Ein schepperndes Ding

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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 29.12.2015, 10:05

Ein schepperndes Ding
rollt den Bürgersteig entlang.
Der Wind pfeift darauf.
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck

Nifl
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Beitragvon Nifl » 29.12.2015, 17:09

Für mich, im Vergleich zu den anderen, weniger gelungen. Dieses neckisch Pointierte will mir nicht zusagen. Auch weil es im Unspezifischen verbleibt, hier fehlt mir die erlebnisexpressive Direktheit.
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 29.12.2015, 17:15

Ich finde die dritte Zeile an sich und auch als Pointe gut gemacht.

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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 29.12.2015, 17:56

Nifl,

Was meinst du mit Unspezifisch?
Magst du grundsätzlich keine zweideutigen Aussagen?
Man kann die Schlusszeile ganz konkret als akustischen Eindruck nehmen, oder als Gleichgültigkeit.
Da sich die Lesarten nicht gegenseitig ausschließen, frage ich mich, warum ich mich da entscheiden sollte?

Oder meinst du das unspezifische "Ding"?
Ich möchte fast wetten, dass jeder Leser oder Hörer das gleiche Ding vor Augen hat.
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 29.12.2015, 19:04

Für mich geht die letzte Zeile nicht auf. Ich finde es schade, dass dem Scheppern ein Pfeifen entgegengesetzt wird, irgendwie beißt sich das für mich und dann bringt es auch mein Bild durcheinander, weil ich eine Dose gesehen hatte und das nicht passt? Zumindest habe ich den Wind noch nie auf einer Dose pfeifen hören. :) Und die andere Bedeutung, dass es ihm egal ist, gibt mir hier nichts dazu. Wenn die letzte Zeile aber z.B. in kleiner Abwandlung lauten würde: Der Wind schweigt dazu. würde sich für mich das Bild auf interessante Weise erweitern.
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Nifl
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Beitragvon Nifl » 29.12.2015, 19:07

Ja, ich bin ein Unjeder und kein Freund von schenkelklopfiger Rätselraterei in der Lyrik (hängt vielleicht auch mit meiner Reimabneigung zusammen). Dieses Ding- gab es da nicht auch mal eine amerikanische Schmonzette aus den 60ern?- evoziert nichts bei mir. Und das Ende finde ich albern.
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 30.12.2015, 09:03

Flora hat geschrieben:Für mich geht die letzte Zeile nicht auf. Ich finde es schade, dass dem Scheppern ein Pfeifen entgegengesetzt wird, irgendwie beißt sich das für mich und dann bringt es auch mein Bild durcheinander, weil ich eine Dose gesehen hatte und das nicht passt? Zumindest habe ich den Wind noch nie auf einer Dose pfeifen hören. :)

Eine leere Cola-Dose kann genauso pfeifen wie eine tiefe Panflöte. Das sind Blasinstrumente. Geht ganz einfach.


Flora hat geschrieben:Und die andere Bedeutung, dass es ihm egal ist, gibt mir hier nichts dazu. Wenn die letzte Zeile aber z.B. in kleiner Abwandlung lauten würde: Der Wind schweigt dazu. würde sich für mich das Bild auf interessante Weise erweitern.

Das halte ich für ein Universal-Argument, das wirklich jedem Text jegliche Kraft nehmen könnte. Angewandt gegen diese Kritik selbst, könnte man universell sagen: "Diese Kritik gibt mir hier nichts dazu."

"Dazu schweigen" ist ja wirklich ebenso eine Bildzugabe wie "Darauf pfeifen". Ein Schlussbild eben. Da malt ein Autor ein Schlussbild. Das ist das Schlussbild. Das gefällt oder gefällt nicht. Bloßes Nichtgefallen ist keine literarische Kritik. Das ist so, als wenn Du kritisieren würdest, dass Winnetou am Ende stirbt und nicht weiterlebt. Das Ende ist nun eben vom Autor bestimmt. Der Tod ist genauso eine Bildzugabe wie das Weiterleben. Du könntest kritisieren, dass dramaturgisch eine Bildzugabe fehlt oder eine zuviel vorliegt. Aber Dir gefällt das Bild selbst einfach nicht; oder Du legst einfach eine beliebige Alternative vor, um eine Pseudokritik zu konstruieren? Was immer es auch ist, für ein Schweigen braucht man keinen Wind. Schweigen ist ja gerade die Abwesenheit von Wind. Schweigen kann vielleicht der Asphalt, oder die Mauer. Die "Mauer schweigt dazu". Zwar noch besser als der bildlose, "schweigende Wind". Aber was ist das denn für eine Bild-Pointe dann? Da ist keine Pointe mehr. Ich kann nicht glauben, dass so ein Ende einem Leser mehr geben könnte, als ein "Wind, der darauf pfeift".

Für mich passt der Dreizeiler sehr gut, und nicht nur aus einer Perspektive. Und nicht nur in einer Farbpalette.

Angenommen, der Text würde im floraschen Sinn abgeändert, dann würde ich das gleichfalls florasche Universal-Argument anwenden und schreiben: "Für mich geht die letzte Zeile nicht auf. Ich finde es schade, dass dem Scheppern ein Schweigen entgegengesetzt wird, irgendwie beißt sich das für mich und dann bringt es auch mein Bild durcheinander, weil ich eine Dose gesehen hatte und das nicht passt? Zumindest habe ich den Wind noch nie schweigen hören. Und die andere Bedeutung, dass es ihm nicht egal ist, gibt mir hier nichts dazu. Wenn die letzte Zeile aber z.B. in kleiner Abwandlung lauten würde: Der Wind pfeift darauf. würde sich für mich das Bild auf interessante Weise erweitern."


Gruß

P.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 30.12.2015, 09:41


Ich kann nicht glauben, dass so ein Ende einem Leser mehr geben könnte, als ein "Wind, der darauf pfeift".

Also ich stelle mich für den "einen" zur Verfügung. Ich denke aber, die Diskussion ist müßig, weil es um grundsätzliche Chiffrierung geht. Und natürlich dürfen Geschmacksurteile Bestandteil einer Kritik sein.
"Wind, der darauf pfeift" als Schlusszeile gibt dem Text den "pfiffigen" Anstrich eines Kalauers. Sowas mögen viele viele Leser, deswegen ist das vollkommen legitim. Aber es kommt eben auch auf die Erwartungshaltung des Rezipienten an. Und im Kontext zu den anderen Texten, die ZK gestern eingestellt hat, fällt dieser eben aus der Reihe (für mich)
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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 30.12.2015, 10:26

Hallo Pjotr,

Bloßes Nichtgefallen ist keine literarische Kritik.
Sehe ich genauso. :)
Eine leere Cola-Dose kann genauso pfeifen wie eine tiefe Panflöte. Das sind Blasinstrumente. Geht ganz einfach.
Ja, auf einer Dose kann man bestimmt pfeifen, aber kann Wind auf einer rollenden Dose pfeifen? Ich kann mir das nicht vorstellen, es wird für mich nicht zu einem Bild, scheint mir nicht real(istisch) und bleibt damit eine Behauptung des Autors.
Aber Dir gefällt das Bild selbst einfach nicht; oder Du legst einfach eine beliebige Alternative vor, um eine Pseudokritik zu konstruieren? Was immer es auch ist, für ein Schweigen braucht man keinen Wind. Schweigen ist ja gerade die Abwesenheit von Wind.
Nein, meine Kritik hat nichts mit gefallen zu tun. Und die Alternative ist nicht beliebig, wundert mich ein wenig, dass du das so siehst, denn im Bild gibt es doch auch eine Bewegung, bereits dieses andere Zusammenspiel zwischen Wind und Ding. Wenn der Wind (nun) schweigt, muss die Bewegung durch etwas anderes ausgelöst worden sein (z.B. ein Mensch), oder weitergetragen werden (z.B. eine abschüssige Straße). Das ist der Punkt, der dann meine Phantasie weckt und an dem das Bild anfängt mir Geschichten zu erzählen. Das muss natürlich nicht Intention des Autors gewesen sein, ZaunköniGs letzte Zeile ist ja viel mehr ein Abschluss, erzeugt ein in sich geschlossenes Bild. Aber gerade da muss es dann für mich eben stimmig, glaubhaft sein. Edit: In die Richtung würde z.B. für mich auch gehen: Der Wind spielt damit.
Angenommen, der Text würde im floraschen Sinn abgeändert, dann würde ich das gleichfalls florasche Universal-Argument anwenden und schreiben: "Für mich geht die letzte Zeile nicht auf. Ich finde es schade, dass dem Scheppern ein Schweigen entgegengesetzt wird, irgendwie beißt sich das für mich und dann bringt es auch mein Bild durcheinander, weil ich eine Dose gesehen hatte und das nicht passt? Zumindest habe ich den Wind noch nie schweigen hören. Und die andere Bedeutung, dass es ihm nicht egal ist, gibt mir hier nichts dazu. Wenn die letzte Zeile aber z.B. in kleiner Abwandlung lauten würde: Der Wind pfeift darauf. würde sich für mich das Bild auf interessante Weise erweitern."
Da wären dann aber viele Ungereimtheiten in der Argumentation. :o)

Liebe Grüße
Flora
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Beitragvon ZaunköniG » 30.12.2015, 11:13

Huch, wieviel Diskusion doch so ein kleiner Dreizeiler auslösen kann!

Pjotr, Vielen Dank für deine engagierte Verteidigung meiner Schlusszeile. Ich denke, dass du meine intention ab besten erfasst hast. Aber Ziel literarischen Schreibens ist ja nicht Rätsel-Wettbewerb zu eröffnen, sondern möglichst viele Leser zu erreichen.

Flora,
"Der Wind schweigt dazu" ist für mich keine Alternative.
Ein schweigender Wind ist ja nichts anderes als Windstille. Warum sollte ich in der letzten Zeile einen Wind einführen, der gar nicht da ist?
Ob die Dose ruht oder bewegt ist spielt physikalisch gesehen keine Rolle für die Pfeifbarkeit. Vermutlich wird das Pfeifen des Windes vom Scheppern übertönt, aber natürlich kann es gleichzeitig stattfinden. Es kann aber auch nacheinander oder abwechselnd scheppern und pfeifen, so wie die Worte ja auch nacheinander gelesen werden.

Nifl,
Im Kontext der anderen Texte...
Wenn mehrere Texte vorgelegt werden, hat man fast immer seine Favoriten, ob man es nun begründen kann oder nicht. Mir ging es auch darum mit der Form zu spielen und die Haiku-Konventionen von objektiver Naturbetrachtung und Jahreszeitenwort in Frage zu stellen. Hier könnte man den Wind als Kigo lesen. Damit ist es im Grunde das konventionellste der 4 eingestellten Beispiele. Es belustigt mich direkt, dass ausgerechnet dieses am meisten zu Widerspruch und Diskussionen reizt.
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 04.01.2016, 20:33

Lieber Zaunkönig,

die dritte Zeile in ihrer Doppellesbarkeit (darauf pfeifen und drauf pfeifen) macht den Text für mich -- uninteressant. Ich finde das Ganze dadurch weder amüsant (denn was ist witzig daran, wenn der Wind auf das Rollen einer Dose pfeift außer dem Wortspiel an sich? Ich sehe keinen weiteren Bezug/Reiz) noch finde ich es als bloße Beschreibung reizvoll. Und, ja, ich wiederhole mich auch auf kritisierbare Art (meine ich ernst), ich habe kein Gefühl für Haikus, kenne mich mit ihnen nicht aus, aber "haikuesk" fühlt sich so ein dominantes Wortspiel in dieser Form nicht an. Siehst du das als spielerische Annäherung an diese Form? Und wo verläuft für dich da die Grenze?

Huch, wieviel Diskusion doch so ein kleiner Dreizeiler auslösen kann!


Genau das hat mir Lust gemacht, auch dazuzustoßen, hoffe, das kommt nicht doof rüber :-)

Liebe Grüße
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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nera
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Beitragvon nera » 04.01.2016, 20:45

für mich liegt das problem an dem "darauf" in der dritten zeile.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 04.01.2016, 20:55

Zaunkönig hat geschrieben:Ein schepperndes Ding
rollt den Bürgersteig entlang.
Der Wind pfeift darauf.

Ich habe es von Anfang so gelesen, dass der Wind durch sein Pfeifen die Dose, oder was immer da rollt, antreibt, nämlich den Bürgersteig entlang rollen lässt. Sprich, die letzte Zeile erklärt, wieso "ein schepperndes Ding" da entlang rollt. Ich finde das Haiku gelungen.

Saludos
Mucki

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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 05.01.2016, 01:08

Hallo ihr drei,

Wenn ein Text so polarisiert, kann er zumindest nicht grundverkehrt sein, und nein Kritik ist erstmal nicht doof, solange sie nicht in sich widersprüchlich ist. Aber im einzelnen:

Lisa: Ich bin ja einerseits Formalist. Das 5-7-5-Schema ist mir wichtig, auch wenn es dort andere Schreibschulen gibt.
Die Sinnabschnitte, die Einzelbilder, der Sprechfluss sollte auch mit den Zeilensprüngen zur Deckung kommen.
Inhaltlich ist das Haiku keineswegs auf Naturbeschreibung festgelegt auch wenn ein deutscher oder europäischer Leser mit dieser Erwartungshaltung herangeht. Metaphern sind nicht gerne gesehen. Wortspiele aber verwenden die Japaner viel exzessiver als es im Deutschen möglich wäre, weil sie viel mehr Homonyme haben. Doppeldeutigkeiten sind also durchaus dem Haiku gemäß. Ob nun dieses konkret so gelungen ist, nun da gehen die Meinungen nicht nur hier im Forum auseinander.

Mucki,
Ja der Wind ist ursächlich sowohl für das Rollen, wie für das Pfeifen. Und ich mag auch solche Rückbezüge, gerade auch in so kurzen Formen. Aber trifft wohl nicht jeden Lesers Nerv. Freut mich, dass es Dir gefällt.

nera: Was stört dich am darauf? Ist es der Klang oder passt es als Aussage nicht?
Das ganze Bild ist ja kein sehr Harmonisches, da wollte ich jetzt klanglich nicht meinen Rilke auspacken.
DARAUF! mit R wie "Rollen" und ein Pfeifendes F. - Ich denke, das geht.
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck


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