Auf der Schattenseite

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Amanita
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Beitragvon Amanita » 24.03.2021, 23:29

betteln die Kriegsversehrten
ich frage: warum?
werde durch Einkaufsstraßen
gezogen geschoben
von Menschen in
schwarz gealterten Jacken

auf der Schattenseite
stehen die Ruinen
mit ihren dunklen Mündern
ich frage: warum?
meistens folgt Schweigen

in schmächtigen Häusern
nebelt der Rauch
die Kinder sind krank
von zahlreichen Strafen
ich frage: warum?

hinter den Mauern
lockt mich der Messdiener
in ein Versteck
auf der Schattenseite

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 25.03.2021, 03:07

Die Szene scheint vor einigen Jahrzehnten stattgefunden zu haben. Mit dem heutigen Kenntnisstand über gewisse Vorgänge hinter manchen kirchlichen Mauern in den letzten 50 Jahren, bekomme ich gerade den Eindruck, das Ende des Gedichts weist auf einen Missbrauch ...

Was ich nicht ganz verstehe:

nebelt der Rauch
die Kinder sind krank
von zahlreichen Strafen


Nach "Rauch", bei "krank", denke ich an Vergiftungskrankheiten. Aber dann lese ich "von zahlreichen Strafen"; demnach denke ich entweder an "chemische Strafen", was wohl nicht gemeint sein kann, oder an seelische Krankheit wegen seelischer Strafen. Also das vorausgehende Wort "Rauch" und das nachfolgende Wort "Strafen" verwirren meine Auffassung des dazwischenliegenden Wortes "krank", weil ich bei den damaligen Kinderstrafen eher an Prügelstrafen denke, und weil das Wort "krank" sich üblicherweise nicht auf "Verletzungen" bezieht. Verletzung versus Krankheit. Krankheit wächst eher von innen, oder? Aber die Zeilen sind trotzdem verständlich. Vor allem, wenn man sie mehrmals liest. Meine Verwirrung erschien nur kurz beim ersten Lesen. Wie wäre es, "von" zu ersetzen mit "nach"?

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 25.03.2021, 09:20

Hallo Pjotr, danke fürs intensive Lesen.
Ich schreibe ja gerade an einer Ruhrgebiets-Serie, und bei aller Nostalgie sollte der Blick "auf die Schattenseite" nicht fehlen.

Die Strophe, die Du meinst, bezieht sich auf Kindesverwahrlosung.

Der Rauch ist ja auch gar nicht eindeutig, kann Zigarettenrauch sein oder von veralteten/ defekten Öfen.

Vielleicht könnte ich schreiben auch von zahlreichen Strafen? Denn die "schwarze Pädagogik" hallt m. E. am längsten nach, länger als armselige Lebensbedingungen.

Klar, und Missbrauch.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 25.03.2021, 10:18

Hallo Amanita,

vielleicht würde ich in erster Line versuchen, die eher bildlosen Begriffe "krank" und "Strafen" durch lyrische Bilderwörter zu ersetzen. Die beiden Zeilen sind die einzigen im Gedicht, die für mich keine Bilder erzeugen. An der Stelle wird der Film kurz schwarz. Mit "hinter den Mauern" sieht man dann wieder etwas.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 25.03.2021, 10:26

Oh ... hast Du Vorschläge? Ich kann nämlich nur so "halb" nachvollziehen, was Du meinst.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 25.03.2021, 10:40

Was tun die kranken Kinder, was für ein Verb würde das beschreiben? Oder wie sehen die kranken Kinder aus? Woran erkennt man, dass sie krank sind? Vielleicht ist die Krankheit auch hörbar? Wie klingen kranke Kinder? Und so weiter ...

Quoth
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Beitragvon Quoth » 25.03.2021, 12:20

Bis zur Erwähnung des Messdieners habe ich mich in einer kriegszerstören syrischen Stadt gefühlt ...
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Beitragvon Amanita » 26.03.2021, 09:19

in schmächtigen Häusern
nebelt der Rauch
auf ihrer stillen Treppe
atmen die Kinder schwer
ich frage: warum?



ginge das?

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 26.03.2021, 09:53

Ja, genau. Jetzt hat das Substanz, finde ich.

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Beitragvon Amanita » 26.03.2021, 10:03

Vielen Dank! Dann hat es mir weitergeholfen! :daumen:


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