Unheil

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 14.05.2006, 14:42

thomas milser
21/IX/2003


unheil


hinter meiner friedhofsmauer
bestatte ich tränen des glücks

den letzten keim der liebe
einbalsamiert mit kostbaren ölen
und aufbewahrt im eisernen sarkophag
meiner seele

stoisches warten auf das ende der dürre
einer hämischen sonne

die alten frauen beweinen längst
das verdorren der ernte
auf den feldern unserer kulturen

schweigen patrouilliert
in menschenleeren straßen
und überprüft ein letztes mal den festen sitz
der fensterläden unserer sorglosigkeit

es ist, als stünde großes unheil vor den toren der stadt

es ist so furchtbar still

ich habe angst
Zuletzt geändert von Thomas Milser am 22.09.2006, 17:22, insgesamt 2-mal geändert.

Last

Beitragvon Last » 15.05.2006, 10:43

Hallo Thomas,

du beschreibst so etwas, wie einen gefühlten Untergang. Dieses gefühl wird durch drei Faktoren hervor gerufen, der Beerdigung der (eigenen) Liebe, dem Verdorren der Kultur und der verschlossenen Sorglosigkeit (aller). Die Stimmung ist gedrückt (Stille), ganz als ob etwas Schlimmes bevor steht, was dem lyr. Ich Angst macht. Es scheint aber eher diese STille und Reserviertheit der Menschen Auslöser dieser Angst zu sein, als das vermeintlich Kommende.

Ich persönlich mag es nicht, wenn man ausschließlich klein schreibt und auf Zeichensetzung (fast) gänzlich verzichtet, aber hier hat das durchaus seine Begründung.

die alte(n) frauen beweinen längst
Hier ist dir entweder ein "N" verloren gegangen, oder die Zeile bezieht sich noch auf die Sonne, was aber einen merkwürdigen Klang hätte und weniger passend wär.

Dein Gedicht ist im expressionistischem Stil gehalten (oder?) und meines Erachtens auch ganz gut gelungen, ohne mich vom Hocker zu hauen.
Es ist schlüssig geschrieben ohne unnötiges Brimborium, der Stil ist gut. Es sind vielleicht ein oder zwei Adjektive mehr drin als notwendig (muss der Sarkophag unbedingt eisern sein?), aber das stört kaum.
Die Bilder sind eingängig, ich empfinde sie aber nicht als wirklich tief, entweder hätte man aus der Thematik noch mehr herausholen können oder ich blockiere mich und verpasse daher genau dieses Mehr.

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 15.05.2006, 11:57

Hi Last. Vielen Dank für Deine umfangreiche Analyse. Das 'n' ist tatsächlich verlorengegangen. Habs aber wiedergefunden. Ist doch erstaunlich, dass man trotz zigfachem Lesen manche Tipper einfach übersieht, und ich bin immer dankbar für Hinweise dieser Art.

Deine Interpretation, woher diese Angst rührt, ist absolut treffend. Du hast wirklich eine sehr gute Auffassungsgabe. Das freut mich echt, dass das jemand herausliest.
Das leidige Thema der Kleinschreibung/fehlender Interpunktion ist wahrscheinlich so an die tausendmal durchgesprochen worden. Ich wechsle die Gro-/Kleinschreibung (natürlich nur innerhalb der Lyrik, bei Prosa geht das nur in echten Ausnahmefällen) nach Gutdünken, es muss halt in der Stimmung und im Bild bleiben. Zeichensetzung in der Strophen- bzw. Versform übergehe ich aber regelmäßig, da die Sprech- und Denkpausen immer an die Zeile angelehnt sind und sich somit von selbst ergeben.
Mit den Adjektiven hast du nicht ganz unrecht, aber manchmal ist das Leid so tief, dass man geneigt ist, immer noch eins draufzulegen... hierbei das 'rechte' Maß zu finden, ist glaube ich sehr stimmungsabhängig und veränderlich. Und aus der damaligen Stimmung heraus m.E. auch gerechtfertigt. Eisen ist kälter als Holz.

Thnx, Tom.
Zuletzt geändert von Thomas Milser am 15.05.2006, 12:59, insgesamt 2-mal geändert.

Herby

Beitragvon Herby » 15.05.2006, 12:41

Hi Thomas,

mich hat dein Text mit der Atmosphäre heraufziehenden Unheils beeindruckt! Der Aufbau, die düsteren Bilder ... sehr gelungen!

Kompliment!

LG Herby

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 20.05.2006, 18:41

Man dankt, Herby.... Und ist erfreut...
Tom

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 22.09.2006, 17:20

Hab heute so ne schöne Weltuntergangsstimmung, da wollte ich das hier nochmal nach vorne holen. Für alle Spätheimkehrer :o)))))

Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Niko

Beitragvon Niko » 24.09.2006, 00:04

hallo tom!
ein sehr faszinierender text, der bewegt. da sind viele gute, weil interessante stellen drin, ein paar sachen hab ich gefunden, die ich hier mal ablasse.

unheil


hinter meiner friedhofsmauer
bestatte ich tränen des glücks


ich frage mich ob "des glücks" wirklich wichtig ist? erfährt der leser nicht ohnehin, worum es geht? animiert das weglassen nicht dazu, nochmal zu lesen? ich gebe zu: ich bin ein freund der knappen lyrik. reduzieren wo geht. ist nicht jedermann sache. und es ist ja eh alles subjektiv... :smile:

den letzten keim der liebe
einbalsamiert mit kostbaren ölen
und aufbewahrt im eisernen sarkophag
meiner seele


liebe hingegen finde ich schon wichtig zu erwähnen. sollte also bleiben. "meiner seele" wäre mir auch entbehrlich. der "eiserne sarkophag" ist ein starkes bild, der die seele überflüssig macht. ich denke, der leser versteht schon....

stoisches warten auf das ende der dürre
einer hämischen sonne


versteh ich das richtig? warten auf das ende der sonne? oder wäre "unter hämischer sonne" nicht passender? wie auch immer: ich finde das bild so nicht in sich rund.

schweigen patrouilliert
in menschenleeren straßen
und überprüft ein letztes mal den festen sitz
der fensterläden unserer sorglosigkeit


verkaufe ein "i" und mach "patroulliert" daraus :daumen:

es ist, als stünde großes unheil vor den toren der stadt

es ist so furchtbar still

ich habe angst


das erste "es ist" finde ich auch überflüssig. auch, weil die zeile darunter mit "es ist" beginnt.
was ich gut fände ist eine wiederholung der letzten zeile. das fände ich sehr eindringlich. also das letzt zitierte dann so:

als stünde großes unheil vor den toren der stadt

es ist so furchtbar still
ich habe angst

ich habe angst


lieben gruß: Niko

Bloodbrother

Beitragvon Bloodbrother » 24.09.2006, 10:12

Hallo Tom,
du hast uns mit beeindruckenden Zeilen
an deiner Weltuntergangsstimmung teilhaben
lassen. Hat mir sehr gefallen.

LG Michael

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 25.09.2006, 09:32

Hi Niko.

Besten Dank für deine Mühe. Ich habe zwar nichts gegen Verdichtung im Allgemeinen, aber hier wurde mir der Rotstift doch ein bisschen arg angesetzt.


ich frage mich ob "des glücks" wirklich wichtig ist? erfährt der leser nicht ohnehin, worum es geht? animiert das weglassen nicht dazu, nochmal zu lesen?

Wenn ich Glück wegließe, könnte es auch Trauertränen sein, was den Sachverhalt komplett umdrehen würde. Nein.

versteh ich das richtig? warten auf das ende der sonne? oder wäre "unter hämischer sonne" nicht passender? wie auch immer: ich finde das bild so nicht in sich rund.

Nein, verstehst du falsch. Von der Sonne kann ne Menge ausgehen (auch Eiseskälte, je nach Landstrich und Jahreszeit), und hier ist es die Dürre.

verkaufe ein "i" und mach "patroulliert" daraus

Warum sollte ich das tun? Wenn ich ein 'i' verkaufe, habe ich eins zuwenig und müsste das Wort falsch schreiben. (Vgl. Duden, bevor du "korrigierst", bitte)

Und dein letzter Änderungsvorschlag für das Ende gefällt mir auch überhaupt nicht.

ich gebe zu: ich bin ein freund der knappen lyrik. reduzieren wo geht. ist nicht jedermann sache. und es ist ja eh alles subjektiv..

Bin ich auch im Prinzip. Nur hier darf es für mich etwas mehr sein. Hätte es vielleicht unter 'Erzählgedichte' besser gepasst? Mag sein.
Trozdem danke für die Mühe.

@Bloodbrother: Einfach nur danke! Der Text war seinerzeit sehr wichtig für mich und ziemlich dramatisch/überzeichnet empfunden und niedergelegt. Das alte Lied vom Trennungsschmerz.

Tom.
Zuletzt geändert von Thomas Milser am 25.09.2006, 14:01, insgesamt 1-mal geändert.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Niko

Beitragvon Niko » 25.09.2006, 12:58

Warum sollte ich das tun? Wenn ich ein 'i' verkaufe, habe ich eins zuwenig und müsste das Wort falsch schreiben. (Vgl. Duden, bevor du "korrigierst", bitte)

ich bitte untertänigst um vergebung, tom. bei der suche nach "Patroullie" stieß ich bei google auf über mehr als 1600 einträge. daher erschien es mir richtig.
unterstelle mir bitte nicht, ich würde ins blaue korrigieren. das mag ich nicht. eine fehlinfo meinerseits. aus bestem wissen und gewissen. so what?
lieben gruß: Niko

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 25.09.2006, 14:00

Hi Niko, nix für ungut.

Ich mags halt als Autor nicht, wenn ohne hinreichende Recherche vermeindliche Fehler angeprangert werden; so hat jeder seins, net wor? :o)))

Bei ebay werde ich auch eher fündig, wenn ich 'Spannbettuch' eingebe, aber 'Spannbetttuch' suche, oder 'Bakalit', wenn ich 'Bakelit' suche....

Aber zum Glück gibts ja verbindlichere Nachschlagewerke als google und dgl., die ich übrigens vor Veröffentlichung eines jeden Textes konsultiere (dann habe ich auch ein gutes Gewissen). Im Gegensatz zur Rechtschreibprüfung des Textprogramms, weil dabei auch allerlustigste Stilblüten erwachsen können. Die verwende ich nie. Der Wortschatz ist mir auch zu klein, und wenn man dann noch die Neologismen hinzurechnet, müsste ich dem Programm mehr erklären als selbiges mir.

Gegen reine Tippfehler ist man natürlich nie gefeit; die entdeckt man manchmal erst nach Jahren oder gar nie, wenn keiner mit dem (gut recherchierten) Zaunpfahl winkt.

Vergebung gewährt, auch ohne untertänigst
:o))))))))

Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Max

Beitragvon Max » 30.09.2006, 16:58

Lieber Tom,

das finde ich einen ganz spannenden Text, weil er sehr viele gute Bilder hat.

Du schreibst, dass es ein älterer Text ist und so weiß ich nicht, ob Du überhaupt noch etwas ändern magst. Ich könnte mich aber prinzipiell einigen von Nikos Vorschlägen zur Verknappung anschließen, insbesondere solchen, wo Du die Atmosphäre erklärst. Z.B.



hinter meiner friedhofsmauer
bestatte ich tränen des glücks



Hier würde ich das "des Glücks" nicht direkt weglassen, aber vielleicht ist Freudentränen ein bißchen weniger pathetisch ... (sorry, aber ich finde die tränen des glücks einfach ein bisserl dick aufgetragen).

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meiner seele


Mein Vorschlag wäre: weg mit der Seele ;-). "In einem eisernen Sarkophag" ist stark genug, das braucht die abstrakte Seele nicht.

stoisches warten auf das ende der dürre
einer hämischen sonne


Die "hämische Sonne" finde ich sehr stark wertend, aber Du scheinst sie zu mögen ...

schweigen patrouilliert
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und überprüft ein letztes mal den festen sitz
der fensterläden unserer sorglosigkeit


Die Sorglosigkeit würde ich fortlassen ... das gibt den Gedanken mehr Luft.

es ist so furchtbar still

ich habe angst



Hm, vielleicht würde die angst deutlicher, wenn das Gedicht bei "still" endete .. was denkst Du?

Liebe Grüße
max

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 30.09.2006, 18:07

Hi Max und nochma Niko,

ich sehe schon, wohin Ihr mit dem Text wollt, und es ist auch einsichtig. Aus rein lyrischer Sicht mit Sicherheit auch angebracht, wenn nicht sogar richtig. :o))))

Aber es wäre nicht mehr dasselbe.

Max hat es nämlich vorweggenommen:

Du schreibst, dass es ein älterer Text ist und so weiß ich nicht, ob Du überhaupt noch etwas ändern magst.

Stimmt. Ich wollte diesen Pathos hier, es sollte so dick aufgetragen sein, und noch eins, und noch eins. Jegliche Verdichtung führte hier vermutlich zu einer Ernüchterung, die ich im Moment der Niederkunft gar nicht empfinden wollte.

Trotzdem danke ich Euch für die Intensität der Betrachtung, und wie gesagt: Ihr habt Recht.
Aus Gründen der Dokumentation einer vergangenen Momentaufnahme möchte ich es aber nicht verändern, glaube ich. Drüber nachdenken werde ich. Versprochen.

Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Max

Beitragvon Max » 01.10.2006, 11:57

Hi Tom,

ich kann das verstehen. Ich habe hier schon mal einen 17 Jahre alten Text eingestellt (Louisa, wie alt warst Du da ;-) ) und natürlich käme es mir komisch vor, den wieder aufzunehmen.

Liebe Grüße
max


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