der tänzer

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 13.01.2007, 09:36

thomas milser
12/I/2007


der tänzer

der tänzer schreitet nur,
durchmisst im stechschritt sein terrain,
steif wie eisenstäbe.

wir lachen nicht über ihn,
weil er wahrhaftig ist.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Gast

Beitragvon Gast » 13.01.2007, 12:59

Lieber Tom,

abgesehen davon, dass ich ein Problem habe mit Singular- (Der Tänzer, Stechschritt) und Pluralbildung (Eisenstäbe) in deinem Vergleich habe, spricht der Text deshalb nicht zu mir, weil ich einen Stechschritt niemals mit Tanz in Verbindung bringen würde.
Dazwischen liegen Welten und viele Wiener Walzer ;-)
Stellt sich die Frage, warum du das gemacht hast.
Denn ich bin sicher du hast dir was dabei gedacht, was sich vor mir erfolgreich verbirgt. (Vielleicht vor lauter Walzer)

Liebe Grüße
Gerda

Niko

Beitragvon Niko » 13.01.2007, 13:32

hallo tom!

also mir gefällt gerade der stechschritt. weil: soetwas hab ich auch schon oft beobachtet, dass beim tanzen ein revier markiert wird. das hat etwas militantes. oft auch mit unterschwelligen agressionen potenzieller nebenbuhler gegenüber. von deaher finde ich den stechschritt als stärkstes bild im text.

die eisenstäbe zeigen gleichermaßen ein und aussperren. finde ich von daher auch geglückt. den schluss mag ich auf grund der formulierung nicht sonderlich. aber die idee darin finde ich sehr gut. das streichen des "weil" (dann: er ist wahrhaftig) fände ich schon vorteilhafter.

lieben gruß: Niko

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annette
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Beitragvon annette » 13.01.2007, 14:14

Lieber Thomas,

ich finde den Stechschritt auch gut beobachtet. Zusammen mit dem "steif" charakterisiert er die sehr distanzierte, akkurate Art der Bewegung (zumindest im Standard-Tanz).
Zunächst dachte ich auch (durch "durchmisst" und "terrain") an eine gewisse Arroganz, eine Überheblichkeit, die in der Bewegung liegt. Dagegen spricht allerdings am Ende das "wahrhaftig".

Eine Frage:
"der tänzer schreitet nur"

Warum "nur"? Es klingt, als sei mehr zu erwarten. "Nur schreiten", weil das eine sehr leichte Art der Fortbewegung ist? Oder "nur" im Sinne von "ausschließlich"? Also nie eine alltägliche Bewegung, sondern immer Schreiten?

Ich grübele noch über "wahrhaftig".
Ansonsten gefällt mir Dein Bild des Tänzers ausgesprochen gut.

Gruß, annette

Gast

Beitragvon Gast » 13.01.2007, 14:47

Eure Gedanken, liebe annette und lieber Niko habe ich gerde gelesen und finde die Überlegungen so interessant, dass ich dazu etwas schreiben möchte: (Was dich lieber Tom, ja u. U. auch interessieren kann).
Für mich ist der Steckschritt oder auch Paradeschrit eher Demosntration von militärischer Stärke, denn der Abgrenzung oder Durchmessung eines Terrains dienend.
Ein Tänzer der Terrain durchmisst, tut dies aus freien Stücken, vielleicht aus Lust am Tanz.
Beim Stechschritt liegt der "Befehl" zugrunde, fällt mir des Weiteren ein.

Liebe Grüße
Gerda

pandora

Beitragvon pandora » 13.01.2007, 15:42

lieber tom,

ich habe ein bild vor augen, wenn ich deine zeilen lese: einen balletttänzer, der mit durchgedrückten knien und kreisenden schritten eine fläche durchquert. eine pose, die ich zum beispiel mit nurejew in verbindung bringe.
dennoch glaube ich, dass gerda recht hat, wenn sie die singular - plural-problematik anspricht. die frage ist wohl, ob sich "steif wie gitterstäbe" auf den tänzer oder das terrain beziehen soll. wenn ersteres der fall ist, wie ich meine, würde ich "steif wie ein eisenstab" schreiben.
die letzten zwei zeilen sind für mich ein bisschen kryptisch.

lg
p.

Niko

Beitragvon Niko » 13.01.2007, 16:35

die letzten zwei zeilen sind für mich ein bisschen kryptisch.

ich lese es nach dem motto: wenn´s nicht so traurig wäre, diese wahrhaftige (nahezu unvorstellbare), würd man drüber lachen"
lieben gruß: Niko

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 13.01.2007, 17:54

Der Niko bekommt die goldene Rezensenten-Nadel in Bronze für's Am-nächsten-dran-Sein!

Erstmal schönen vielen Dank für eure so unerwartet rege Anteilnahme. Ich sehe ein, ich muss den Hintergrund ein bisschen ausleuchten:

Die Szene spielte gestern Abend bei einer Melodic-Rock-Party. Das ist so eine Randgruppenveranstaltung mit kollektivem Besäufnis für diejenigen Enddreißiger bis Mitvierziger, die sich einst zu VanHalen, AC/DC und noch ganz furchtbaren Poser-Rock-Bands in Düsterschuppen einen abzappelten. Man fand so allerhand Luftgitarrenspieler, Vokalimitatoren, Kopfschüttler, aber auch die Normalo-Tanzmäuse mit dezentem Hüpf- und Hüftschwung. Es gab Trockeneisnebel, und die Bude war gerammelt voll.

Ein männliches Exemplar, das also ebenfalls durch Bewegung auf der Tanzfläche Freiheit zu erheischen suchte, vollführte obengenannten Stechschritt, und nichts anderes. Er lief stumpf auf und ab, ohne jegliche Tanzbewegung (soviel für Anette). Durchmaß den Raum, machte kehrt, und durchmaß zurück. Minutenlang. Das machte mich stutzen.

Es wirkte zugegebenermaßen ein wenig lächerlich (jetzt kommen wir zum letzten Absatz), aber in seinem Gesicht konnte man erkennen, dass es genau die Bewegung war, die seinem Gefühl für die Musik entsprach. Will sagen: Er war da voll drin! Das Traurige (lt. Niko) war, dass der gespielte Titel so eine stumpfe Stadion-Rock-Poser-Scheiße war, mit grottendummen Akkord- und Melodielinien und höchst peinlichem Text, dass man sich fragte, wie solch ein Genudel diese ernsten Emotionen bei dem besagten Herrn auszulösen vermochten. Aber es war eben echt, nicht gespielt. Was dann das Traurige ist.

Zu den Singular/Plural-Anmerkungen: 'Im Stechschritt' ist ja eine feststehende Wendung für eine Fortbewegungsart, und die Assoziation 'Eisenstäbe (also mehrere)/Gitter/Gefängnis' war wohl unterschwellig mein Gedanke. Ich denke in solchen Momenten der Niederschrift - ich nenne es 'Entladungen' - nicht darüber nach. Die Worte kommen einfach, und es bleibt dann auch so.

Ich hoffe, ich konnte ein wenig Erhellung in eure spannenden Interpretationen bringen.

Danke euch,
Tom.

edit: Niko, mit deinem Vorschlag für den Schluss könntest du recht haben. Ich überleg's mir.
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Gast

Beitragvon Gast » 13.01.2007, 19:31

Danke für die Erläuterungen, lieber Tom.
Allerdings ändert das nichts daran, dass Eisenstäbe, im Plural so oder so nicht gut rüberkommt.
Ist Terrain gemeint, dann wäre vielleicht "wie gerahmt von Eisenstäben", das entsprechende Äquivalent.
Bezogen auf den Tänzer oder den Stechschritt, dann Eisenstab.
Macht ja nichts, dass du das erst mal so hast aus dir heraus fließen lassen, wenn du jetzt genauer schaust, wirst du das auch erspüren.

Liebe Grüße
Gerda

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 13.01.2007, 19:44

Gerda Jäger hat geschrieben:Macht ja nichts, dass du das erst mal so hast aus dir heraus fließen lassen, wenn du jetzt genauer schaust, wirst du das auch erspüren.


Kein Kommentar
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Niko

Beitragvon Niko » 13.01.2007, 22:31

spüren kann man am intensivsten nur im moment des schreibens. danach kann man es kopfig bearbeiten. das geht in der regel zu lasten der vorhandenen jeweiligen stimmung.

niko, bauchschreiber (hab genug davon :-) )

PS: steif wie ein eisenstab sein ist etwas anderes als "steif wie eisenstäbe sein" ich halte diese "pluralisierung" für durchaus akzeptabel. denn im plural wirken sie als ein unbewegliches starres großflächiges.

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 14.01.2007, 08:33

Ja, Niko...Der Bauch ist ein weithin unterschätztes Organ...
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 14.01.2007, 12:46

Lieber Tom,

interessanter Text (erinnert mich sofort an deinen Krieger erinnert und ich bin fest davon überzeugt, dass der Grund, der am Ende dazu führt, dass nicht gelacht wird, dasselbe gefühl ist, dass beim Beobachten von eben diesem zustande kommt).

Erste Strophe find ich fantastisch, den Stechschritt wirkkräftig, habe ich sofort vor Augen und bildet für mich die Schnittstelle zwischen "aus der Realität/Alltagsbeobachtung genommen" und Poesie, das gefällt mir. (Ich hatte bis zu deiner Beschreibung übrigens einen ähnlichen Tänzer vor Augen wie pandora, es wäre zu überlegen, inwieweit du die tatsächliche Requisite mit in den Text einfließen lassen willst, aber nach deiner Beschreibung fand ich das gerade die Kondensierung gelungen, ich fänds also gut, wenn es so bleibt wie es ist).

Der Plural stört mich gar nicht, der Satz ist doch so gesetzt, dass man auch sagen könnte:

steif wie eisenstäbe es sind
,
für mich daher kein "Fehler". Singular würde den text nicht großartig verändern, aber es fehlt der Vorstellung dann die Staffelung (ich stelle mir durch das gewählte Bild ja eine Reihe Stäbe vor (vielleicht auch nur zuviel Rilkepanther gelesen zur Zeit @HörBar). Mir gefällt es.

Die letzten beiden Zeilen sind dann für mich aber - trotz wertvollem Gehalt - mehr Weisheitsspruch als Lyrik. Kryptisch find ich sie nicht, aber für ein Gedicht "unpassend", falls man das sagen kann.
Ich glaube, dass man diesen Eindruck (falls du das möchtest) durch die Auslöschung des weils verhindern könnte (Nikos Alternative wäre ein Ansatz, es ginge aber noch mehr finde ich).

Ein Text, dessen Aussage mich sofort einfängt (weil ich solche Beobachtungen/Empfindungen sehr schätze und mich in der ersten Strophe auch lyrisch überzeugt.

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Niko

Beitragvon Niko » 14.01.2007, 13:26

hallo!
ich fände es mal interessant, einen ordner zu erstellen, wo es nur um tanz geht. ich hab auch so mehrere tanz-gedichte. und ich erinnere magics "sie tanzt".
wenn es da noch mehrere gäbe, wär das eine lohnende sache. was meint ihr?

gehört nicht ganz zum gedicht jetzt. man möge dies mir verzeihen.

lieben gruß: Niko


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