mit den skorpionen gehen

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Mucki
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Beitragvon Mucki » 14.06.2012, 20:25


Kurzversion

es ist an der zeit
den faden aufzunehmen
den die spinne mir schenkt
und wie der regen sich verliert im meer
mit den skorpionen zu gehen





Lange Version

mit den skorpionen gehen

heute bin ich schnecke, ganz und gar
murmele mich durch den tag
wie der regen sich verliert im meer
die gedankenhydra hält einen
tiefen schlaf ~ traumlos und tief ~

ja, ja, ich seh euch genau
ihr schwarzen skorpione
aus allen ritzen seid ihr gekrochen
das beben wird kommen
bald und sehr heftig, ich weiß
und die erde wird wanken
wie das meer ~ auf und ab ~

heute stehl ich mir die zeit
streune wie eine katze
bin tagedieb und frei ~ so frei von mir ~
lasse ameisen passieren
und die spinne leben

barfuß geh ich über flur und flor
ihr springt zu den seiten
so seid frei von angst ~ frei vor mir ~
ich töte euch nicht
bin ein wolf ohne krallen, ohne gier

heute ist es an der zeit
den faden aufzunehmen
den die spinne mir schenkt
regentropfen zu sein ~ einfach nur sein ~
im meer mich zu wiegen und
mit den skorpionen zu gehen

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 14.06.2012, 20:35

Die letzte Strophe finde ich am besten, Gabriella - sie hätte, meine ich, sogar allein Bestand!

Mucki
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Beitragvon Mucki » 14.06.2012, 20:43

Hallo Amanita,

findest du? In der letzten Strophe nehme ich ja Teile aus den vorherigen Strophen auf, die sozusagen als Hinführung dienen.
Danke für deine Rückmeldung. Das ging ja flott! ,-)

Liebe Grüße
Gabi

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leonie
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Beitragvon leonie » 15.06.2012, 12:29

Liebe Gabriella,

ich finde viele starke Bilder in dem Text, empfinde auch die letzte Strophe am stärksten.

Irritierend ist für mich, dass über das lyrIch so viele Aussagen gemacht werden: Schnecke, Katze, Tagedieb, Wolf, ich glaube, sie lenken etwas ab von dem Bild "mit den Skorpionen gehen".
Wäre es eine Möglichkeit für Dich, ein Bild konsequenter auszuspinnen auf die Aussage hin?

Liebe Grüße

leonie

Mucki
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Beitragvon Mucki » 15.06.2012, 12:50

Hallo leonie,

durch die in Schnecke - Katze - Wolf enthaltene Klimax, die ich hier intendierte, möchte ich ja gerade aufzeigen, wie sehr das LI friedlich in sich ruht und deshalb überhaupt in der Lage ist, mit den Skorpionen zu gehen und sie nicht zu töten. Die Skorpione bleiben die ganze Zeit präsent, doch LI "verwandelt" sich quasi immer mehr zum Freund der Skorpione. Und das war LI vorher überhaupt nicht. Im Gegenteil: es hat sie hastig zertreten, die Spinne kaputtgeschlagen, die Ameisen mit Spray vergiftet. Kommt das nicht rüber?

Übrigens:
ich kann das Gedicht nicht auf die letzte Strophe reduzieren, weil man dann nicht versteht, welche Bedeutung die Skorpione haben. Kurz vor einem großen Beben, kommen sie zu Hunderten wirklich aus allen Ritzen gekrochen, aus den Wänden, aus dem Boden, von überall. Sie gelten in Chile als Warnung, als Vorboten eines starken Erdbebens.

Liebe Grüße
Gabi

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birke
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Beitragvon birke » 15.06.2012, 13:17

Hallo Gabi,

ich mag dein Gedicht, durch und durch, von vorne bis hinten!
Und ja, ich sehe eine Entwicklung, die das LyrIch durchwandelt.
Gefällt mir sehr gut.

Liebe Grüße
Diana
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/

Mucki
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Beitragvon Mucki » 15.06.2012, 13:27

Hallo Diana,

das freut mich sehr! Vor allem, dass du die Entwicklung des LIs siehst. :-)

Liebe Grüße
Gabi

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 15.06.2012, 16:43

Hallo Gabriella,

mir geht es wohl ein bisschen wie Leonie. Ich glaube für mich ist es vor allem durch das wiederholte "heute" schwierig, eine Entwicklung zu sehen, da mir das eine Gleichzeitigkeit zu implizieren scheint?
Insgesamt ist es mir persönlich zu erklärend, benennend, was die Behauptung der ersten Strophe, dass die Gedankenhydra (ein Wort, das für mich aus der restlichen Sprache des Gedichtes herausfällt) schläft, einfach nicht umsetzt, oder sichtbar werden lässt. Ich kann auch die Entwicklung von Schnecke über Katze zu Wolf nicht ganz nachvollziehen im Kontext. Keiner von ihnen tötet doch Ameisen oder Spinnen? Warum nicht ein Tier, dass diese Thematik aufgreift und in Chile beheimatet ist, so dass man auch als Leser eine stärkere Verortung hat? Ein Waran oder Teju zum Beispiel ... der könnte dann statt murmeln, was ich auch schlecht mit einer stummen Schnecke, bzw. ihrer Bewegungsart zusammenbekomme (?), auch züngeln. Und so ist für mich einfach noch einiges unscharf, bzw. schief, zum Beispiel auch die Zeile "bin ein wolf ohne krallen". Ein Wolf braucht seine Zähne, die Krallen spielen außer als Spikes .-) doch keine große Rolle? Wenn für dich Katze und Wolf wichtige Entwicklungsschritte darstellen, würde ich die Zeitlinie klarer machen und ihre "Rolle", bzw. den Grund dieser Identifikation mit dem Tier klarer herausarbeiten. Auch deine Erklärung: "Die Skorpione bleiben die ganze Zeit präsent, doch LI "verwandelt" sich quasi immer mehr zum Freund der Skorpione." geht für mich nicht aus dem Text hervor, da ich Wölfe nicht mehr oder weniger als Freunde der Skorpione sehen würde, als Katze und Schnecke?

Fein finde ich den Titel und etwas Untergründiges, was mir aber noch zwischen den Zeilen "gefangen" scheint und für mich vermutlich durch Reduktion und eine klarere Linie, oder mehr Offenheit, und durch das Weglassen der Erklärungen freier wirken könnte und damit auch die Betonung des "freiseins", was mich schon sehr skeptisch werden lässt, überflüssig machen würde.

Das hier ist für mich die beste und rundeste Strophe, die für mich aber auch so stehen könnte, ohne "Anhang".
ja, ja, ich seh euch genau
ihr schwarzen skorpione
aus allen ritzen seid ihr gekrochen
das beben wird kommen


ihr springt zu den seiten
so seid frei von angst ~ frei vor mir ~

Hier habe ich eine Weile gebraucht, um den Bezug zu finden und dachte erst, ich werde plötzlich als Leser angesprochen. Wahrscheinlich auch, weil ich "springen" nicht mit Ameisen und Spinnen assoziiere.

In der letzten Strophe möchte ich immer lesen:
es ist an der zeit
ihren faden aufzunehmen
und wie der regen sich verliert im meer
mit den skorpionen zu gehen


Das gibt vielleicht stellvertretend auch ein ganz gutes Bild, in welche Richtung eine Reduktion für mich gehen könnte.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 15.06.2012, 17:04

Ich hatte mir schon gedacht, dass die Skorpione eine bestimmte Bedeutung haben, hatte auch vermutet, dass das mit dem Erdbeben "stimmt". Die Beziehung zu den anderen Tieren aber ist mir noch immer nicht klar (und verwirrt mich, ehrlich gesagt).
Und Flora hat recht, die Krallen vom Wolf sind nicht so maßgebend wie es hier scheint.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 15.06.2012, 17:33

Danke euch allen für eure Kommentare.
Aber ich muss gestehen, dass sie mich auch ziemlich ratlos machen.
Ich habe dieses Gedicht mit einer bestimmten Idee dahinter "durchkomponiert". Und diese Idee versteht niemand. *heul*
Es macht für mich auch keinen Sinn, jetzt aufzudröseln, wann etwas metaphorisch gemeint ist und wann konkret.

Ich lasse es erst mal bleiben, das Dichten, und kommentiere lieber.

Frustrierte Grüße :sad:
Gabi

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 15.06.2012, 18:04

Ach, Gabriella, "niemand" stimmt doch nicht, Diana-birke hats durchaus verstanden. Und ein Lob von leonie ist doch auch nicht "ohne"!!!

Mir - mir - würde es thematisch vermutlich besser gefallen, wenn diese Skorpion-Erdbeben-Beziehung stärker im Zentrum wäre (so sehe ich das Ich im Zentrum), das kann aber schlichtweg an meinem Wissensmangel liegen.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 15.06.2012, 19:02

Ich hab's reduziert, s. Kopfposting.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 15.06.2012, 19:42

Hallo Gabriella,

mit reduzieren meinte ich aber nicht, dass du meine Lieblingsstrophe streichst. ;-) Ich finde es schade, wenn du die Bewegung hin, auch das klangliche Wiegen (der Welleneinschübe, die ich mir mit deiner Stimme gut vorstellen kann) und deine Idee so schnell "aufgibst". Ist denn die "Kritik", oder besser das Nachhaken für dich nachvollziehbar?

Es macht für mich auch keinen Sinn, jetzt aufzudröseln, wann etwas metaphorisch gemeint ist und wann konkret.
Ich vermute genau das ist mein Hauptproblem, über das ich ja aber nicht nur bei diesem Text hier stolpere, sondern mit schöner Regelmäßigkeit. Was meinst du mit "metaphorisch gemeint"?

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 15.06.2012, 19:58

Hallo Flora,

die Welleneinschübe sollten dem Ganzen einen gewissen Klang, eine Melodie geben, ja.
Die Strophe mit den schwarzen Skorpionen, die ein Beben ankündigen, werde ich - irgendwann einmal - in einem eigenen Text verwerten, es als Thema für sich verwenden, wie Amanita schon anregte.

Metaphorisch sind hier z.B. die Krallen des Wolfes. Es geht doch gar nicht um die Krallen oder die Gier des Wolfes. Es geht darum, dass das Tier im LI schläft. Und dies wiederum ist in der "Gedankenhydra" enthalten.
Die Tiere im LI schlafen. Dadurch, dass die "Gedankenhydra" schläft, ist das LI frei von sich selbst, von seinem Drang, andere zu töten. Nur deshalb kann es Ameisen passieren lassen, die Spinne leben lassen, sogar mit den Skorpionen gehen und auch noch barfuß, statt sie hysterisch zu zertrampeln, obwohl LI um ihre Warnung weiß. Nur deshalb kann das LI sich wie ein Regentropfen im Meer verlieren lassen.
Daher war für mich die Gedankenhydra zu Beginn sehr wichtig, sie läutete den weiteren Prozess ein.

Lieben Gruß
Gabi


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