So, jetzt aber, Chamo!
Schon der Einstieg setzt ja eine irritierende Gleichung: verschwundene Tage als Freiheiten ohne Aussicht auf Erfolg. Freiheit erscheint hier nicht als Möglichkeit, sondern als ein Platzhalter, als negative Freiheit, die sich nicht in Handlung(en) übersetzen lässt. Und wenn dann Namen „in Form von Wahrscheinlichkeiten“ wirken, wird Identität sozusagen probabilistisch, also schwankend, nicht mehr sicher greifbar. Das hat für mich durchaus eine existentielle Dimension.
In der zweiten Strophe wird dieses Motiv weitergeführt: „Bekannte Gesichter sind mehrfach möglich“. Das klingt, als würden Erinnerungen in Varianten auftreten, wie Versionen derselben Person. Besonders stark fand ich die Zeilen über die Nachrichten, die dort ankommen, wo sie am meisten fehlen. Das ist ja eine ziemlich bittere Pointe, weil Kommunikation hier als verspätete Zustellung erscheint, am richtigen Ort vielleicht, aber eben in der falschen Zeit. Und dann dieser wiederkehrende Satz „das alles ist richtig“. Ich lese das weniger als Selbstbestätigung, sondern eher als nüchterne Protokollformel, fast wie ein forensisches Abnicken dessen, was man nicht mehr revidieren kann. "Das alles ist richtig, es muss so sein, es ist nicht veränderbar". Hier geht es dem lyrischen Ich anscheinend um Selbsttrost oder eine Form von Selbststimulation wie jemand, der mit seinen Finger auf die Tischfläche hämmert, um sich selbst zu beruhigen. Alles wird gut. etc pp
Die dritte Strophe hat dann ein schönes Paradox: „Ich beschreibe den Himmel“ und erst wenn ich aufblicke, verfehlt er mich mit Lichtgeschwindigkeit. Der Himmel, als Symbol des Immerwährenden, wird zu etwas, das sich entzieht, und zwar nicht langsam, sondern maximal schnell. Dieses „verfehlt“ ist wirklich präzise, weil es nicht um Erreichen oder Treffen geht, sondern um das knappe Vorbeigehen. Wahrnehmung wird so zur Szene des Verlusts.
Zum Schluss kippt das Gedicht noch stärker ins prozedurale Vokabular: Verlustlöschungen, Sonderfälle, nachzeitige Spaltungen, ereignisgebundener Zerfall, Auflösung. Das liest sich fast wie eine administrative oder naturwissenschaftliche Beschreibung von Trauer, und gerade dadurch entsteht eine Kälteästhetik, die ich durchaus konsequent finde. Gleichzeitig könnte man natürlich fragen, ob diese Fachsemantik an einzelnen Stellen nicht ein bisschen zu dominant wird, sodass sie das Emotionale eher überblendet als zuspitzt. Aber vielleicht ist genau das die Intention, also die strikte Entromantisierung. Der Kampf gegen Pathos.
Jetzt ist das Gedicht quasi floral konnotiert. Und genau das schärft die Ambivalenz, weil der Text dann nicht nur von Verlust in abstrakten Kategorien spricht, sondern ihn unauffällig an ein konkretes, lebendiges Bild koppelt. Vor Augen habe ich Arbeiten von G. Richter über das Loslassen, Mondrian über symbolische Auflösung oder weniger abstrakt der Wanderer über dem Nebelmeer.
Vom Sound her, erinnert mich dein marginal an David Krause, ich weiß aber, dass das Werk hier keine bewusste Ähnlichkeit zu Krause herstellen will.
Maren
