kreuztragung

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
RäuberKneißl

Beitragvon RäuberKneißl » 08.10.2012, 21:51

Kreuztragung

Sehen ist eine große Last.
Schön gezeichnete Räder. Der Wolke
dunkles Pochen am Horizont. Sogar
das Pferd, das doch vier Beine hat

bricht ein im Gras wie in Eis, dem Spiegel
den das harmlose Wasser macht,
jeden Strahl bricht und zurückwirft: hier
hast du ihn, nun sieh du zu!

Es geht nicht weiter.
Die klugen Pferde stehen, warten,
die Herren kreuzen ihre Lanzen.

Einst war ich schlau. Was hab ich alles
gepredigt im Tempel. Jetzt bin ich dumm,
und meine Füße sind nass.

Zu Piet Breughels 'Kreuztragung', 1564
Zuletzt geändert von RäuberKneißl am 10.10.2012, 20:18, insgesamt 1-mal geändert.

Sam

Beitragvon Sam » 09.10.2012, 18:39

Hallo Räuber,

dein Gedicht gefällt mir sehr gut, auch wenn ich es nicht wirklich verstehe. Womöglich beziehst du dich auf einen konkreten Gegenstand (ein Bild, eine Geschichte o.ä.). Den Hintergrund zu kennen wäre schön, ist aber nicht notwendig, um hier mit Genuss zu lesen. Nicht nur einmal, sonder immer wieder.

Gruß

Sam

Niko

Beitragvon Niko » 09.10.2012, 20:59

mir geht es ähnlich wie sam, david...

was mich in den bann zieht, ist die bildreiche sprache. auch das anscheinend zusammenhangfreie, das ich in zusammenhang bringen möchte. ich lese und lese, schwanke mit meinen interpretationen hin zu einem befinden-bericht eines lyrichs, das sich her zu der kreuzigung jesu zieht. der tempel wil das bestärken, der titel, das dunkle pochen der wolken, dasauf das überlieferte karfreitagswetter anspielt. ich denke also ein befinden, das lyrich in verhältnis mit der kreuzigung setzt. ganz abgerundet zufrieden macht mich das nicht. da sind dann doch zuviele unebenheiten, und unwuchten in meiner interpretation.
aber faszinierend ist das schon.

liebe grüße: niko

RäuberKneißl

Beitragvon RäuberKneißl » 09.10.2012, 21:54

Hallo Sam und Niko,

danke für die Rückmeldungen. Der Text korrespondiert, hoffe ich, etwas mit dem gleichnamigen Breughel-Bild, in dem die biblische Episode dargestellt ist, in der Jesus unter dem Kreuz nicht mehr weiter kann und Simon von Kyrene - bei Breughel sehr widerstrebend - hinzugeholt wird. Ich wollte aber nicht mit dem Text das Bild beschreiben, denke, dass er auch für sich stehen kann.

Grüße
Franz

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 10.10.2012, 01:06

Hallo Räuber,

ob dieser Text wirklich eigenständig wirken kann? Ich zweifle da. Liest sich natürlich nett, aber ganz am Ende ists eine Reise ins Nirgendwo, scheint mir. Und warum nicht mit Hinweis aufs Bild? Bildgedichte sind doch eine angesehene Gattung.

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

scarlett

Beitragvon scarlett » 10.10.2012, 10:15

hallo franz,

mir geht es mit dem gedicht so ähnlich wie sam und niko, ich verstehe nicht wirklich, worauf du hinaus willst.

klar, jetzt, mit deinen hinweisen, klappt das schon besser.

schwer empfinde ich bereits den einstieg mit den beiden abstrakta und dann folgt der genitiv, der sein übriges tut. nicht dass mir das nicht gefiele, aber es drückt ...

ferner stört mich das zweimalige "bricht" so dicht hintereinander, schon klar, auch hier, grundsätzlich, einbrechen - etw brechen - dennoch.

trotzdem, finde ich, hat das gedicht was, es ist im fluss, es hat schöne bilder, das pochen der wolke, das einbrechen in gras, das harmlose wasser ... dh immer dort, wo du sehr bildlich wirst, finde ich das gelungen.

lg
monika

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 10.10.2012, 12:30

Jetzt nach Franz' Verweis auf das Bild, muss ich an ein anderes Bild des gleichen Künstlers denken: den Sturz des Ikarus (der Link verweist auf eine Ansicht bei Wikimedia). Auch dort prallen Realität und Mythos aufeinander, in dem Sinn, dass das Mythologische, auf das der Titel Bezug nimmt, in einer Menge liebevoll dargestellter Kleinigkeiten des Alltags beinahe verschwindet.
Ich sehe dieses Aufeinanderprallen zweier Bildebenen auch in dem Gedicht. Das staunende Absuchen des Wimmelbildes mit den Augen könnte eine Art von Blindheit hervorrufen, in dem Sinn, dass das transzendente, mythologische Element nicht mehr gesehen wird oder jedenfalls nicht die Bedeutung erhält, die es traditionell in der Kunst haben "sollte".
Einen ähnlichen Effekt könnte man aus den letzten beiden Zeilen herauslesen.
Sehen kann in der Tat eine Last sein, aber ich sehe in solcher Art der Darstellung (gerade bei Breughel) auch einen sehr menschlichen, irdischen Humor.

Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

ecb

Beitragvon ecb » 10.10.2012, 15:27

Nach wiederholtem Lesen des Gedichts konnte ich mir keinerlei "Reim" darauf machen, vermutete etwas wie einen Kreuzritterroman als Hintergrund.
Nachdem nun andere und du selbst etwas dazu gesagt haben, fände ich es wirklich die Sache wert, einen Verweis auf Breughels Bild in den Titel aufzunehmen, Franz. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, daß das Gedicht so ohne Weiteres für sich selbst stehen kann.

Liebe Grüße
Eva

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 10.10.2012, 19:41

Wie ich schon an anderer Stelle schrieb, finde ich es interessant, AUCH Texte von anderen zu lesen, die mir unausgereift SCHEINEN.

Dein Gedicht zeigt mir, wie wichtig der Kontext ist.

RäuberKneißl hat geschrieben:Kreuztragung

Ich habe sehr wenig Kreuzigungsbilder angeschaut.

Bei genauerem Lesen, das merke ich sofort, setzt sich deine Sprache plötzlich durch und das unvorbereitete
Terrain beginnt fruchtbar zu werden.
Sehen ist eine große Last.
Schön gezeichnete Räder. Der Wolke
dunkles Pochen am Horizont. Sogar
das Pferd, das doch vier Beine hat


Man SIEHT die Last des SEHENS und die Augen des Menschen, des Pferdes scheinen uns anzusehen.#

bricht ein im Gras wie in Eis, dem Spiegel
den das harmlose Wasser macht,
jeden Strahl bricht und zurückwirft: hier
hast du ihn, nun sieh du zu!


ganz eindeutig: das Sehen dessen was unerträglich unerhört
abläuft. Folterung, Tod.

Es geht nicht weiter.
Die klugen Pferde stehen, warten,
die Herren kreuzen ihre Lanzen.

Einst war ich schlau. Was hab ich alles
gepredigt im Tempel. Jetzt bin ich dumm,
und meine Füße sind nass.



Diese Klugheit/Dummheit ist ebenfalls nach meinem Geschmack.

Trotzdem fehlt etwas. Du willst etwas sagen, du willst etwas vermitteln: es wird mir nicht deutlich obwohl das lästige Hinsehen offensichtlich vorrangige Bedeutung hat.

LG
Renée

RäuberKneißl

Beitragvon RäuberKneißl » 10.10.2012, 20:53

Hallo,

offenbar war der Impuls, den ursprünglichen Verweis auf das Bild wieder rauszunehmen falsch gewesen. Ich werkle an einigen Texte zu Breughel-Bildern (auch dem Sturz des Ikarus). Die Anmerkungen treffen einige Punkte, wegen denen das Gedicht hier steht - für den von Scarlett erwähnten Genitiv hatte ich Alternativen gesucht, und die auch von Ferdi angesprochene letzte Zeile (oder meinst du die ganze Strophe mit 'Ende'?) ist nicht eine Lösung, die mir rund schien.
Renèe: deine Anmerkungen geben mir zu denken; ich hatte gedacht, dass es für Leute mit mehr Lebenserfahrung schon nachvollziehbar ist, das Sehen selbst (von Dingen, die man nicht ändern kann) manchmal als Last zu empfinden. Das genannte Bild ist Kreuztragung (14 Bild im Kreuzweg), nicht Kreuzigung, es geht um die biblische Stelle, wo Jesus unter der Last des Kreuzes zusammenbricht, Breughel malt u.a., wie Simon von Kyrene gezwungen wird, für ihn das Kreuz zu tragen, also nicht mehr die Folter und noch nicht die Kreuzigung (dazwischen hat Breughel den Bach gemalt, an dessen Ufer die Szene stattfindet).

Also, nächstes Mal benenne ich ich im Zweifel den Kontext, danke nochmal für die Rückmeldungen.
Franz

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 10.10.2012, 22:27

lieber Franz,

manchmal schreibe ich sehr schlecht, d.h. die Schwierigkeit des Tippens und touchpad Kontrollierens steht mir derart im Wege, dass die Gedanken ebenfalls abhauen ... Das war wohl eben der Fall. Ich hatte in etwa verstanden was du erklärtest:


ht, dass es für Leute mit mehr Lebenserfahrung schon nachvollziehbar ist, das Sehen selbst (von Dingen, die man nicht ändern kann) manchmal als Last zu empfinden. Das genannte Bild ist Kreuztragung (14 Bild im Kreuzweg), nicht Kreuzigung, es geht um die biblische Stelle, wo Jesus unter der Last des Kreuzes zusammenbricht, Breughel malt u.a., wie Simon vo


das war mir in etwa klar. Nur hatte ich mich nicht klar bezüglich Kreuzgang und Kreuzigung ausgedrückt, obwohl mir der Sachverhalt bewusst war.


Das interssante an deinem Text ist die Frage der Last des Sehens. Last/Lust/Laster/Belastung ....Ballast ..Das Auge ist ein faszinierendes Organ, an sich und in der Kunst. Das Pferdeauge ist hier sehr sehr passend, man denkt natürlich auch an Bataille,
Entschuldige bitte meine gelegentlich verwirrten und verwirrenden Aussagen
gute Nacht
Renée

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 11.10.2012, 13:08

Hallo Franz,

der konkrete Bildbezug hat mir auch geholfen. Aber meine größte Verständnishürde ist geblieben und betrifft die letzte Strophe und die daraus resultierende Frage, wer hier das sprechende LIch sein soll. Jemand, der das Bild betrachtet, oder Jesus selbst, (was "predigen" und "Tempel" nahelegen würden, was aber dann vom Tonfall her schon fast an "Das Leben des Brian" erinnern würde, was du vermutlich nicht intendiert hast?), oder eine andere Figur im Bild? Findet ein Perspektivenwechsel statt? Findet eine Identifizierung statt, wenn ja, mit wem? Warum "schlau" und "dumm"? Und soll ich das irgendwie in Relation zur "Klugheit" (der Pferde) stellen?
Oder steh ich einfach völlig auf dem Schlauch, um keine nassen Füße zu bekommen? :o)

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 12.10.2012, 10:47

Wie ich oben schon schrieb, ist das Mythologische, das Legendäre, der "höhere Bildvorwurf" bei Breughel weitgehend hinter Alltäglichkeiten versteckt - man muss es mit den Augen suchen. Das "Wunder" versteckt sich hinter dem Profanen, und wenn das Wunder nicht mehr gesehen wird, ist es so, als hätte es nie stattgefunden - das Wasser trägt nicht mehr, die Füße werden nass. So verstehe ich die letzten Zeilen.

Der Sprecher, würde ich meinen, ist nicht Christus (Christus dürfte, gerade in bezug auf dieses Bild, andere Sorgen haben), sondern der Betrachter, der sich vielleicht einiges aus der Christuslegende "zu eigen gemacht" hat?

So würde ich die letzten Zeilen deuten ...

Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

RäuberKneißl

Beitragvon RäuberKneißl » 13.10.2012, 08:46

Hallo Flora und Zefira,

es fällt mir etwas schwer, das Gedicht jetzt so analytisch auszustaffieren... Gemeint war, das Schlaue, das Reflektieren, Beobachter sein, Argumente zurückwerfen wie eine spiegelnde Oberfläche, das kommt mal an sein Ende.

Der sokratische "schlau und dumm" liegt dem 'Brian'-Humor für mein Empfinden sehr fern, ich hoffte nicht, dass es irgendwie slapstick-haft oder humoristisch wirkt, oder doch? Die Perspektive hatte ich nicht wechseln wollen, Flora, es sollte dieselbe Innenperspektive sein von Anfang bis Ende. Vielleicht ist der Zoom auf die direkte Rede verwirrend?

Zefira, es ging mir nicht um eine Bildbeschreibung, sondern ein Thema, das ich in das Bild hineininterpretiert habe, in lose korrespondierender Form darzustellen - es ging ja auch Breughel nicht darum, darzustellen, dass das Kreuz sauschwer und kantig ist und Jesus wirklich nicht mehr tragen kann ...

Die Zeile 'einst war ich schlau. jetzt bin ich dumm' kommt, nur nebenbei, aus dem schönen Film 'Magnolia', das 'whiz kid' (er hat als Kind in den Quiz-Sendungen des Fernsehens abgeräumt) sagt sie im resignierten Rückblick auf seine früheren Künste.

Grüße
Franz


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