nicht mehr

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Klara
Beiträge: 4508
Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 13.07.2014, 11:35

online
Zuletzt geändert von Klara am 04.01.2019, 11:04, insgesamt 1-mal geändert.

Benutzeravatar
Zakkinen
Administrator
Beiträge: 1768
Registriert: 17.07.2008
Geschlecht:

Beitragvon Zakkinen » 14.07.2014, 21:52

Liebe Klara,

ein etwas kryptisches Gedicht, oder hermetisch. Mangels Zeichensetzung bleibt viel Raum zum unterschiedlichen Zusammenhängen. Ich probier mal eine Bewusstseinsstrominterpretation.

Die erste Strophe klingt wie eine Beschreibung, ich sehe das LyrIch außerhalb der Stadt, vor der Brücke, etwas zögerlich vielleicht. Doch dann? Ist es "Welche ist die Straße ohne Frage?" oder "Welche ist die Straße? Ohne Frage ..." Ich bin ein wenig verwirrt.

Zweite Strophe. "Ein Herz [...] verkümmert zu mickriger Erinnerung." Herz-Metapher, schwierig, aber ich kauf sie. Der Einschub: "davor mauerdick, was einst Wald war." Eine dicke Bretterwand? Was will die Klammer? Wenn ich sie geschrieben hätte, wäre das wie eine Selbstaufforderung des Dichters: "schreib das genauer!" Eine zusätzliche Ebene. Haben wir nur ein mal, wird nicht ganz klar. Dann "das Gesicht schaut die eigene Antwort". Gesicht sicher nicht im Sinne von Antlitz, oder? Eher wie Vision oder das Sehen als solches? Sieht die eigene Antwort? Gibt sich die Antwort selbst? Oder sieht die Antwort, die das LyrIch schon in sich trägt?

Dritte Strophe. Wieder draußen vor der Stadt, im Grünen. Ist "darmitten" ein Wort? Ich verstehe es, aber ich stolper drüber. Auch hier wieder Lesung völlig unklar. "Zur Masse gewählt:" - die zertretenen Heuschrecken? Sicher beziehe ich falsch. "Freie Isolation" im Sinne von frei gewählt? Könnte passen. Also LyrIch hat sich ausgeschlossen. Die Hoffnung wird als dumm eingestuft, weil die Antwort vom Du schon vorausgesehen wird. Könnte passen.

Vierte Strophe. Ah, LyrIch träumt nur vor sich hin. Doch noch da, aber eine Phantasie vom Raus-Gehen. Oder vom Bleiben-Können und doch noch Hoffen.

Also von hinten betrachtet: LyrIch ist einsam und unglücklich in selbstgewählter Isolation, leidet unter derselben und wünscht sich trotzdem noch weiter weg, raus aus der Stadt. Ein Selbstopfer. Vielleicht auch Selbstmitleid? Vermutlich zu 75% daneben, weil ich nicht alle Bilder verstehe. Hermetisch halt, private Metaphern.

Liebe Grüße
Henkki

Benutzeravatar
Amanita
Beiträge: 5650
Registriert: 02.09.2010
Geschlecht:

Beitragvon Amanita » 15.07.2014, 08:55

Hallo Klara, die Stimmung finde ich gut eingefangen, allerdings sind mir einzelne Wendungen auch zu "kryptisch".


was einst Wald war (genauer!)

das klingt für mich wie eine Selbstermahnung, genauer zu sein (mit der Erinnerung). Aber warum? Genauer als "Wald"?
Auch verstehe ich hier die Zeit nicht:

verkümmert/ zu mickriger Erinnerung - IST da nicht schon was verkümmert? Und "mickrig" passt hier m. E. nicht zur Sprache des Gedichts, Beispiel: "schauen" in der folgenden Zeile. Man könnte es natürlich kontrapunktisch sehen, das gelingt mir hier aber nicht.

Die Strophe mit den Grashüpfern/ Heuschrecken verstehe ich nicht.

Und den Schluss braucht's für mich nicht:

und die Phantasie
hat noch lange nicht ausgespielt


wieder kontrapunktisch, aber (wie ich meine "unnötig" verwirrend). Denn hier "spielt" eigentlich nichts, und "Phantasie" klingt mir auch zu nett. Für mich wäre nach "Kanal" Schluss, denn das zeigt ja, dass die Erinnerungen, wie auch immer, wann auch immer, mit einiger Fantasie gefüttert wurden - und dass das immer Desillusion mit sich bringt.

Xanthippe
Beiträge: 1312
Registriert: 27.06.2008
Geschlecht:

Beitragvon Xanthippe » 15.07.2014, 12:27

Warum nur dieser Anspruch immer wieder, Gedicht zu "verstehen"? Sie festzuschreiben, ihnen eine Eindeutigkeit zu verleihen. Und gelingt das nicht, sind sie kryptisch, in sich verschlossen, privat und lassen den Leser nicht an sich heran.
Das ist so schade. Das bringt den Leser um so viel.
Dazu Gerhard Falkner, (einfach weil er immer wieder klar und deutlich ausdrückt, was ich nur diffus empfinde): "Das Berichtete stellt im Gedicht bloß die vier Wände, in denen die Poesie zuhaus ist.
Es ist daher auch völlig gleichgültig, ob man ein Gedicht (ganz) versteht, entscheidender ist, ob man davon einen Eindruck hat, denn der Eindruck ist die tiefste Anwendbarkeit, die das Gedicht besitzt, aber wer, und wie will man "erläutern", welchen Eindruck ein durchdringender Blick hinterläßt oder ein fremdes Zimmer oder ein explodierendes Fahrzeug." (aus: Über den Unwert des Gedichts).
Was ich damit sagen will; dieses Gedicht hat einen großen Eindruck bei mir hinterlassen, gerade weil ich es nicht vollkommen verstehe, statt dessen bringt es Dinge zum Fließen, nicht zuletzt die Fantasie.
Xanthi

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 15.07.2014, 12:41

"die Antwort
bist du"

Eben habe ich das Gedicht nochmals gelesen und stelle fest: Xanthippe hat Recht!

Benutzeravatar
Amanita
Beiträge: 5650
Registriert: 02.09.2010
Geschlecht:

Beitragvon Amanita » 15.07.2014, 13:11

'tschuldigung. Vielleicht ist "Verstehen" ja der falsche Begriff. Ich möchte allerdings nicht mit Fragen zurück gelassen werden - oder mich jedenfalls so fühlen -, die mich von einem Text abrücken, anstatt mich mit ihm oder ihn mit mir zu verbinden.

Du hast natürlich recht, man muss nicht alles verstehen. Vor allem nicht "richtig" verstehen. Ich will aber ahnen können. Und je hermetischer ein Text ist - Zakkinen spricht von "privaten Metaphern" -, desto weniger kann ich das. Den Anspruch habe ich natürlich nicht.

Benutzeravatar
Zakkinen
Administrator
Beiträge: 1768
Registriert: 17.07.2008
Geschlecht:

Beitragvon Zakkinen » 15.07.2014, 13:15

Liebe Xanthippe,

ich versuche gar nicht, das Gedicht zu "verstehen". Oder bestenfalls für mich zu verstehen. Wenn mein Versuch, meine Lesart zu beschreiben, so rüberkommt, tut mir das leid. Fände ich es uninteressant, würde ich kein Wort dazu verlieren. Also: es interessiert mich, ich lese und spüre es gern. Aber dann entzieht es sich mir wieder, ein Stück weiter, als mir gefällt (ganz subjektiv). Und daher habe ich mich ein wenig mehr damit beschäftigt und versucht, zu skizzieren, was mir ein- und auffällt. Nicht "was will die Dichterin" sagen, sondern "was kommt bei mir an". Und das finde ich, ist ein valider Ansatz. Kein Anspruch auf Eindeutigkeit und Ewigkeit. Und auch Falkner würde wohl eingestehen, dass er den Blick als Blick erkennt, das Zimmer als Zimmer und das explodierende Auto als Auto.

Sonst könnte man sich eine Diskussion über Texte doch auch schenken, oder nicht?

Viele Grüße
Henkki

Xanthippe
Beiträge: 1312
Registriert: 27.06.2008
Geschlecht:

Beitragvon Xanthippe » 16.07.2014, 12:28

Hallo Henkki,
Der Blick, das Zimmer und das Auto, das sind die Wände, nicht der Raum dazwischen. So viel noch einmal zu Falkner. Im übrigen ist das genau der Ansatz, den ich suche, bevorzuge und absolut angemessen finde, dieses "was kommt bei mir an". Darum sollte es gehen, aber wenn ich Deinen letzten Satz aus dem Kommentar zu Klaras Gedicht lese, "Vermutlich zu 75% daneben, weil ich nicht alle Bilder verstehe. Hermetisch halt, private Metaphern.", dann liest sich das eben doch, wie "versteh ich nicht, jedenfalls nicht richtig. Da fehlt mir einfach der Mut zu sagen: das ist, was bei mir ankommt, und da steh ich vor einer Mauer und dann dem Dichter zu überlassen, was er mit dieser Aussage anfängt. Denn wenn es um richtig oder falsch geht, kann man sich eine Diskussion über Texte wirklich schenken. Um nicht missverstanden zu werden, ich will dich damit nicht angreifen, nur erklären wo meine Irritation lag, und die lag eben in dem zitierten Satz, die Aussage Deiner Antwort dass Dir nicht gefällt wie sich das Gedicht Dir subjektiv weiter entzieht als es Dir gefällt, ist eine Aussage mit der ich viel mehr anfangen kann. Danke für Deine Erläuterung. Xanthi

Xanthippe
Beiträge: 1312
Registriert: 27.06.2008
Geschlecht:

Beitragvon Xanthippe » 16.07.2014, 12:32

Hallo Amanita, im Grunde sagst Du ja dasselbe wie Henkki, so dass meine Antwort also auch an Dich gerichtet ist, gerade ist mir noch eingefallen, dass diese Diskussion doch sehr gut zu Klaras Gedicht passt, zum Heimataspekt der Sprache zum Beispiel, wo verläuft da die Grenze zwischen sich noch zurechtfinden (ahnen, wie Du es nennst) und sich ausgeschlossen fühlen?

Benutzeravatar
Zakkinen
Administrator
Beiträge: 1768
Registriert: 17.07.2008
Geschlecht:

Beitragvon Zakkinen » 16.07.2014, 15:44

Hallo Xanthi,

Du hast Recht, die Bewertung in Prozent einer Trefferquote passt nicht unbedingt. Ich gebe zu, dass ich gerade dann, wenn sich mir ein Text entzieht, noch eher versuche, zu "verstehen". Aber eigentlich ist das Verstehen im Sinne von "genau dasselbe wie die Autorin" nicht mein Ansatz. Es gibt auch ein nicht-analytisches, intuitives Verstehen. Die Bilder müssen keine richtige Bedeutung haben, auch keine falsche. Aber eine Verbindung, eine Wirkung über "hä?" hinaus ist mir als Empfänger wichtig. Das ist nicht objektiv. Es kann durchaus sein, dass ein Bild für einen anderen Empfänger funktioniert. Auf keinen Fall kann man daraus ableiten, dass Gedichte für alle gleich "verständlich" sein müssen.

Das ist übrigens eher eine allgemeine Betrachtung, kein Kommentar zu Klaras Werk ;)

Liebe Grüße
Henkki

Klara
Beiträge: 4508
Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 16.07.2014, 16:39

Hallo,

sehr, sehr freue ich mich über eure Rückmeldungen und die 'fleißige' Diskussion um 'Verständnis', 'hermetisch', 'Privatmetaphern' (interessanter Begriff!), muss aber noch (vor allem mich selbst) ein wenig gedulden mit dem Antworten, weil ich - nee, 'Zeit' ist auch so eine Privatmetapher, also: Ich melde mich bald im Einzelnen zu euren Kommentaren!

herzlich
klara

Xanthippe
Beiträge: 1312
Registriert: 27.06.2008
Geschlecht:

Beitragvon Xanthippe » 25.07.2014, 13:12

Nachdem die Diskussion nun jäh erstorben ist, etwas zu meiner Leseart dieses Gedichtes, das mich sehr anspricht, weil es so vielschichtig ist, wie manche Begriffe zu denen Heimat sicher zählt.

Das Gedicht spielt mit verschiedenen Dimensionen von Heimat, das ist einmal der Ort und woraus er besteht, ein Fluss, ein Brücke, die große Stadt, Straßen. Leitet dann "ohne Frage" über in das was Heimat auch ist, nämlich die Erinnerung, die ja nie Fakten wiedergibt, sondern Gefühle, Erlebtes, die Großartigkeit der Entdeckungen, die man als Kind machen konnte, die einem als Erwachsenem aber nur noch "verkümmert / zu mickriger Erinnerung" gegenübertreten.

Um dann bildhaft, aber konkret auf einen Einzelnen einzugehen, auf einen speziellen Lebensweg, der sich zwischen den Widersprüchen Zugehörigkeit und Isolation, von Frage und Antwort entfaltet. (wobei hier mein einziger Kritikpunkt, die einzige Stelle, die mir nicht vollkommen gefällt, zu erwähnen wäre, und zwar "Die Antwort bist du", was mir für dieses Gedicht zu platt erscheint, überflüssig auch.)

Um zum Schluss alle Ebenen noch einmal zu vermischen, die reale Stadt, aber auch die Fantasie, die noch lange nicht ausgespielt hat, um so unsere Begriffe von etwas Feststehendem zu fassen, gerade indem sie in Frage gestellt und verflüssigt (verspielt) werden.

Sehr sehr gelungen finde ich das, und habe mich gerne und mit Gewinn damit beschäftigt.

Xanthi

Benutzeravatar
Eule
Beiträge: 2055
Registriert: 16.04.2010

Beitragvon Eule » 27.07.2014, 10:50

Hallo Klara,

den Titel finde ich sehr ansprechend, auch der Text zeigt vieles von der Vielschichtigkeit des Begriffes. Einige der gängigen Vorstellungen dazu leuchten auf, der Kanal, reguliert und mit ziemlich allen Flüssigkeiten gefüllt, klingt dann aber schon etwas resigniert.
Ein Klang zum Sprachspiel.


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 52 Gäste