Spiegel

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
moshe.c

Beitragvon moshe.c » 11.11.2006, 23:04

Spiegel

Der Schmerz in deiner Brust
wie Watte
gehst du hinter deinem Ich
her
immer den Formeln folgend
vom Glück
von der Wahrsagerin
gegebenenfalls vom
Besser-Werden
ohne Willen fast
in den Zimmern
des Krankenhauses
die Gnade
im weißen Kittel
im Gebet der Fremdwörter
über dir
wie Axt gesprochen
bis deine Zähne bluten
beim Wort GEN
oder DNA
oder AIDS
das noch droht
im Restgefummel
den Wolken der Träume

Weißt du noch?
Weißt du noch das Gebinde
von frühem Lachen
und deinem ersten kurzen Rock?
Wo ein nacktes Knie alles war?
Und das Weitere einfach schüchtern?

Und langsam leert sich alles
zu Falten
nicht nur in den Mundwinkeln
mit der neuesten Creme
dagegen
und Anderem
im Spiegel
bevor du schläfst
und deine Brille
zu Boden fällt
und ich weiter
neben dir
bin
Zuletzt geändert von moshe.c am 12.11.2006, 00:09, insgesamt 2-mal geändert.

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leonie
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Beitragvon leonie » 11.11.2006, 23:54

Lieber moshe.c,

das gefällt mir gut, löst viele Assoziationen und Gedanken aus. Wie ein Mensch sich selbst im Krankenhaus verliert, das, was er war und ist, ganz klein werden kann und das Leben sich so reduziert auf Beschwörungsformeln der Hoffnung.
Das lyrIch daneben, das erinnert und bleibt.

Ich meine, es heißt das Mantra, ich würde hier überlegen, „das Mantra murmelnd“, da Du ja das Gebet an späterer Stelle noch hast und ich es da sehr eindrücklich finde.

Liebe Grüße
leonie

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 12.11.2006, 00:06

Liebe Leonie!

Ich nehme meinen groben Schnitzer ganz raus und hoffe es gefällt dir weiter hin.

Mit liebem Gruß

Moshe

lichelzauch

Beitragvon lichelzauch » 19.11.2006, 16:46

Hallo Moshe!

Das gefällt mir richtig gut! Der Kontrast zwischen Strophe 1 und 2... das ist richtig schön intensiv.
Aber es geht "nicht wirklich" um ein Krankenhaus, das ist Metapher, oder? Sonst würde mich die - auch so schon etwas irritierende - "neueste Creme" ein bisschen stören, im Krankheitsfall erscheint mir der Superlativ irgendwie fehl am Platz (?).

(Kleines Detail, was mir gefällt: in leonies Gedicht hatte ich den Begriff "Sein" als problematisch bezeichnet, hier gefällt mir deine Lösung -> Verb + Absatzgestaltung; die Aussage bleibt erhalten, wird sogar noch gestärkt, und ich jedenfalls habe keine Schwierigkeiten, das so und gerade dort zu akzeptieren - nur mal rein hypothetisch "mit meinem Sein" z.B. hätte gar nicht funktioniert, sagt aber letztlich dasselbe. Schön.)

Liebe Grüße,
lichelzauch

Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.11.2006, 17:02

Lieber Moshe,

dein Gedicht geht sehr nahe, berührt. Es ist wunderbar geschrieben.

Einzig:

mit der neuesten Creme
dagegen
und Anderem



würde ich streichen.
Saludos
Gabriella

Louisa

Beitragvon Louisa » 19.11.2006, 17:14

Hallo Moshe!

Stimmt, das ist ein sehr eindringliches Gedicht und der Umschwung wirkt auf mich auch sehr gut! Ich weiß nicht recht, ob es nun einzig und allein um das Altern an sich oder doch um eine bestimmte Krankeheit geht-

Ersteres ist wohl (wie Lichel schon sagt) wahrscheinlicher. (Es könnte so eine moderne Fassung von "Ach, Liebste lass uns eilen..." sein oder :smile: ?)

(Ich weiß nicht, ob das jetzt fehl am Platze ist, aber es gibt schon ein Gedicht von Herrn Robert Gernhardt, der im Sommer an Krebs verstarb. Er dichtete das eher glückliche Lied "Geh aus mein Herz und suche Freud" in Verbindung mit seiner Chemotherapie um, sodass es hieß "Geh aus mein Herz und suche Leid" ... Jedenfalls ist in diesem Gedicht der Kontrast zwischen blühender Natur, menschlichen Genüssen und dem Krankenhausalltag auch sehr kunstvoll und beeindruckend geschildert-)

Zurück zu Deinem Gedicht: Ich gehe bis zu dem Wort "Restgefummel" ganz mit. Obgleich die Worte "GEN", "DNA" und "AIDS" doch eigentlich keine abschreckenden Fremdwörter mehr sind. Da gibt es doch meistens ganz andere medizinische Bezeichnungen, wie zum Beispiel (Na gut, das ist auch bekannt, aber trotzdem:) eine Blutwäsche als Dialyse oder sowas...

Also ich würde da andere "Fremdwörter" nehmen...und auch nicht fummeln...nein, nein :smile: !

Die letzten Zeilen sind wieder gut, auch an der "neusten Creme" hätte ich mich jetzt nicht sooo sehr gestört, aber ich würde auf jeden Fall diesen allgemeinen Begriff "und Anderem" weglassen! (Solche Wörter darf man eigentlich niemals verwenden, meine ich).

Sonst ist es aber sehr gelungen! Ein gutes Gedicht, Moshe!

Liebe Grüße,
l.

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 19.11.2006, 23:13

Danke für eure Rückmeldungen.

Ich versuche mich hier langsam einem Thema aus meiner Berufspraxis zu nähern: Impressionen aus dem Umgang mit Menschen, die in den 80gern und 90gern sind und deren Lebenswelt ich erfahre. Manchmal ein ferner Planet, dann auch wieder sehr nahe und ich fühle mich ein wenig unbeholfen dabei, was man dem Text hier ja schon anmerkt, aber versuche es doch irgendwie zu fassen.

Und diesen Moment der Unsicherheit möchte ich als Gegenstand und Perspektive hier so auch sagen, weil es bestimmt nicht nur mir so geht, der noch um Einiges jünger ist.

Es geht nicht um eine bestimmte Krankheit, wohl mehr um Befürchtungen von Krankheit im Spiegel, dort auch um Rückblick und die Fragen dessen, was da noch sein kein, wenn man dieses Alter erreicht hat.

Es sieht so aus, als ob da noch mehr Eindrücke zu Worten werden wollen.

Mit liebem Gruß

Moshe.


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