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All die Jahre

Verfasst: 18.03.2010, 20:00
von Mucki


All die Jahre warst du mir Vogel, Freigeist.
Kein Planen ~ kein Grübeln ~ kein Morgen ~
All die Jahre lebte ein Schatten in dir.
Kein Angst-Du | kein nackt-Du | kein Vertrauen |

All die Jahre rieb ich deine Kanten.
Schmirgelte und schmirgelte. Der Schatten brach.
Wurdest mir wahrer Vogel ~ weich ~ ganz weich ~

Jeden Tag starb ich | jeden Tag lebte ich Angst | dein lauernder Schatten |
All die Jahre des Sterbens | all die Jahre mit Mauern | dein Schatten in mir |
Du flogst weiter ~ weich ~ ganz weich ~
verloren - vergeudet - all die Jahre vergeudetes Sterben

Bis heute | | |
Heute bin ich gestorben.

Verfasst: 18.03.2010, 21:45
von Klara
Hallo Gabriella,
das fasziniert mich.
Es wirkt auf den ersten Blick so "eins-zu-eins" - aber man kann ja nicht sterben, wenn man das schreibt:
"Heute bin ich gestorben."
Das ist ja ein Satz wie: "Ich schlafe."
Ein Widerspruch in sich.
Wie das Beschriebene: ein gelebter Widerspruch.
Ich sehe den Text begleitet von Video-Projektionen, seltsam langgezogenen Tönen.

Ich mag: "All die Jahre rieb ich deine Kanten" (Ich denke, das können viele, viele Gattinnen/Freundinnen/Zugewandte verdammt gut nachvollziehen, und womöglich auch ein paar Gatten, aber das sind dann die, für die man nicht sterben muss)

Ich lese: Ein Arbeiten, ein Ab-Arbeiten an den eigenen Illusionen, Projektionen, Blendungen.
Und ich lese: Die Selbst-Überhebung, man könne eine Liebe alleine schaffen, stemmen, man bringe es fertig, der andere, der Gewollte, der Gesollte quasi MITZUSEIN. (Drücke ich mich verständlich aus? Oder lese ich gegen den Strich? Selbst-bezogen?), überhaupt: man bringe es fertig, und das mühevolle, langwierige Lernen, mit egal wie vielen oder nur einem Partner: Nein. Es geht nicht. So stark ist keiner. Und das wäre auch gar nicht der Zweck einer Liebe, weil sie ja keinen hat.
Am Ende: Ein Aufwachen. Phönix steht noch nicht bereit, wird aber.
Denn die Worte sind geschrieben.
Und wie realistisch das Ganze ist, bleibt völlig gleichgültig - schließlich geht es ums große Ganze: um Leben, um Tod, um das, was man dazwischen zu schieben versucht, vergeblich, weil man beiden nur ungeschminkt gegenüber treten kann, am Anfang, in der Mitte und am Ende.

Hab das gern gelesen.

Herzlich
klara

Verfasst: 18.03.2010, 22:07
von Renée Lomris
Liebe Mucki,

Ich war tief beeindruckt, als ich deinen Text las. Ich schließe mich Klara an: diese Arbeit am Anderen (auch an sich selbst, diese Liebesarbeit) und dann aufwachen // sterben und sehen, es war (jetzt wollte ich umsonst sagen, das stimmt aber nicht) - es war nicht notwendig.

Das Besondere an deinem Gedicht: es öffnet immer mehr Türen, je weiter man deinen Worten folgt, je dichter man daran bleibt.

Sehr gelungen
liebe Grüße
Renée

Verfasst: 18.03.2010, 23:22
von Herby
Liebe Mucki,

gerne greife ich Renées "sehr gelungen" auf und schiebe noch ein "ebenso eindringlich wie nachdrücklich" hinterher.
Das einzige, was mich ehrlich stört, sind diese Zeichen. Ich ahne ja ihren Sinn, aber nach meinem Lesen ist dein Text so stark, das er diesen ... - nee, das Wort schreib ich jetzt nicht ;-) - gar nicht nötig hat.

Sehr gern gelesen!

Lieben Gruß
Herby

Verfasst: 18.03.2010, 23:39
von Mucki
Hallo ihr Lieben,

ich freue mich sehr über eure positive Resonanz. Vor allem aber darüber, dass ihr aus dem Text herauslest, was ich intendierte. Ich befürchtete nämlich, dass es, aufgrund der "scheinbaren Widersprüche" etwas zu kryptisch sein könnte.
Herby, diese Zeichen mag ich hier ganz gerne, stützen sie doch einerseits die "Mauern", einerseits das "Freie". Ist wohl Geschmackssache.
Danke euch!

Saludos
Mucki

Verfasst: 01.05.2010, 10:17
von Elsa
Liebe Mucki,

ganz einfach: es ist der beste Text - und wir kennen uns ja schon viele viele Jahre - den ich jemals von dir gelesen habe! Ich bin restlos begeistert!

Liebe Grüße
ELsie

Verfasst: 01.05.2010, 11:00
von fenestra
Liebe Mucki,

wie schön, dass Elsa diesen Text noch einmal hervorgeholt hat! Auch ich finde deine Worte sehr gelungen. In federhafter Leichtigkeit und Weichheit beschreibst du Schatten, Fall, Mauern. Es liegt Wehmut darin, ein Aufgeben ohne Aufschrei, aber irgendwie auch die Andeutung des lyrischen Ichs, selbst federleicht zu werden.

In "vergeudetes Sterben" steckt "vergeudetes Streben". Das liegt wohl manchmal nah beieinander.

Liebe Grüße
fenestra

Verfasst: 01.05.2010, 14:15
von Mucki
Liebe Elsie, liebe fenestra,

ich freu mich sehr über euer Lob. :-)
diese Zeilen schrieb ich seinerzeit in einem hochemotionalen Zustand.
Und ja, fenestra: das "vergeudetes Sterben" und "vergeudetes Streben" liegt hier wirklich sehr nah beieinander.

Erfreute Grüße
Mucki