Die Kirschknospe welkt

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Quoth
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Beitragvon Quoth » 13.03.2011, 12:25

Die Kirschknospe welkt,
stirbt geschlossen dahin. Sie
mag Kernschmelzen nicht.
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Sam

Beitragvon Sam » 14.03.2011, 16:44

Für mich hat Quoth Gedicht die gleiche Berechtigung, wie die Reaktionen von Klara und auch Gabriella. Und wer sich aktuellen oder politisch brisanten Themen in seiner Dichtung annimmt, der muss immer mit emotionsgeladenen Reaktionen rechnen, weil die Themen selber es auch sind.

Grundsätzlich ist es immer besser zu reden, als zu schweigen. Auch wenn es kontrovers wird. Gerade wer sich als Schriftsteller versteht, wer daran glaubt, dass Worte mehr sein können als nur Hülsen, der wird den Drang verspüren, zu den ganzen Geschehnissen (nicht nur Japan sonder auch andere, die z.B. Gerda angeführt hat) auf die ein oder andere Art Stellung zu nehmen. Schreiben als Zeichen dafür, dass man die Dinge nicht einfach so hinnimmt.

Das Problem bei Quoth Gedicht ist das Wörtchen "mag", das einen Euphemismus allererster Güte darstellt. Das klingt nun wahrhaft zynisch und noch so mittendrin in den Ereignissen kann man es, glaube ich, auch gar nicht anders sehen. Dass Quoth es nicht so gemeint hat, wissen wir aber ebenfalls alle.

Auch wenn ich das Gedicht als völlig misslungen erachte, ist es gut, dass es geschrieben und eingestellt wurde. Gerade weil es so daneben ist, ist es fast ein Sinnbild für alles, was in der Welt "daneben" ist, und sollte uns alle daran erinnern, nicht aufzuhören, darüber zu reden.

Gruß

Sam

Klara
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Beitragvon Klara » 14.03.2011, 21:37

Eigentlich, jetzt, so mit ein bisschen Abstand, finde ich das Gedicht ziemlich gut.
Gerade, weil es so naiv ankommt.
In all seiner Brüchigkeit die brüchige Welt mitmeint. Merkwürdig...
Die immanente Verletzlichkeit, die man eigentlich immer spürt, immer lebt, und immer verdrängen muss, um (sie) leben zu können...
Und dann das kirschblütenunangemessene Wort Kernschmelze, von dem die wenigsten wissen, was es in Wirklichkeit, also nicht auf dem Papier theoretischer Berechnungen, bedeutet.
Sogar das Wort mag, gerade das Wort erscheint mir jetzt, in diesem Moment, genau richtig in seiner Unpassendheit, in seiner Unangemessenheit angesichts dessen, was da nicht gemocht wird. Von der "unschuldigen" Blüte.
(Merkwürdig...)
Denn das ist es ja gerade: Diese unbeherrschbare Technik ist unangemssen. Was sollte eine ungebildete, un-menschliche Kirschblüte denn sonst von so etwas Menschlichem wie der Kernschmelze halten? Sie kennt sich doch nicht damit aus! Sie kann nru mögen oder nicht mögen, reagieren auf Umwelt, die gleich Welt ist. Sie unterscheidet ja nicht zwischen Kunst, Wissenschaft, "Natur" - sie ist ja nur.
Und Kirschen - wachsen ja auch hier, nicht nur in Japan.

Wahrscheinlich war es unangemessen, eine erste spontane Gefühlsreaktion, die tatsächlich weniger mit dem Text zu tun hatte als mit der Reaktion auf aktuelle Nachrichten, so ungefiltert und angreifbar und unsachlich zu äußern. Dafür möchte ich um Entschuldigung bitten.

klara

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 14.03.2011, 22:01

Lieber Quoth,

die Reaktionen auf dein Haiku habe ich jetzt nur überflogen. Das Bild der dahinsterbenden Kirschblüte ist für mich sehr treffend, weil es auf die Zartheit und Zerbrechlichkeit der Kultur anspielt! Du schreibst, dass du dabei z.B. auch an die Angst vor Krebs gedacht hast. Man würde aber nicht schreiben: ich mag Krebs nicht. Für mich ist es dieses "mag", was zu lapidar klingt.

Man könnte es noch kürzer machen:


der kern schmilzt

die kirschblüte

implodiert


Ein klassisches Haiku (das sich im Deutschen nicht nach 5 - 7 - 5 richten muss) enthält immer ein Jahreszeitenwort. Das hast du hier angewendet. Aber ein Haiku enthält nie eine wertende, interpretierende Aussage, sondern richtet nur den beobachtenden Blick auf eine Szene. Auch insofern ist dieses "sie mag" nicht so passend.

Haben Worte die Macht, unser ganzes Entsetzen auszudrücken? Wenn wir daran nicht glauben würden, würden wir wohl nicht schreiben. Einen Versuch ist es immer wert, auch wenn es oft unzureichend bleiben wird.

Viele Grüße
fenestra

Klara
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Beitragvon Klara » 14.03.2011, 22:09

Haben Worte die Macht, unser ganzes Entsetzen auszudrücken?

Ich schätze, das haben sie nicht - und wenn es gelingt, DAS auszudrücken, in Worten, diese Machtlosigkeit des Ausdrucks, dann haben sie die Macht (zurück)erobert, errungen, bewiesen, dann finden sie, wozu sie eigentlich da sind, was "ihr Job" ist - denn wir unterscheiden ja feinfein in Wörter und Worte, nicht wahr. Wenn sie ihrer eigenen Ohnmacht bewusst sind und diese mit ausdrücken - dann sind sie es wert, gesagt zu werden. Dann sind sie - Ausdruck der Welt und ganz Wort, das mit vollem Recht fordert, gehört zu werden, also: dass der Lesende/Hörende ganz Ohr sei.

Die Schwierigkeit liegt, bodenständiger gesprochen, ja auch darin, sich dem allgemeinen Geplapper zu entziehen, ohne resigniert/resignierende den Mund zu halten. Denn es gibt wohl eher zu viele als zu wenige Wörter - nur halt zu wenige Worte der Sorte, die den Versuch dieses unzureichend eben beschriebenen, nahezu unmöglichen Kraftaktes wagt:
zu sagen, was ist, ohne zu machen, was ist.

jondoy
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Beitragvon jondoy » 14.03.2011, 22:51

Ich weiss, dass Quoth das immer gern verquickt und solche Texte lassen mich auch kalt.
Auch an die regelmäßig nach Katastrophen einsetzenden Tsunamis der Entsetzheit mag ich mich nicht gewöhnen.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 03.04.2011, 09:06

Seit gestern blüht er in voller Pracht der riesige Wildkirschbaum. Heute Nacht habe ich aus dem Fenster gesehen und selbst da "strahlte" er noch, schien alles Licht der Umgebung aufzusammeln, für sich zu nehmen.
Wenn ich diesen Thread hier überfliege, denke ich daran, dass es nicht nur Betroffenheitslyrik gibt, sondern auch Betroffenheitskommentare.
Für mich ist dies ein Text in "fried'scher Manier". Beinahe dadaistisch macht er keinen Hehl um seine Aussage und haut mir unverblüht ä -blümt "mitten in die Fresse". Und wenn ein Text leistet, dass es dann auch noch schmerzt, ist es ein guter Text (für mich).
LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 03.04.2011, 13:08

Hallo Quoth,

wo steckst du eigentlich? Bist so still geworden im Forum. Das fällt richtig auf, finde ich.
Melde dich doch mal, hm?

Saludos
Gabriella

Gerda

Beitragvon Gerda » 03.04.2011, 15:42

Hi Nifl,

Nifl hat geschrieben:Wenn ich diesen Thread hier überfliege, denke ich daran, dass es nicht nur Betroffenheitslyrik gibt, sondern auch Betroffenheitskommentare.

Na klar gibt es die. Du meinst aber sicher nicht, dass man den Text, sollte man nicht betroffen reagiert haben, zwangsläfig gut finden müsste - oder ? ;-)

So ein Text wird immer polarisieren und das ist doch gut und richtig.

Sonntagsgrüße
Gerda

Nifl
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Beitragvon Nifl » 03.04.2011, 16:55

Hi Gerdanken.

Na klar gibt es die. Du meinst aber sicher nicht, dass man den Text, sollte man nicht betroffen reagiert haben, zwangsläfig gut finden müsste - oder ?


Nein, natürlich nicht, Superlative wähle ich eh nur, wenn ich provozierien will. Ich finde es sehr schön, dass Klara Adorno zitiert hat, das kam mir nämlich auch gleich in den Sinn.

LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Max

Beitragvon Max » 03.04.2011, 17:05

Lieber Quoth,

ich mag angesichts des Textes und der Ereignisse in Fukushima nicht automatisch in eine Entrüstungshaltung verfallen - das käme mir zu preiswert vor.

Der Text überzeugt mich allerdings auch als Text nicht. Zwar passen Symbolik von Kirschblüte und Form des Haiku sehr gut zueinander, aber schlussendlich beruht das ganze Gedicht auf einem schlichten Wortspiel und das ist mir einfach zu wenig.

Liebe Grüße
Max

jondoy
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Beitragvon jondoy » 05.03.2012, 20:36

die krebsrate wird ansteigen. neue klinikzentren sollten sie jetzt planen. mit palliativstationen. und viel menschlicher medizin. in der japanischen gesellschaft wird das ein tabuthema bleiben.
das geht mir durch den kopf. ein jahr nach fukushima.



06.03.12 arte, 23.35 uhr/08.03.12, 11.20 uhr
minamisanriku - schicksal einer stadt (D 2012)

07.03.12 BR-alpha, 16.30 uhr-17.30 uhr
on3-südwild - Livesendung direkt vom St. Mang-Platz in Kempten (Allgäu)
Interviews mit jungen Menschen zum Thema Japan, Grundremmingen usw. (D 2012)

08.03.12 3-sat, 20.15 uhr
japan - land ohne zukunft (D 2012)

09.03.12 EinsExtra 23.30 uhr
fukushima - reise durch ein verstörtes land (D 2012)

Quoth
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Beitragvon Quoth » 11.03.2012, 18:56

Hi, Jondoy,
Du hast das alte Teil wieder hochgeholt - weiß nicht, ob ich Dir dafür dankbar sein soll!
Das einzig Gute an Fukushima ist die weltweit zu beobachtende Abkehr von der Atomenergie, bei uns der Atomausstieg, der freilich peu à peu verwässert werden wird, bis dann die Atomenergie doch wieder als letzter Notanker dasteht. Und, was nicht vergessen werden sollte: Auch abgeschaltete Atomkraftwerke sind eine Gefahrenquelle, müssen rückgebaut werden, die Stäbe müssen jahrzehntelang abklingen - und wohin dann damit? Das Traurige ist, dass es Katastrophen dieses Ausmaßes braucht, um die Menschen klug machen.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.


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