Kaum zählbare Tage

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 22.06.2006, 21:18

<center>Kaum zählbare Tage

Bei den Taupferden
den leisen Wiesen

So ruhig war dir
schon nach kaum zählbaren Tagen

Noch jetzt
kann ich die Tränen
wie den Regen riechen

Wenn der Wunsch
die Wunde nicht mehr mit sich reißt
bleibt das Kind ein Greis


-----
Erstfassung:
Bei den Taupferden
den leisen Wiesen
mit deinen Lungen bestürmt

So ruhig war dir
schon nach kaum zählbaren Tagen

Noch jetzt
kann ich die Tränen
wie den Regen riechen

Wenn der Wunsch
die Wunde nicht mehr mit sich reißt
bleibt das Kind ein Greis


</center>

Carl: Falls du das Gedicht zufällig liest...das ist mein "Hälfte des Lebens"
Zuletzt geändert von Lisa am 23.06.2006, 11:07, insgesamt 1-mal geändert.
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 22.06.2006, 22:03

Zu schrieben, dies oder das, ist hier Unsinn.

Könnte ein Greis ein Kind bleiben?, bewegt mich als Folge.
Ich meine keine Änderung!!, sondern einfach eine Frage, die aus deinem Gedicht entsteht.

moshe.c

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leonie
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Beitragvon leonie » 22.06.2006, 23:32

Liebe Lisa,
den letzten Satz finde ich unglaublich. Diesmal sage ich: genauso ist es. Siehst Du, leonie, so formuliert man das!
Liebe Grüße
leonie

aram
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Beitragvon aram » 23.06.2006, 10:15

liebe lisa

da hast du schon wieder so was geschrieben ...

So ruhig war dir
schon nach kaum zählbaren Tagen

Noch jetzt
kann ich die Tränen
wie den Regen riechen


(sorry ich kann nicht zentriert setzten)

gegen das jeder kommentar mikrig wird ... das mir die entfernung zwischen sprechen und schweigen
auf - hebt

details -
strophe eins nimmt mich nicht ganz so mit - die lunge stürmt...läßt mich ein wenig zögern

bei strophe vier hab ich das gefühl - ich weiß genau was du beschreibst - aber ich kriege es nicht ...ins bild ...und nicht in den kopf - komme partout nicht näher in kontakt.
ich denke wegen "mit sich reißt" - "die wunde mit sich reißt" - "die wunde nicht mehr mit sich reißt" -

liebe grüße
aram

pandora

Beitragvon pandora » 23.06.2006, 10:45

liebe lisa,

mir geht es wie aram: dieses gedicht bringt etwas in mir zum klingen, aber ich kann dies nicht, oder nur sehr schwer, in worte fassen.
ruhe geht von den versen aus, ausgeglichenheit, nachhaltigkeit und frieden. frieden, besser vielleicht: einklang, mit sich selbst.

"mit deinen lungen bestürmt" ist auch für mich ein wenig problematisch.
ich interpretiere: "kraft getankt", aber das bild ist für mich nicht ganz stimmig. "mit deinem atem bestürmt" vielleicht?

lg
p.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 23.06.2006, 11:06

Hallo,

ja, diese eine Zeile, danke aram und pandora,...daran habe ich hin und her überlegt, erst hieß es unter anderem:


mit deinen Lungen begingst


Mich hat sie auch vom Bezug her nicht glücklich gemacht. Nun merke ich gerade, dass es vielleicht das beste wäre, sie schlicht zu streichen! Denn eigentlich liegt die Art des Atmens schon in dem(n) Taupferden...und gerannt bin ich nicht...sie stimmt einfach auch nicht.

Wäre das eine Alternative? Mir scheint es gerade richtig...

aram: Danke...schade aber, dass dich die erste Strophe nicht trifft, denn sie ist das Erlebnis, dass diesem Gedicht zugrunde liegt, warum es geschrieben wurde. Alles andere ist nur Rücklick (als Blick in die Zukunft).

Leonie: Tausend Dank! ich habe diese wunderschöne (!) Retourkutsche wohl erkannt :grin: ...wie schön, dassmir das gelungen ist...

moshe: Für mich heißt die Antwort "Ja", sonst hätte ich es nicht so formuliert :-$ :grin: . Und für dich?

Liebe grüße,
Lisa
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 23.06.2006, 11:11

Lieber aram,
ein PS: Die letzte Strophe ist auch nicht für den Kopf geschrieben :grin: . Ich weiß, äußerlich ist es paradox, aber liest man es auf der Gefühlsebene und auf der Ebene der Wünsche, die man einmal hatte, mit dem Glauben, dass sie wahr werden, wenn man sie sich nur genug wünscht...dann ist für mich diese Formulierung wahr, wenn die Wünsche nicht eintreten...
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aram
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Beitragvon aram » 23.06.2006, 15:24

Lisa hat geschrieben:schade aber, dass dich die erste Strophe nicht trifft

lisa, sie traf mich schon - sie nahm mich nur nicht mit - aber das war ja vor deiner streichung - - -
jetzt bleib ich ganz bei ihr

ich finde das sehr gut. allerdings verändert sich dadurch die ganze 'gewichtung' des textes,
der nachklang der dopplung der titelzeile ist um eine nuance reduziert (das ist aber ok),
und in s3, 4 sind plötzlich so viele wörter...ließe sich die reduktion da nicht fortführen?
(zb.
Noch jetzt die Tränen / wie den Regen riechen

-hm dann entfällt aber das ich - ist wohl nicht so gut)

letzte stophe - mein "nicht in den kopf" steht nicht im vordergrund - ich krieg sie nicht ins bild - und hab doch das gefühl ich kenne das geschehen...
das kann durchaus an meinem themenzugang liegen - doch ich weiß nicht, "die wunde nicht mehr mit sich reißt" - irgendwas ist da, scheint mir noch nicht ganz destilliert...ist nur mein gefühl.

danke für das gedicht
aram

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 23.06.2006, 15:54

Lisa,
auf dein schönes "Ja" habe ich eine Antwort geschrieben, sicherlich nicht so tiefgründig wie dein Text.

moshe.c

Louisa

Beitragvon Louisa » 23.06.2006, 16:12

Hallo Lisa!

Das ist ja wieder wundervoll und sehr beeindruckend! Über jede Zeile könnte man sich tagelang Gedanken machen. Es ist einfach perfekt!

Besonders das hier:

Noch jetzt
kann ich die Tränen
wie den Regen riechen


finde ich sehr, sehr gut!

Eigentlich alles O:) .

Grüßlein, louisa

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 23.06.2006, 16:50

Nach einem Tag des immer wieder Lesens deines Gedichtes habe ich es nachvollziehen können, heißt: Der zarte Umgang mit der anderen Person ist für mich der Schlüßel.
Aber dann bleibe ich in der letzten Zeile hängen am Greis.

Ein Greis ist, wenn er verarbeitet hat, kein Greis mehr, sondern neu geboren aus seiner Lebensgeschichte und erfährt eine Frische, die ihn sein Leben in Frieden abschließen läßt.

Da es ja um die Verarbeitung der Wunden geht, kann er kein Greis mehr bleiben, sondern aus dem Greis wird ein Kind.

moshe.c

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 23.06.2006, 17:34

Lieber moshe,

dieser Satz haut mich um:

Der zarte Umgang mit der anderen Person ist für mich der Schlüßel.


Du weißt nicht, wie Recht du damit hast. Der Ort der Wiesen bildet nämlich einen Kontrast zu anderen Tagen, die man sehr wohl zählen könnte und die mit Personen zu tun haben.

Warum du den zweiten Teil nicht dazu bekommst, ist, weil du ihn, wie alle bisher, positiv liest. Das ist er aber nicht. Die Taupferde grasen auf Wiesen, die das Ich nicht mehr betreten kann und die es viel zu selten betrat, um solch ein Greis zu werden, wie du ihn beschreibst. Es waren ja nur kaum zählbare Tage.

Ja, es ist Ruhe...aber eben zwei Arten davon. Die erste ist die sanfte Ruhe, die zweite ist die resignierte Ruhe


aram: Die Zeile mit den Tränen kann ich nicht ändern, da sie sich auf zweifache Weise liest und das tut sie nur, wenn sie so dort steht wie jetzt. Über die näher gerückte Titelzeile an die Wiederholung denke ich nach, das hast du sehr empfindsam bemerkt und du hast recht...

Liebe Grüße,
Lisa
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moshe.c

Beitragvon moshe.c » 23.06.2006, 17:57

Lisa,
du hast recht, ich kann es mir bis heute nicht vorstellen, wie man so aus dem Leben gehen kann. Du hast recht, es so zu sehen und zu schreiben.

Was mich jetzt aber drängt: Wie gelingt es dir diesen Standpunkt einzunehmen????

moshe.c

scarlett

Beitragvon scarlett » 24.06.2006, 20:08

Beeindruckend, liebe Lisa!

Gruß

scarlett


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