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moshe.c

Beitragvon moshe.c » 17.12.2006, 23:02

nach dem gemetzel
blutige hände

die würmer fraßen
unter dem denkmal
auch das hirn
bis auf die knochen

wir gehen leicht vorüber
zur weihnachtsmesse

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eva
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Beitragvon eva » 20.12.2006, 09:00

wir gehen leicht vorüber
zur weihnachtsmesse

dieser satz ist eine vereinnahmende unterstellung - wer ist wir? wir christen, wir, die sich mit diesem text auseinandersetzen oder wir, die menschheit?

solche wir-sätze nehmen dem text die kraft durch sein pastoral bzw merkelisches zeigefingerende.
mit etwas textbezogen-unmutigen grüßen
eva

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 20.12.2006, 16:01

Liebe Eva!

Den Zeigefinger hast du erhoben.

Magst du keine Historie?

moshe.c

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eva
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Beitragvon eva » 20.12.2006, 17:33

Version1 :rolleyes:

Hallo moshe,
mag sein, dass meine kritik nicht den tonfall getroffen hat, der angemessen ist. den schuh ziehe ich mir gerne an.
aber du hast weder meine frage beantwortet, noch verstehe ich deine gegenfrage in diesem kontext.
natürlich mag ich keine historie im allgemeinen, weil sie viele verschiedene facetten hat, die mich unterschiedlich ansprechen und herausfordern.
aber ich fürchte, das wolltest du gar nicht wissen.
und ich weiß wieder, warum ich in diesem reduzierten medium besser einfach lese als rückmelde.
mit still-freundlichen grüßen
eva

Version2 :idee:

jetzt hat es mich doch gepackt, also weg vom zeitdruck und der oberfläche... welche historie meint dieser fremde mensch am anderen ende? was lese ich, was er nicht meint, und umgekehrt?

nach dem gemetzel
blutige hände

eine schnelle abfolge vielerlei bilder aus den medien: irak, palästina, afrika - historie? holocaust, herodes...

die würmer fraßen
unter dem denkmal
auch das hirn
bis auf die knochen

ein brachiales bild, an dem ich mir fast die zähne ausbeiße. würmer erledigen die aufräumarbeiten, aber sie vernichten auch die kollektive erinnerung, die unter dem denkmal ruht. nur das skelett, die materie bleibt, deshalb passiert es wohl immer WIEDER.

wir gehen leicht vorüber
zur weihnachtsmesse

und weil ich den nicht leichten worten - so weit und tief ich vermochte - gefolgt bin, kränkt mich dieser satz im gesamtzusammenhang - er unterstellt einer nicht näher benannten gruppe, dass sie das grauen leichten herzens links liegen lässt, um ihrem heil zu frönen

(anmerkung: ich würde mich übrigens weltanschaulich leicht tun, diesen satz zu grummeln - z.B. angesichts der bayrisch-katholischen schein-heiligkeit, die in meiner gegend alltäglich ist, aber er ist für dieses gedicht einfach zu platt - er entwürdigt es, er nimmt ihm die tiefe.

genug der höchst subjektiven interpretation
nachdenkliche grüße zum zweiten
eva

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 21.12.2006, 11:47

Hallo Moshe,

wenn ich dich richtig verstehe, lädt hier jemand/eine Gruppe auch noch nach dem eigentlichen Gemetzel Schuld auf sich. Das können sowohl die Täter sein als auch Personen oder Gruppen, die nach den Untaten alles unter den sprichwörtlichen Teppich kehren wollen, z. B. indem sie ein Denkmal errichten. Was natürlich nicht viel nützt, weil deine sprichwörtlichen Würmer zwar fleißig nagen, aber nicht wirklich alles beseitigen können. Der Mensch im Hier und Jetzt kümmert sich nicht drum, vielleicht weil er vergessen will oder weil er einfach übersättigt ist.

Mein Vorschlag:

Auch nach dem Gemetzel
noch blutige Hände

die Würmer fressen
unter dem Denkmal
das Hirn bis auf die Knochen

Wir gehen zur Weihnachtsmesse.

Liebe Grüße
Marlene

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 22.12.2006, 16:31

Liebe Eva!

Danke dir sehr, daß du noch einen neuen Ansatz gefunden hast und ihn auch schreibst.

Man möchte nicht gern an die Geschichte der Vorfahren erinnert werden, schon gar nicht in der Gegenwartsform.
Ich auch nicht, wenngleich das Gemetzel meiner Vorfahren schon etwas weiter zurückliegt, was es nicht besser macht.

Es scheint ein Problem der monotheistisch-religiös orientierten Gesellschaften zu sein. Oder?

Generell frage ich mich immer wieder, warum die einfachen zehn Gebote, die mein Namensvetter aufgestellt hat, so schwer einzuhalten sind.
Hat er einen Fehler gemacht?
Es muss wohl so sein.
Aufgrund meiner Berufspraxis komme ich immer wieder zu dem Schluß, daß die Lösung in dem Teil liegt, wo die Kinder die Eltern ehren sollen, anstatt umgekehrt.

Die letzte Strophe habe ich schon sehr entschärft, denn ich wollte in der letzten Zeile eigentlich schreiben:

'und wir beten einen Toten an.'

Ich möchte gerne verstehen, was dein Vorbehalt bei der letzten Strophe eigentlich ist. Kannst du mir das erklären?

(Es mag sein, daß du es für absurd hälst jemanden so etwas erklären zu müssen, aber ich lebe nunmal nicht in deiner Welt.)

Liebe Marlene!

Mir kommt dein Vorschlag so entschärft vor, wo ich doch schon sehr zurückhaltend war.

HM.!?

moshe.c

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 22.12.2006, 18:54

Hallo Moshe,

wieso entschärft?? Ich dachte eher, dass ich noch eins draufgelegt hätte, als ich alles in die Gegenwartsform packte.

Liebe Grüße
Marlene

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leonie
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Beitragvon leonie » 22.12.2006, 21:36

Lieber moshe,

Aufgrund meiner Berufspraxis komme ich immer wieder zu dem Schluß, daß die Lösung in dem Teil liegt, wo die Kinder die Eltern ehren sollen, anstatt umgekehrt.


:hand0051:

Zu dem "wir" , das Eva kritisiert hat: Angemommen, Du hättest geschrieben : "Ich gehe zur Weihnachtsmesse", dann steht es dem Leser frei, sich da anzuschließen oder auch nicht. Wenn er mitgeht, geht er freiwillig mit.

Dadurch, dass Du "wir" schreibst, nimmst Du den Leser fast automatisch mit, ob er will oder nicht. Dadurch entsteht das Bedürfnis, sich abzugrenzen, weil man sich vereinnahmt fühlt..

Das passiert leicht, wenn man "wir" benutzt und nicht ganz klar ist, wer damit gemeint ist.

So habe ich es mal bei einerArt "Schreibwerkstatt" gelernt. Und ich glaube, da ist was dran.

Ich finde Deinen Text trotzdem gut und berührend, nicht nur durch das "wir" enthält er eine Provokation, die mir gefällt und die mich berührt und aufrüttelt.

Liebe Grüße

leonie

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 23.12.2006, 16:12

Liebe Leonie!

Es ist hier durchaus meine Absicht zu provozieren und den Leser 'mitzunehmen'..
Es gibt Momente, da halte ich dies für ausgesprochen angebracht, z.B. in dem jüngst eröffneten, neuen Teil von Yad Vashem. Mir sind Denkmäler, Museen o.ä., oft nicht eindringlich genug. So wünsche ich mir des öfteren Tiefergehendes, mehr Mitnehmendes, anstatt Distanz.

So long

Moshe

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 23.12.2006, 16:21

Liebe Marlene!

Deinen Gedankengang verstehe ich, aber ein Denkmal wird nunmal in einer zeitlichen Distanz zum eigentlichen Ereignis errichtet. Mithin also in einer Zeit, in der die Würmer dann an dieser Stelle nichts mehr zu fressen haben.
Das Ergebnis findet sich dann in den Nachkommen. Deshalb musste ich im Mittelteil die Vergangenheit wählen.

So long

Moshe

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Beitragvon eva » 24.12.2006, 12:20

Hallo moshe,

erstmal danke für die angeregte statt aufgeregte Auseinandersetzung.
Mein Widerwillen gegen das vereinnahmende "wir" deckt sich durchaus mit Leonies Erklärung, denn es tut dem Leser Gewalt an. Aber ich muss darüber nochmal in Ruhe und nicht inmitten des Weihnachtstrubels nachdenken.

"..und beten einen Toten an", finde ich viel spannender und wahrhaftiger als die verschlüsselte Weihnachtsmesse. Ich würde es nur wieder anders formulieren, weil ich der weltanschaulichen Diskussion, ob Jesus nun lebt oder nicht, keine Nahrung liefern möchte: "und beten den Tod an".

Liebe Grüße in Eile
Eva

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 24.12.2006, 14:58

Liebe Eva!

Trubel freudig mit und lass dir Zeit!
Deine kurzen Anregungen finde ich interessant und ich bin gespannt auf deine weiteren Übelegungen.

Habe gute Tage

Moshe

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Beitragvon leonie » 25.12.2006, 16:54

Lieber moshe.c,

ich habe nochmal über das "wir" nachgedacht: Schließt Du Dich wirklich mit ein? Sonst wäre vielleicht "Ihr" oder "Sie" eine Möglichkeit. "Ihr" finde ich auch sehr provozierend, "sie" lässt sicher mehr Freiheit, sich abzugrenzen.

"...und beten einen Toten an" ist natürlich doppelt provokativ. Dadurch kann der Leser sich aber auch aussuchen, auf was er einsteigt. So besteht die Gefahr, dass man sich förmlich zur weltanschaulichen Diskussion eingeladen fühlt. Natürlich gehst Du auch das Risiko ein (wie immer bei solchen Provokationen), beschimpft zu werden als Verunglimpfer dessen, was anderen heilig ist. Das wäre aber schade, denn es lenkt meiner Meinung von der anderen Provokation ab, die ich fast wichtiger finde, weil sie den Leser auf sein eigenes Verhalten hin befragt.

Soweit meine Gedanken dazu.

Liebe Grüße

leonie

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 26.12.2006, 19:32

Liebe Leonie!

Auch ich habe nochmal zutiefst über das 'wir' nachgedacht und kann nur sagen: Ja, ich schließe mich da mit ein.
Das hat sehr vielfältige Gründe, aber ich muss sagen, daß auch ich mich nicht davon distanzieren kann und will. Ein 'Sie' oder 'Ihr' würde mich in eine Position bringen, die mich mit einem Zeigefinger abhebt und entfernt, den ich nicht empfinden kann.

Ich könnte natürlich schreiben: 'und beten Tote an.' Das wäre eine Möglichkeit, die Allgemeinheit vermittelt und somit dem ganzen in meinen Augen etwas nehmen würde, was ich hier aber gern genau in dieser Form so haben möchte.
Auch hier gilt: Ich schließe mich mit ein, anhand meiner eigenen Historie.

So long
Moshe.


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