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Jeden Tag (II)

Verfasst: 18.09.2023, 14:59
von Amanita
jeden Tag
vernähe ich meine Wunden

wenn sie morgens
beim Aufwachen
aufbrechen
taste ich nach Gedanken
aus Mull und Vlies
lange Ärmel ziehe ich
auf meine Haut
und lüge
mit einem gelächelten Wort
die Welt an

it’s not easy
sagt eine Frau im Abteil

aus meiner Plastiktasche
steigt süßlicher Weingeruch:
Altglas
brennende Scherben

Verfasst: 18.09.2023, 20:10
von OscarTheFish
Dieses Gedicht ist ein besonders intensives Stück einer katastrophisierenden Ästhetik und Selbstabrechnung. Ich denke dabei an ein Nischenmuseum der Abgründe einer skizzierten Menschlichkeit, die bemüht ist, keinerlei heilendes Licht in ihre eingerichtete Dunkelheit zu lassen zum Schutze des begründeten Selbstmitleids.
Fassade ist alles. Und die Routine des Alltags ist dabei das Ideal. Narben gehören kaschiert, besonders die auf der Seele.

Verfasst: 18.09.2023, 20:55
von Pjotr
Den letzten Abschnitt finde ich außerordentlich gut getroffen. Beim Lesen rieche ich sofort mit und spüre auch die Schwere der Tasche und höre das Altglas klirren und klackern. Diese vergängliche Stimmung ist sinnlich absolut nachvollziehbar.

Verfasst: 18.09.2023, 21:23
von Amanita
Vielen Dank, dass Ihr so "mitgeht".