Schlaf ein

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 20.05.2006, 18:35

08/IV/2003

Schlaf ein



Krebsärzte tanzen den Hippokrates.
Ziiii-hapüüüü macht die Weichlagerungsautomatik.

Haut so geschrunden
und so gut
wie von liebevollen Krokodilen.

Vertrocknet und traurig
die Brust
die mich einst nährte.

Allmählich kein Aufbäumen mehr.
Schlaffes Sinken in Kissen.
Ergebenheit und so etwas wie Hingabe.

Ein Röcheln so unheimlich
wie versickernde Kreide
im Maul des Karpfens.

Amsel Meise Hummel
im Frühlingsrausch.
Die Sonne schon so warm.

Es ist so still.
So friedlich.
So gewiss.

Und nun schlaf ein,
liebste Mutter.

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 20.05.2006, 20:08

Hallo Thomas,

beeindruckend, wie Du die Stimmung am Sterbebett beschrieben hast. Einige Bilder sind einfach nur großartig: Ärzte, die den Hippokrates tanzen; eine Haut wie von liebevollen Krokodilen; das Geräusch der Matratze.

Die Sache mit dem Karpfen verstehe ich leider nicht. Ist das Anglerjargon?

Grüße

Paul Ost

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 20.05.2006, 20:30

Dankeschön, Paul.

Nein, zu den Leuten, die Piercing für Fische machen, gehöre ich nicht.

Es war dieses Bild des stummen, geöffneten Rachen dieses Tieres, was sich bei mir einstellte. Karpfen sehen immer so aus, als holten sie unter Wasser Luft, was immer ein wenig gespenstisch wirkt. Und dann noch die sinnbildliche Trockenheit und Stumpfheit von Kreide dazu, die das Atmen noch erschwerte.

Tom.

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leonie
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Beitragvon leonie » 20.05.2006, 21:41

Lieber Thomas,

das hat mich sehr berührt. Eine Liebeserklärung an die im Frühling sterbende Mutter. Mein Vater ist auch im Frühling gestorben, ich war bei ihm und kann mich sehr in diesen Worten wiederfinden. Es war so ein Kontrast zwischen dem beginnenden Leben draußen und dem zuende gehenden drinnen...

Deshalb: Danke.

leonie

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 21.05.2006, 03:11

Liebe Leonie,
das ist ebenso traurig wie schön, wenn das jemand nachempfinden kann.
Genauso, wie du es beschreibst, war es auch...
Es war schon seltsam, der Mutter die Augen zu schließen und dann hinaus in den Garten zu gehen und erstmal dieses Gedicht zu schreiben...

Aber es hat mir in dem Moment sehr geholfen...
schon wieder Betroffenheitslyrik...

Tom.

rockandrollhexe

Beitragvon rockandrollhexe » 21.05.2006, 07:36

Hallo Thomas,
als meine Mutter vor über 10 Jahren an dieser heimtückischen Krankheit gestorben ist, habe ich versucht mine Gefühle in Worte zu fassen. Mir ist es nicht gelungen. Vielleicht war ich einfach zu erschüttert um es zu können.
Danke für dein Gedicht
rockandrollhexe

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 21.05.2006, 11:57

Hallo r'n'r-hexe.

Schön, wenn Du Deine damaligen Gefühle darin wiederfinden kannst. Ich weiß auch nicht mehr genau, warum das Schreiben das Erste war, was ich nach dem Todeseintritt tat. Es war so ein erhabener Moment, und der Text ist in einem Rutsch aus mir rausgekommen. Zum Glück konnte meine Ma zuhause sterben, im Kreis ihrer Liebsten. Es ging über viele Wochen, und man konnte sich darauf einstellen (insofern man sowas überhaupt kann). Irgendwie war der Tod plötzlich da, aber ganz ohne Brimborium und Trauer, es war fast schon natürlich. Und ich war froh, als es soweit war, weil ich wusste, dass Mütterchen jetzt endlich keine Qualen mehr zu erleiden hatte.

Vielen Dank für deinen Kommentar,

Tom.

Herby

Beitragvon Herby » 21.05.2006, 12:11

Hallo Thomas,

bei manchen Texten fällt es mir schwer, etwas zu schreiben. Nicht deshalb, weil ich dem Text gegenüber indifferent wäre, sondern weil es mir schwer fällt, für das, was ich sagen möchte, die richtigen Worte zu finden.

Darum nur ganz kurz: in jeder Hinsicht beeindruckend und äußerst berührend und aufwühlend!

LG Herby

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 21.05.2006, 12:58

Danke Herby. Freut mich sehr.

Ich habe seinerzeit die Thematik 'Tod' nochmal ganz anders verarbeitet und meine (frischen) Eindrücke vom Prozess des Sterbens in einer Personifizierung niedergeschrieben. Siehe 'Prosalyrik' 'Der Tod hat Angst vor kleinen Hunden.

Tom.

ursula.stoehr

Beitragvon ursula.stoehr » 21.05.2006, 13:50

Lieber Thomas

Ich sitze einfach nur da...
Habe deinen Text immer und immer wieder gelesen...
Meine Mutter ist 94 und ich besuche sie täglich im Seniorenheim...
Sie ist fast blind und kann zu ihrem großen Leidwesen nicht mehr lesen.
Ich lese ihr oft vor. Ich bin unendlich dankbar, dass sie sonst gesund ist und sich in ihrer neuen Umgebung sehr wohl fühlt.
Ich hoffe einfach nur, dass es ihr vergönnt ist, einmal friedlich hinüberzuschlafen und ich würde gerne bei ihr sein, wenn es soweit sein muss.
Dein Gedicht stimmt mich auch deswegen so wehmütig, weil ich zwei liebe Freundinnen habe, die noch jung sind und Brustkrebs haben -keine Hoffnung ....
In solchen Momenten hilft Schreiben ...

Abschied

Die Fahrt geht zu Ende
ich halte deine schlaffe Hand
spüre die bläulichen Adern, die sie zieren.
Schmal, dein Gesicht auf steifem Laken.
Grauer Strahlenkranz dein schütteres Haar.
Langsames Leben unter der Tuchent.
Müder Blick zum Hergottswinkel.
Fahler Schein brennender Kerzen.

Stille, nichts als Stille. Grabesstille.

Draußen dämmert langsam der Morgen.
Mutter du bist gegangen.

Die Nacht wendet das Blatt.

Danke für diese berührenden Zeilen

Liebe Grüße
Ursula

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 21.05.2006, 14:11

Hallo Ursula, hab Dank für Deine lieben Zeilen.

Auch Dein Text trägt sehr schön (darf man 'schön' sagen in diesem Zusammenhang?) die Stimmung, ich hätte jedoch nach der 'Grabesstile' aufgehört.
Zumal ich nicht verstehe, warum Du 'Mutter, Du bist gegangen' schreibst, wo sie ja noch lebt?!

Liebe Grüße, Tom.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 21.05.2006, 17:24

Hallo Tom,

so etwas habe ich noch nicht erlebt, ich kann also nur Strohworte dazu beitragen.

Dennoch hat mich dein Gedicht berührt - nur so viel von mir.

Lisa

ursula.stoehr

Beitragvon ursula.stoehr » 22.05.2006, 16:55

Hallo Thomas

Danke für dein Feedback.
Du hast recht - Grabestille als Schluss klingt besser.

Ich habe den Text für eine gute Freundin geschrieben, deren Mutter letztes Jahr gestorben ist.

Aber ich weiß heute schon, es wird mir so ergehen wie dir ....
ein schmerzlicher Abschied

Liebe Grüße
Ursula

steyk

Beitragvon steyk » 23.05.2006, 12:04

Hallo Thomas,
dein Gedicht erweckt Erinnerungen.
Meine Mutter wurde vor vielen Jahren leider auch ein Opfer dieser heimtückischen Krankheit. Ähnlich deines eindringlichen Textes habe ich ihr Sterben miterlebt. Leider habe ich damals ( ich war 14) noch nicht geschrieben. Es hätte mir sicherlich geholfen, besser mit dieser Situation fertig zu werden.
Gruß
Stefan / steyk


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