, auf denen der Text beruht: während die erste Strophe noch geprägt ist von Dunkelheit (Grab, Mond, Tränen) wird in der zweiten dann mit dem Bild des aufsteigenden Kolibri der HOffnung, dem Hellen, den Farben, einfach dem Leben an sich wieder Raum gegeben. Das bedeutet für mich als Leser, daß die lyrische Figur in deinem Gedicht zuversichtlich nach vorne schaut. Dabei bleibt wunderbar offen, ob damit die Suche endgültig beendet ist (ob also ein Finden stattgefunden hat) und es eines "auch an diesem Morgen" zukünftig nicht mehr geben wird. Da kann jeder seinen eigenen Gedanken wunderbar freien Lauf lassen, der Leser wird nicht "gegängelt"... (gleiches gilt übrigens für dieses "rief leise").

Auf sprachlicher Ebene fallen mir besonders zwei Wörter auf, die du wohl mit Bedacht gewählt hast und die eher nicht mehr zum standardsprachlichen Vokabular gehören: "stäuben" und "netzen".
Da fragt man sich als Leser, was leisten diese Wörter, warum wurden sie gewählt.
Ich habe versucht, dafür Synonyme zu finden und mußte sehr bald feststellen, dass es keines gibt (oder zumindest ist mir keines eingefallen), was nur annähernd das leistet, wie die von dir gewählten Wörter.
Sie fügen sich gut in den Gesamttext ein, sie entsprechen dem allgemeinen Duktus des Gedichtes, und sie korrespondieren inhaltlich auch mit den besonderen Bildern, in die sie eingebaut sind.

Ein sehr schöner Text, Herby. Danke dafür.

Liebe Grüße,
Monika

Perry

Beitragvon Perry » 28.11.2007, 14:14

Hallo Herby,
auch mir gefällt die feingezeichnete Stimmungsänderung in den Zeilen.
Etwas Schade finde ich jedoch, dass du mit dem "Grab der Träume" dem Text ein wenig von seiner Tiefe nimmst. Mir wäre das Grab eines Geliebten gefühlsmäßig näher gewesen.
LG
Manfred

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 28.11.2007, 14:25

Lieber Herby,

ich überlege bei diesem Text sofort hinsichtlich der Zeilenumbrüche, ob sie so nötig sind, wie du sie gesetzt hast. Ich lese z.B. den Umbruch hier:

zog es sie zum Grab
der verlorenen Träume.


dadurch motiviert, weil du eine Art "Wenden"-spannung erzeugen möchtest. Und der Effekt tritt ja durchaus ein: es ist nicht einfach nur ein (herkömmliches, ganz reales) Grab, sondern das Grab der verlorenen Träume.
ich frage mich aber, ob du diesen Überraschungsmoment bei solch einem Text brauchst, ich finde die Wendungen ganz in sich würden einen viel schwingungsreicheren Rhythmus erzeugen:

Suche

Auch an diesem Morgen
zog es sie zum (an das?) Grab der verlorenen Träume.
Mondtränen perlten noch von Blättern,
netzten die Wurzeln. (welche Wurzeln? @die?)

Lange blieb sie, rief leise.
Als sie ging, stieg der Kolibri auf,
stäubte schwirrend seine Farben.

So oder so ähnlich erzeugt für mich der Text eher einen inhaltskohärenten Rhythmus.

Mondtränen und Kolibris erzeugen natürlich eine sehr sehr starke Verwunschenheit aus - daraus resultiert bei mir eine Neugierde, wer hinter "sie" denn steckt und ich könnte mir einen Hinweis auf die Biographie dieser "sie" durchaus in dem Text vorstellen - oder ist es eine ganz "archetypische" Vorstellung, auf die der Text referiert?

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 28.11.2007, 15:27

Lieber Herby!

Der Text hat ohne Frage eine Faszination.

Ich kann Perry gut verstehen und würde die dritte Zeile schlicht streichen.
Da ich den Titel zu profan finde, bietet sich für mich dafür dann 'Verlorenes' an.

Mit lieben Gruß

Moshe

Anton

Beitragvon Anton » 28.11.2007, 18:59

Hallo Herby,

das Gedicht gefällt mir auch gut.

. . . wo ruhen die geträumten Dinge

so ähnlich mal gelesen.

zog es sie zum Grab
der verlorenen Träume


gibt dem Gedicht einen seichten, leicht bleiernen Atem, der, finde ich, das Gedicht trägt.

liebe Grüße,
A.
Zuletzt geändert von Anton am 29.11.2007, 20:09, insgesamt 2-mal geändert.

Herby

Beitragvon Herby » 28.11.2007, 19:48

Liebe Monika,

über deinen ausführlich Kommentar habe ich mich sehr gefreut. Dieser Text entstand in Schüben, zwischen denen viel Zeit verstrich, und um "stäuben" und "netzen" musste ich wirklich ringen. Vielleicht kennst du das Gefühl, dass du zwar weißt, was du ausdrücken möchtest, aber alle Wörter, die dir durch den Kopf und übers Papier gehen, entsprechen nicht dem, wie du es formulieren möchtest. Die Diskrepanz zwischen dem Was und dem Wie hat mich gerade bei diesem Text Nerven gekostet. Danke für deine Zeit und dein Lob!

Lieber Manfred,

du schreibst:

Etwas Schade finde ich jedoch, dass du mit dem "Grab der Träume" dem Text ein wenig von seiner Tiefe nimmst. Mir wäre das Grab eines Geliebten gefühlsmäßig näher gewesen.


Mir kommt es genau umgekehrt vor, nämlich dass der Text durch das Grab der Träume mehr Tiefe bekommt, als wenn es sich um das Grab eines/des Geliebten handeln würde. Letzteres wäre mir zu eindeutig und läge auch meiner Aussageabsicht sehr fern. Aber ich finde es schön, dass dich die Stimmung des Textes dennoch erreicht. Danke!


Liebe Lisa,

ich finde es interessant, dass du die Zeilenumbrüche ansprichst, denn da habe ich viel experimentiert, u.a. auch mit deinem Vorschlag. Letztlich fühlte ich mich mit der oben stehenden Setzung wohler, ohne dass ich sie für der Weisheit letzten Schluss erachte. Aber deine Ausführungen sind mir einleuchtend, daher werde ich mir den Text nochmal in deiner Version ausdrucken. Am Monitor kann ich das schlecht abwägen und entscheiden; ich brauche da seltsamer Weise immer ein Stück bedrucktes Papier in Händen.
Und was die Person "sie" betrifft, so war und ist diese von mir tatsächlich "archetypisch" gedacht, aber deine Nachfrage könnte eventuell der Anstoß zu einem neuen Text (Prosa?) sein. Spannend!
Ich danke dir herzlich für deine Anregungen!

Lieber Moshe,

deine Rückmeldung freut mich sehr, danke! Zur dritten Zeile kann ich dir nichts anderes schreiben als das, was ich oben schon an Perry schrieb. Mit deinen Überlegungen zum Titel triffst du einen wunden Punkt, da ich mich bei diesem Text sehr schwer damit tat. Du schreibst, "Suche" ist dir zu profan und schlägst "Verlorenes" vor. Impliziert aber deine Alternative nicht eine Endgültigkeit, während "Suche" offener ist (s. scarletts Kommentar)? Ich habe für mich auf deinen Kommentar hin einmal den dritten Vers tatsächlich gestrichen und als Titel "Verlorene Träume" genommen, war aber auch damit nicht recht glücklich, weil mir schien, der Text führte dann zu dicht an die Deutung, die ich gerade vermeiden wollte, dass es sich nämlich um das Grab des Geliebten handelt (s.o.). Aber ich mag nicht ausschließen, dass ich im Moment vernagelt bin, da noch zu dicht am Text dran.

Euch allen herzliche Grüße in die zweite Wochenhälfte,
Herby

Herby

Beitragvon Herby » 28.11.2007, 19:52

Lieber Anton,

deine Antwort und mein Kommentar haben sich überschnitten. Auch dir danke ich sehr für deine Rückmeldung. Über den "seichten, leicht bleiernen Atem" muss ich jetzt allerdings noch nachdenken... ;-)

Lieben Gruß
Herby

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 29.11.2007, 17:45

Lieber Herby!

'Verlorenes' beinhaltet nichts Endgültiges, denn es kann wiedergefunden werden.
Der Begriff hat m.M.n. den Vorteil, daß er ausdrückt, daß das gesuchte schon mal da war, also bekannt, während 'Suche' diesen Moment nicht hat, den ich aber in deinem Text sehe.

Soweit kurz

Moshe

Caty

Beitragvon Caty » 29.11.2007, 20:20

Herby, ich habe zu diesem Text eine andere Meinung als meine Vorredner. Ich fall mal gleich mit der Tür ins Haus: Mir ist das alles zu unkonkret, zu klischeehaft. Wenn du vom "Grab der verlorenen Träume" (was ich schon als recht häufig gebraucht empfinde) sprichst, müsstest du mal kucken lassen, was in diesem Grab eigentlich begraben ist. Wovon hat "Sie" geträumt? Was hat die Träume getötet? Wer hat sie getötet? Also die W-Fragen. Würdest du die Träume benennen, käme Substanz in den Text. So aber ist das eine zu allgemeine Klage, die sich zwar hübsch liest, aber ins Leere verpufft. Dieser Text berührt mich nicht, es gelingt ihm nicht, eine gewisse Gänsehaut zu erzeugen, er lässt mich kalt. Es reicht eben nicht, exotische Wörter zu benutzen wie "Mondtränen" und "Kolibri" - ich als Leserin lege auch Wert auf eine Aussage, die meine Emotion berührt. Hier berührt mich leider gar nichts. Tut mir leid, ich hätte gern Netteres geschrieben, schon aus naheliegenden Gründen, wie du einsehen wirst. Leider gabst du mir mit diesem Text zuwenig Chance. Caty

Herby

Beitragvon Herby » 30.11.2007, 15:52

Lieber Moshe,

danke für deine abermalige Rückmeldung. Hm... ich verstehe den Titel als ein Suchen nach etwas, das man vermisst, weil es schon einmal war, sowie ein Grab doch auch etwas birgt, das zuvor einmal gewesen ist.

Hallo Caty,

für deine kritische Auseinandersetzung mit meinem Text danke ich dir. Du schreibst einleitend, du hättest eine andere Meinung als die Vorkommentatoren. Nun, das ist zum einen dein gutes Recht, zum anderen ist es logisch, dass unterschiedliche Leser einen Text unterschiedlich aufnehmen. Und da bin ich gleich bei einem ersten Punkt. Ich schreibe meine Texte in erster Linie für mich selbst. Wenn ich sie dann aus dem geschützten Raum meines Notizbuchs oder meines Laptops in den Salon entlasse, muss ich in Kauf nehmen, dass ich nicht alle Leserinteressen bedienen und nicht alle Erwartungen erfüllen kann.
Zum zweiten schreibst du, der Text sei dir zu unkonkret, fragst nach dem Wer, Wovon, Was und verweist in diesem Zusammenhang auf die W – Fragen (die ich hauptsächlich mit berichtenden Prosatexten in Verbindung bringe), deren Beantwortung dem Text mehr Substanz verleihen würden. Das sehe ich nun genau umgekehrt; meiner Ansicht nach würde eine Ausführung dieser Fragen dem Text so, wie er mir vorschwebte, an Substanz nehmen und den Leser einengen.
Dass dieser Text dich nicht berührt, mag bedauerlich sein, hängt aber wohl mit unser beider divergierenden Erwartungen an lyrische Texte und an das, was sie erfüllen müssen, um uns anzusprechen, um zu uns zu sprechen, zusammen. Ich musste gerade an die Redensart "Was dem einen sin Uhl, ist dem anderen sin Nachtigall" denken. ;-)

Noch etwas. Zum Schluss schreibst du:

Tut mir leid, ich hätte gern Netteres geschrieben, schon aus naheliegenden Gründen, wie du einsehen wirst.


Zum einen betrachte ich dieses Forum nicht als Plattform zum Austausch von Nettigkeiten oder gegenseitiger Beweihräucherung. Wenn dir ein Text nicht zusagt, so finde ich es völlig in Ordnung, wenn du dem Ausdruck verleihst. Und mit Kritik, so sie denn sachlich und begründet ist, habe ich keine Probleme, unabhängig davon, ob ich sie nachvollziehen kann oder nicht. Sie bringt einen oft weiter als Nettigkeiten.
Zum anderen aber rätsele ich über die Gründe (Plural!), von denen du offenbar annimmst, dass ich nicht nur um sie weiß (>nahe liegend), sondern sie auch einsehe. In Wirklichkeit jedoch sehe ich selbst nach längerem Nachdenken nicht einen einzigen für mich nachvollziehbaren Grund, der mir deinen Schlusssatz erklärlich machen könnte. Hier wäre ich dir für eine Verständnishilfe dankbar.

Lieben Gruß
Herby


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