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Staubige Tage

Verfasst: 29.11.2005, 14:40
von MarleneGeselle
Die fahle Frau ist auf den Dachboden gegangen.
Am frühen Vormittag.
Um kein Licht mehr zu brauchen.
Denn Schatten fliehen sonst zu früh.

Die fahle Frau hat in dem alten Karton gewühlt.
Mit großer Sorgfalt.
Um nichts zu übersehen.
Denn sonst übersieht man noch das Entscheidende.

Die fahle Frau hat die Schachtel aufgemacht.
Langsam und mit Sorgfalt.
Um nichts per Zufall zu beschädigen.
Denn dies will sie nicht.

Die fahle Frau hat die alte Puppe nach unten getragen.
Ganz ruhig und ohne Bedauern.
Um endlich Platz zu machen.
Denn es ist viel zu eng.

Die fahle Frau hat die alte Puppe auf den Küchentisch gelegt.
Ganz langsam und sich schon gefreut.
Um ein bisschen Spaß zu haben.
Denn der fehlte früher.

Die fahle Frau hat die alte Puppe mit dem Fleischklopfer zerschlagen.
Mit schnellen, heftigen Schlägen.
Um sich Luft zu machen.
Denn sonst erstickt sie daran.

Die fahle Frau hat die Trümmer in den Müll geworfen.
Einfach so wie Restmüll.
Um das alles loszuwerden.
Denn sonst wird sie nicht los gelassen.

Die fahle Frau hat sich nen Kaffee gekocht.
Einfach nur so zur Belohnung.
Um ihren Sieg zu feiern.
Denn sie hat lange gekämpft.

Gegen das staubige Monster auf dem Dachboden.
Das sie immer lieb haben musste.
Mit dem sie aber nie spielen durfte.
Weil es so teuer war und so hübsch.

Das auf dem Sofa sitzen durfte.
Damals, als sie noch mit Puppen spielen wollte.
Aber nicht in die gute Stube durfte.


:mad:

Verfasst: 29.11.2005, 15:23
von Saluk
Marlene, Marlene!

Schwere Kost.

Die fahle Frau - das klingt schon ziemlich trist. Alliterierend und nur mit kalten Tönen.

Und dann dieses eindringliche Beobachten, die vielen Strophen, alleine 4 bis die Puppe geholt ist, dann kurze Pause und danach zack-zack 2 Strophen mit dem Mord. Drauffolgend die doppelt so lange Pause bis dann die Erklärung folgt - bezeichnenderweise sogar mit einer verkürzten Strophe. Toller Aufbau, gefällt mir sehr gut!

Und inhaltlich - die Frau spricht nicht, man kann sich vorstellen, dass die einzigen Geräusche leise sind, wie etwa das Öffnen des Kartons und der Schachtel, oder das Zischen der Kaffeemaschine und dann der laute heftige Krach, den der Fleischklopfer und das Zerspringen der Porzellanpuppe macht.

Bitterkeit und Erlösung - Erlösung nach Jahren. Und doch, es bleibt der Eindruck "zu spät"...

Beeindruckt und begeistert,
Saluk

Verfasst: 29.11.2005, 15:31
von Louisa
Hallo Marlene,
Das ist ja ein schön-schaurig-trauriges Gedicht! Es kam mir vor wie eine kleine anschauliche Geschichte, die gerade hier gegenüber passieren könnte, so weltliche Bilder hast Du gewählt-
Ich mag es sehr gern, da es einen gruselt und auch eine gewisse Spannung in sich trägt.

Liebe Grüße, Louisa

Verfasst: 29.11.2005, 19:40
von Max
Liebe Marlene,

mir ist die Kost nicht zu schwer. Mir hat das Gedicht zunehmend besser gefallen. Zunächst habe ich gedacht, dass das Bild der Puppe ja schon sehr gebräuchlich ist und ob es nichts prägnanteres gab, aber nach der Auflösung bin ich gänzlich damit einverstanden. Bin gespannt auf mehr!!

Liebe Grüße
Max

Verfasst: 30.11.2005, 08:45
von MarleneGeselle
Hallo an Alle,

vielen lieben Dank. Besonders, wo ich bei klassischer Lyrik immer total versage.

Es grüßt euch
Marlene

Verfasst: 30.11.2005, 09:03
von Lisa
Hallo Marlene,
ich bin auch begeistert. Besonders gefällt mir bei allem der Titel "staubige Tage". Und was Salusk sagt, kann ich nur bestätigen:

Und inhaltlich - die Frau spricht nicht, man kann sich vorstellen, dass die einzigen Geräusche leise sind, wie etwa

Verfasst: 30.11.2005, 09:16
von Saluk
Hallo Lisa,

jetzt habe ich es schon das zweite Mal gelesen, deshalb möchte ich dich nur kurz drauf hinweisen, mein Nick ist Saluk, nicht Salusk.

Ich bin ja kein Basalusk :mrgreen:

Grüße
Saluk

Verfasst: 30.11.2005, 10:16
von MarleneGeselle
Hallo Lisa,

danke für deinen Kommentar. Ja, du hast Recht. Es ist sehr still, viel zu still sogar.

Es grüßt dich
Marlene

Verfasst: 02.12.2005, 10:54
von Lisa
Lieber Saluk,
entschuldige! Ich muss mich immer zusammenreißen, deinen Namen richtig zu schreiben, mir hat sich einfach salusk in die Seele gebrannt :grin: . Ich gelobe Besserung!

Verfasst: 12.05.2016, 08:09
von Klimperer
Form und Inhalt erinnern an Jacques Prévert.