Lamento fluviale

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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fenestra
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Beitragvon fenestra » 04.09.2013, 19:44

Ein älterer Text, zur Diskussion über Flussgedichte und die Schmerzen der Gewässer in Ritas "Wilde Oder II)


Lamento fluviale


Ein schwarzer Rahmendurchlass setzt den Schmerz ins Bild
mein Leben fließt in eingedeichten Venen
auf allen Bermen hämmern die Migränen
den Takt zum Lied, das aus dem Drosselbauwerk quillt.

Mein Eifer schwingt genau berechnet hin und her
er kennt die Freiheit nur von Kurvenlinealen
die Seelenmahd verursacht immer wieder Qualen
doch eine Vorflut führt das täglich Salz zum Meer.

Den steilen Zeitplan untergräbt ein Bisam
und wirft fünf Junge, frisst sich bei mir durch
vergebens hoff ich auf Libellen oder einen Lurch
doch sei es drum, der Bisam lebt und ist genügsam.

Kein Weidenbaum, der mir noch freundlich zugeneigt
und mich in Wurzelarmen wiegt im kühlen Schatten
In praller Sonne brüt ich über Sorgenwatten
bis mir die Galle stinkend übers Ufer steigt.

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nera
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Beitragvon nera » 04.09.2013, 20:48

ich schwanke. einerseits gefallen mir die bilder sehr, andererseits erschlagen sie mich fast. ich befürchte (;)) hier muss ich noch oft lesen!

lg

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 04.09.2013, 21:11

Bisam auf genügsam reimt sich auch nicht wirklich, mir fällt aber kein besserer Reim ein ...
Man muss schon sehr aufmerksam lesen, da geht es mir wie Nera, aber ich mag das Gedicht, das gleichmäßig schwingende Schema hat in diesem Fall etwas Eingesperrtes, künstlich Gleichmäßiges, was zum Thema passt.

Liebe Grüße
Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
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(Ikkyu Sojun)

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 05.09.2013, 12:29

Liebe nera,

die erschlagene Wirkung kommt vielleicht von den wasserbaulichen Fremdworten. Die sind ja den meisten Lesern nicht so geläufig. Aber in diesem Text zeigen sie auch die Künstlichkeit, die der Natur übergestülpt wurde. Danke fürs (oft) lesen!

Liebe Zefi,

das gleichmäßig schwingende Schema hat in diesem Fall etwas Eingesperrtes, künstlich Gleichmäßiges, was zum Thema passt.


danke für die Beobachtung, genau so war es gedacht! Ich persönlich habe mit Bisam - genügsam eigentlich kein Problem. Reimt halt nur auf der letzen Silbe (allerdings beides mit dem gleichen Konsonanten). Gibt sicher besseres, aber es müsste dann auch zum Inhalt passen.

Viele Grüße
fenestra

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 05.09.2013, 12:33

Ja, ich habe es gedanklich mit einem Biber probiert, hatte dazu aber auch keine zündende Idee.
Und wahrscheinlich ist ein Biber am Fluss auch gar nicht erwünscht, weil er seinerseits den Flusslauf umgestalten würde.

Sonnige Grüße!
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fenestra
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Beitragvon fenestra » 05.09.2013, 12:50

Der Biber braucht vor allem Bäume am Ufer und die hat so ein öder begradigter Fluss nicht mehr. Der Bisam ist das einzige größere Säugetier, das es dort noch aushält und dafür mag ich ihn!

Rita

Beitragvon Rita » 06.09.2013, 11:44

fenestra hat geschrieben:Ein älterer Text, zur Diskussion über Flussgedichte und die Schmerzen der Gewässer in Ritas "Wilde Oder II)


Lamento fluviale


Ein schwarzer Rahmendurchlass setzt den Schmerz ins Bild
mein Leben fließt in eingedeichten Venen
auf allen Bermen hämmern die Migränen
den Takt zum Lied, das aus dem Drosselbauwerk quillt.

Mein Eifer schwingt genau berechnet hin und her
er kennt die Freiheit nur von Kurvenlinealen
die Seelenmahd verursacht immer wieder Qualen
doch eine Vorflut führt das täglich Salz zum Meer.

Den steilen Zeitplan untergräbt ein Bisam
und wirft fünf Junge, frisst sich bei mir durch
vergebens hoff ich auf Libellen oder einen Lurch
doch sei es drum, der Bisam lebt und ist genügsam.

Kein Weidenbaum, der mir noch freundlich zugeneigt
und mich in Wurzelarmen wiegt im kühlen Schatten
In praller Sonne brüt ich über Sorgenwatten
bis mir die Galle stinkend übers Ufer steigt.



Hallo Fenestra,

ein Reimgedicht, zum Thema Fluss als "Gegengedicht" zu meiner Lira? Allerdings handelt es sich um gänzlich unterschiedliche Sichten auf das Thema Fluss - meine Oder geriet in einem Sturm außer sich, während dein Gedicht eher Allgemeines über den Fluss an sich behandelt. Insofern halte ich beide Gedichte nicht wirklich für vergleichbar, falls das von dir beabsichtigt gewesen sein sollte.

Aber zum Text: Mich stört der Fremdwort-Titel. In einem solchen Fall ist es immer angebracht, eine erklärende Fußnote anzubringen, sonst schränkt man den Leserkreis von vornherein zu sehr ein.

Strophe 1:
Rahmendurchlass? Ein technischer Begriff? Wer kennt ihn? Ich nicht. Also stolpere ich schon in der ersten Zeile. Außerdem wirkt das auf mich zumindest etwas "aufgemotzt". In Zeile 2 bist du plötzlich bei deinem Leben, du ziehst einen Vergleich zu einem Deich. Gut, kann man machen, aber das muss deutlicher kommen, nicht so abrupt, so funktioniert es meines Erachtens nach nicht ganz. Dann wieder ein "aufgemotztes" Wort: Bermen. Offensichtlich irgendein inneres Organ des Menschen. In der vierten Zeile ergibt sich für mich ein Bild: Dass Hämmern im Takt mit "den" Migränen (Plural, warum, aus Reimgründen?).

Strophe 2:
Hier beschäftigt sich das Ich mit sich selbst. Es gibt eine Assoziation zum gemähten Deich durch "Seelenmahd". "Vorflut" als technischer Begriff.

Strophe 3:
Hier geht es um eine Bisamratte. In welcher Beziehung sie zu dem ganzen bisherigen technischen Aufbau steht, erschließt sich mir nicht ganz. Dass ein Bisam genügsam ist, hältst du das für eine mitteilenswerte Information? Erwähnenswert wäre sie doch nur, wenn die Genügsamkeit in Beziehung zur Technik gesetzt sein würde. Aber darauf komme ich noch.

Strophe 4:
Hier wird das Technische beklagt, die Sehnsucht nach einem Weidenbaum beherrscht die Szene. Ein wenig komisch, denn wenn ich an einem technischen Wasserbauwerk mich aufhalte, erwarte ich, ehrlich gesagt, nicht allzuviel Natur - vielleicht nur dann, wenn ich nie ein solches Wasserbauwerk gesehen habe. Der Begriff "Sorgenwatten" ist zwar ungewöhnlich - aber in welcher Beziehung stehen Sorgen eigentlich zur Watte? Ein nicht ganz zutreffendes Bild für angeschäumten Flussmüll, Geifer wäre hier meines Erachtens zutreffender. Irritierend etwas das "mir" in der letzten Zeile, das dieses Bild zerstört insofern, als ich den Sinn nicht erkennen kann, denn schließlich hat ein menschliches Ich ja kein Ufer. Das Bild stimmt für mich als Bild nicht.

Wenn ich nach einer Prämisse suche, fällt es mir nicht ganz leicht, sie zu finden. Auf alle Fälle irgendwas mit Naturfeindlichkeit, der naiven Enttäuschung darüber, inmitten der Technik zum Beispiel keinen Weidenbaum oder einen Lurch vorzufinden. Die Bisamratte könnte, hättest du es geschrieben, ein Symbol dafür sein, dass sich das Leben unter ungünstigsten Bedingungen gegen menschliches "Zerstören" immer behauptet. Dazu hättest du aber die Bisamratte als Beweis für diese These behandeln müssen. Das wäre für mich eine Prämisse, die Sinn hat. So aber empfinde ich den Text als eine etwas starre Aufzählung, die noch nicht zu einem Schluss gelangt ist, auch wenn in der Schlusszeile die Galle über die Ufer steigt.

Mit meinem Text ist dieser überhaupt nicht vergleichbar oder etwa gleichzusetzen, es geht um völlig verschiedene Themen, auch wenn es sich in beiden Fällen um einen Fluss handelt. Wobei ich ja auch ein Normalstrophengedicht im fünfhebigen Jambus zum selben Thema geschrieben habe, das ich ja nur in eine Lira umgeschrieben habe. Dein Gedicht ist im sechshebigen Jambus geschrieben, vier Strophen à vier Verse, im Zeilenstil. Was ich in technischer Hinsicht vermisse, sind ein paar Stilfiguren, zum Beispiel ein Enjambement, eine Akkumulation, ein Asyndeton, eine Amplifikation o. ä., um den Text etwas zu beleben.

Danke, Fenestra, dass du den Text eingestellt hast. Nett, aber wie gesagt, nicht vergleichbar. Wobei ich immer der Ansicht bin, jeder sollte so schreiben, wie es aus seinem Innersten spricht.

Lieben Gruß, Rita

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 06.09.2013, 12:02

Irritierend etwas das "mir" in der letzten Zeile, das dieses Bild zerstört insofern, als ich den Sinn nicht erkennen kann, denn schließlich hat ein menschliches Ich ja kein Ufer.


Liebe Rita,
ich bin zwar nicht die Autorin, kann hier aber vielleicht aufklärend wirken: "Lamento fluviale" ist die Klage des Flusses, das Ich ist hier also kein menschliches; es ist der Fluss selbst, der die Klage erhebt. Unter dieser Voraussetzung ist das ganze Gedicht zu lesen.

Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
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(Ikkyu Sojun)

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 07.09.2013, 11:40

Hallo, Rita,

zum Inhaltlichen hat Zefi ja schon Hilfreiches gesagt, das einige deiner Einwände ausräumen müsste. Inhaltlich ist das Gedicht eigentlich vollkommen schlüssig, weil ich Begriffe aus der Wasserwirtschaft auf einen Fluss anwende. Fachbegriffe sind für mich ein dankbares Feld, weil sie die oft in gewohnten (und daher langweiligen) Bahnen sich bewegende Lyrik aufbrechen können. Das Wort "Rahmendurchlass" ist doch recht anschaulich, was findest du daran aufgemotzt? Die Sprache ist für mich vor allem ein faszinierendes Material, mit dem man gestalten kann und ich schöpfe gern alle Möglichkeiten - also auch weniger gebräuchliche Worte - aus. Man muss nicht immer jedes Wort verstehen, kann auch einfach den Klang intuitiv erfassen, wie du es z.B. bei den Bermen getan hast (das sind übrigens flach ausgezogene Grabenufer, sozusagen Terrassen, auf denen dann auch mal ein Frosch Platz nehmen könnte, wenn es denn noch einen gäbe).

Die Überschrift finde ich zumutbar. Lamento ist doch ziemlich gebräuchlich, man sagt auch "lamentieren". Fluvial ist wohl weniger geläufig, wird aber auch im Deutschen verwendet, z.B. eiszeitliche fluviale Sandablagerungen, und steht im Duden. Grundsätzlich hätte ich kein Problem damit, z.B. in einem Gedichtband auch Fußnoten mit Hintergrundwissen anzubringen. Raoul Schrott macht das z.B.. Hier im Forum finde ich das überflüssig, denn jeder kann nachfragen, wenn es ihn wirklich interessiert. Ich halte es nicht für eine Schwäche eines Textes, wenn er dem Leser auch mal was zumutet.

Warum ich das Gedicht eingestellt habe?

Erstens als Beispiel für ein Reimgedicht in einer zeitgenössischen Sprache.

Zweitens als Beispiel für die Übertragung von Gefühlen auf ein Gewässer. In deinem Oder-Gedicht beschreibst du den Fluss, als ob er stöhnt und Schmerzen hat, aber es gibt keinen Anhaltspunkt, warum er leiden könnte. Auch das lyrische Ich zeigt keinerlei Gründe von Leiden (das es auf den Fluss übertragen könnte). Also bleibt diese Übertragung hohl, eine bloße Floskel. Mein Fluss hier hätte allen Grund zur Klage, wenn er dann leiden könnte. Diesen Aspekt wollte ich verdeutlichen.

Und mit diesem Beispiel will ich selbstverständlich nicht erreichen, dass du oder irgendjemand anders nun ökologische Gedichte oder Gedichte mit Fachsprachen schreibt. Ganz im Gegenteil, das ist hier meine Sprache und ich möchte dich ermutigen, deine eigene Sprache zu entwickeln, anstatt Überkommenes nachzubilden. Das Beispiel soll lediglich die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten illustrieren.

Was ich in technischer Hinsicht vermisse, sind ein paar Stilfiguren, zum Beispiel ein Enjambement, eine Akkumulation, ein Asyndeton, eine Amplifikation o. ä., um den Text etwas zu beleben.


Da gebe ich dir Recht und das ist wahrscheinlich auch einer der Gründe, warum ich das Gedicht nicht mehr so gern vortrage. Andererseits: Würde ich hier auch noch mit Verschachtelungen und anderen Finessen arbeiten, wäre der Text vielleicht noch schwerer lesbar - da ja jetzt offenbar schon die Fachausdrücke eine gewissen Hürde darstellen.

Viele Grüße
fenestra

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nera
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Beitragvon nera » 07.09.2013, 12:04

hi fenestra
für mich sind nicht die fremdwörter das "erschlagende", die google ich oder lese sie nach und ich finde es immer spannend, wenn ich etwas neues lerne und das neue sprachliche ebenen/ möglichkeiten erschließt. ich glaube, es ist eher die melodie, der rhytmus. das hat was von bedrohung und ja, migräne und trägt den inhalt sehr gut.

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 07.09.2013, 12:18

finde es immer spannend, wenn ich etwas neues lerne und das neue sprachliche ebenen/ möglichkeiten erschließt


Hallo, nera, freut mich, dass du das so siehst! Jetzt verstehe ich, was du mit "erschlagend" meinst - wahrscheinlich ungefähr dasselbe, was ich empfinde, wenn ich solche Gewässer sehen muss.

Viele Grüße
fenestra

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nera
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Beitragvon nera » 07.09.2013, 12:23

ja! :)
ich weiß auch nicht, ob allerlei "finessen" passen würden. vielleicht wären das nur schnörkel, die die eindrinlichkeit der aussage verwässern würden. mäander, die so ein fluss ja nicht mehr haben darf.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 07.09.2013, 16:42

Hi fenestra,

den Titel mag ich sehr. Er hat eine wunderschöne Melodie. Ok, ich hab's hier vllt. etwas leichter (Latein und Spanisch), aber man kann sich die Übersetzung hier wirklich herleiten.
Und zum anderen mag ich deine Texte gerade, weil ich wie ein Spürhund auf die Fährte gehen muss (und dies tu ich gern), um viele Begriffe aus der Biologie zu lernen. Ich erinnere mich noch lebhaft an dein Kräutergedicht, in dem ich fast alle Kräuter fand! :mrgreen:
Und nera trifft es gut, finde ich, wenn sie schreibt:
nera hat geschrieben:vielleicht wären das nur schnörkel, die die eindrinlichkeit der aussage verwässern würden. mäander, die so ein fluss ja nicht mehr haben darf.

Liebe Grüße
Gabi

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 08.09.2013, 11:19

Liebe nera,

du hast Recht, die Mäander wären einem Gedicht über einen naturnahen Fluss vorbehalten.

Liebe Gabi,

danke fürs Nachspüren! Geht mir übrigens genauso, ich mag auch Texte, die mich etwas herausfordern.

Liebe Rita,

zwei Begriffe vergaß ich noch zu erläutern:

Seelenmahd - analog zu Sohlenmahd (eine Entschlammung der Flusssohle, mitsamt allem Getier, was dort im Schlamm lebt)

Sorgenwatten - analog zu Algenwatten (entstehen, wenn der Fluss "umkippt", weil ihm zuviel Nähr- oder Schadstoffe zugeführt werden)

Wie gesagt, auch wer das nicht weiß, kann die Begriffe natürlich intuitiv für sich deuten.

Viele Grüße
fenestra


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