herbstkiesel

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 17.11.2009, 15:27

im wald wind, blätter, verrostetes blech
im plötzlichen lichtstrahl fahriges flimmern,
vögel wirbeln,
entblößt tanzen bäume.

die stimme stockt
kiesel unter der zunge
versteinert.

(versteinert,
gebeugt über den erlentisch,
das licht ist kalt,
im keller rauschen schwarze röhren.
alles hängt nun an einer tasse grünem tee,
dem lichtspiel im tee)
Zuletzt geändert von wüstenfuchs am 19.11.2009, 12:15, insgesamt 1-mal geändert.

Lydie

Beitragvon Lydie » 17.11.2009, 15:35

Hallo Fuchs,

Schön dich zu lesen. Du hast deine ganz eigene Bildwelt und eindringlichen Worte.
Dein Gedicht spricht zu mir.

Herzliche Herbstgrüsse,

(mir kam neulich auch so ein Bild "dein Wort wird zu Sand in meinem Mund")

Lydie

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 17.11.2009, 19:16

Hallo Ben,

das verlockt mich sehr, um damit zu spielen, oder vielleicht besser gesagt hinzuhören, was sich mir daraus ergibt, wohin die Zeilen und Worte in meinem Kopf dann weiterwandern. Ich hoffe, das ist für dich in Ordnung, es ist nicht im Sinne einer Kritik an deinem Gedicht gemeint.
Inspirierende Zeilen sind das. Vor allem der Schritt zurück an den Tisch und die Teezeile, der Gedanke des Lichtspiels, an dem alles hängt, gefällt mir sehr.

Wobei ich es schön fände, wenn das Licht nicht erst als Strahl und dann wieder als kaltes Licht und am Ende als Lichtspiel auftauchen würde, sondern wenn das ein Rückbezug sein könnte, dass sich eben alles im Lichtspiel in der Tasse Tee findet. So hatte ich das zumindest interpretiert. Beim Titel würde mir rein klanglich „Herbstkiesel“ besser gefallen, weil sich das „Herbststein“ für mich holprig unangenehm spricht.
(Da das bei uns ja immer etwas schwierig ist, hoffe ich einfach, es kommt nicht wieder gespenstisch schief an. ;-))

liebe Grüße
Flora

herbstkiesel

im windwald blättert verrostetes
blech flimmert fahrig
wirbelt ein licht vögel
von bäumen
entblößt
stockt die stimme
versteinert der herbst
unter der zunge

(gebeugt über dem erlentisch
rauscht schwärze durch röhren
im keller – siehst du nicht

alles hängt nun an einer tasse grünem tee
am lichtspiel der stille)

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 18.11.2009, 09:09

Hallo Lydie, danke für dein Lesen und deinen Eindruck.
"dein wort wird zu sand..." gefällt mir auch sehr.

Hallo Flora, kommt diesmal gut rüber, finde deine Zeilen sehr gelungen,
würde gerne das eine oder andere übernehmen, wenn ich darf.

Das mit dem Titel kam mir auch so vor, aber mir ist dann nix Besseres eingefallen. Herbstkiesel finde ich sehr schön.

Ein wenig hänge ich am "Lichtspiel der Stille", das muss ich noch wirken lassen,
viele Grüße
Fux

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 18.11.2009, 09:22

Hallo Ben,

kommt diesmal gut rüber, finde deine Zeilen sehr gelungen,
würde gerne das eine oder andere übernehmen, wenn ich darf.

Das freut mich wirklich sehr! Ja klar, nimm dir, was du magst.

liebe Grüße
Flora

Lyrillies

Beitragvon Lyrillies » 18.11.2009, 15:05

Hallo Fux,

das finde ich sehr ansprechend.
Ganz bemerkenswert an dem Gedicht finde ich besonders die entblößt tanzenden Bäume im Lichtstrahl. Das fängt für mich genau den Eindruck ein, den ich habe, wenn ich im Herbst im Wald spazieren gehe. Auch das fahrige Flimmern passt ganz wunderbar dazu.
Gekonnt ist auch der Bruch zwischen der Sprachlosigkeit angesichts des Waldes im Herbst und der so völlig anderen Stille im folgenden Absatz. Das gebeugt, das kalte Licht im Keller bereiten den Leser sehr gut auf die letzten beide Zeilen vor, wo man das Gefühl bekommt die ganze Freiheit und Frische des Herbstwaldes liege jetzt in dem Tee, kann nur in der Tasse Tee liegen und hängt auch nur an dessen Wärme und Lichtreflexion. Das ist alles, was übrig ist, was sichtbar ist.
Wie gesagt, ich finde das ganz toll, da steckt so viel Atmosphäre drin!

Ich finde deine Version auch schöner als Floras, in ihrer Version ist mir der Windwald zu künstlich, und ich finde es schade das dort der Herbst versteinert. Den Eindruck habe ich in deiner Version nicht. Am meisten stört mich aber, dass es ein konkretes LyDu gibt. Das nimmt dem Gedicht in meinen Augen sehr viel, diese direkte Ansprache.

LG,
Ellie

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 18.11.2009, 15:59

Hallo Ellie,

ich finde es schade das dort der Herbst versteinert. Den Eindruck habe ich in deiner Version nicht

Das finde ich interessant, für mich war es die Unmöglichkeit, den Herbst zu sagen. In dem Moment, wo man ihn mit Worten belegt, versteinert er einem. Auf was bezieht sich in deiner Leseart das Versteinern aus Bens Gedicht?
Am meisten stört mich aber, dass es ein konkretes LyDu gibt.
Ich lese darin ausnahmsweise ein distanziertes Selbstgespräch, also weit und breit kein anderes LDu zu sehen. ;-)

Liebe Grüße
Flora

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 18.11.2009, 16:19

Hallo Lyrillies,

danke für dein Lesen. Du hast sehr interessante Anmerkungen gemacht.
Ich denke, ich muss noch eine Weile beide Fassungen betrachten. Heute morgen fand ich Floras Version sehr interessant. Du meinst nun, ein Windwald, ein künstlich erschaffener trete daraus hervor. Tatsächlich ist die persönliche Ansprache nicht so gut in diesem Kontext, da hast du recht, das Geschehen zielt nicht so sehr auf ein individuelles ich.
Den Titel Herbstkiesel ziehe ich meinem vor.


Nun muss ich beides detailgenau wirken lassen.

Werde mich wieder melden.

Auf jeden Fall danke für das sorgfältige Lesen, ich bin da manchmal etwas flüchtig.

Viele Grüße
Ben

Lyrillies

Beitragvon Lyrillies » 18.11.2009, 17:25

Huhu Flora,

Also in Bens Version habe ich das Gefühl, man steht im Wald und das schiere Richtig-Sein des daseins, der Natur um einen herum, diese Frische und Freiheit und Ruhe und natürlich im Herbst besonders auch die Schönheit versteinert die Zunge, macht es unmöglich das zu fassen, zu definieren. Also ja, macht es unmöglich den herbst zu sagen, wie du es ausgedrückt hast. Aber im Gegensatz zu dir lese ich eben nicht, dass er selbst versteinert, bzw. zerfällt und der Augenblick vergeht wenn man es doch versucht oder tut - denn das geht ja für mich gar nicht in diesem Moment.

Und das Selbstgespräch wäre mir sonicht in den Sinn gekommen. Allgemein finde ich eine konkrete Ansprache aber unpassend für dieses Gedicht. Ein ich ebenso wie ein Du. Es ist so herrlich frei, auf niemanden bezogen - und doch sieht man irgendwen im Wald spazieren gehen, im Keller sitzen, die Tasse Tee halten. Aber gerade das diese Person nicht ausgesprochen wird fängt für mich die Stimmung so gut ein.


Huhu Ben,

ich bin gespannt was bei deinen Überlegungen herauskommt.
Den Titel Herbstkiesel finde ich auch besser.

LG,
Ellie

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Beitragvon Ylvi » 18.11.2009, 19:34

Hallo Ellie,

Also in Bens Version habe ich das Gefühl, man steht im Wald und das schiere Richtig-Sein des daseins, der Natur um einen herum, diese Frische und Freiheit und Ruhe und natürlich im Herbst besonders auch die Schönheit versteinert die Zunge, macht es unmöglich das zu fassen, zu definieren.

:eek: Das ist wirklich erstaunlich, weil Bens erste Strophe bei mir völlig anders ankommt. Ich finde darin weder Frische noch Freiheit und schon gar keine Schönheit und Ruhe. Ich empfinde es eher als bedrohliche Stimmung. Ich denke, es sind diese Worte, die das bei mir auslösen: verrostetes blech (Vergängnis, evoziert auch einen schaurigen Klang bei mir), plötzlich (erschrecken), lichtstrahl (hartes, aufzeigendes Licht), fahrig (unruhig, ängstlich), wirbeln (im Gegensatz zum Fliegen nicht selbstbestimmt), entblößt (nackt, ausgeliefert, ohne Leben, ohne Blätter). Das Tanzen erscheint mir dann eher wie ein Geistertanz.

Dabei wäre doch alles da, zu finden, zu sagen, zu sehen, in dieser Tasse Tee ruht ein anderer Herbst... voll Wärme, im Lichtspiel, (in der Stille). Wenn man ihn nur sagen könnte.

liebe Grüße
Flora

Lyrillies

Beitragvon Lyrillies » 18.11.2009, 22:58

Hallo Flora,

huch ja, mit deiner Erklärung fällt mir diese Lesart erst auf.
Naja da kommen wohl persönliche Erfahrungen ins Spiel. Gerade das verrostete Blech zum Beispiel ist für mich etwas ganz friedliches, ruhiges. Das allerdings kommt wahrscheinlich von meiner Zeit in Namibia... Hier nimmt man sowas meiner Erfahrung nach tatsächlich anders wahr. das war mir bisher aber gar nicht aufgefallen.
Den Lichtstrahl habe ich eher sanft gesehen, gerade in frühen Morgenstunden kann so ein einzelner Lichtstrahl zwischen den Bäumen ganz wunderschön und sanft sein, das fahrige Flimmern habe ich auf im Wind bewegte Blätter gelesen, und die können noch so unruhig sein - ich liebe ihren Anblick. Ebenso mag ich es, wenn sie durch die Luft wirbeln, am Boden entlang kreiseln - das ist zwar nicht selbstbestimmt, aber selbstbestimmtes Fliegen kommt mir im zusammenhang mit Blättern auch nicht in den Sinn. Und ich sehe die ganze Strophe als eine Beobachtung des LyrIchs, nicht als eine Metapher die auf es anzuwenden ist.
entblößt erwekct bei mir eher den Eindruck des von-fesseln-befreit seins, das Licht entblößt die Bäume, heißt für mich: Sie werden ihrer dunklen, manchmal unfreundlichen, kalten Ausstrahlung beraubt und erscheinen im Licht nun freundlich, schön, lebendig.

Hingegen ist die Erle im Erlentisch tot, schwärze in Röhren im keller erinnert mich an ein eingesperrt-sein, abgeschottet sein, da ist kein Licht, keine Freiheit, keine Wärme, alles ist schwarz, künstlich, kalt.
Es ist ein solcher Gegensatz, das nun alles, alles, was draußen im wald vorhanden ist, im tee liegt. im tee liegen muss um das LyrIch zu retten, zu erwärmen, zu befreien.
das ist meine Lesart.

Sehr interessant, diese Gegensätze!

LG,
Ellie

Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.11.2009, 01:00

Hi Ben,

auch ich lese dein Gedicht als Versteinerung des LI beim Anblick des Herbstes. Da ist viel Trostlosigkeit enthalten in deinen Bildern. Das Warme findet sich nur im grünen Tee. Schön, dieser Gegensatz.
Floras Idee gefällt mir gut (auch der Titel "herbstkiesel") und die Übergänge, zumal es hier:
die stimme stockt
kiesel unter der zunge
versteinert.

mit dem "Kiesel" und dem "versteinert" m.E. nicht so gut passt, da ja ein Kiesel aus Stein ist.
Und direkt danach
(versteinert,
gebeugt über den erlentisch,

noch mal "versteinert" folgt.

Ich frage mich jedoch, ob es (auch in Floras Variante) die Klammern braucht. Die Zäsur erfolgt ja durch den Absatz.

Saludos
Mucki

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 19.11.2009, 08:39

Hallo Ellie,

aber selbstbestimmtes Fliegen kommt mir im zusammenhang mit Blättern auch nicht in den Sinn.

Ich mag ja nicht kleinlich sein, aber es wirbeln doch die Vögel. :pfeifen:

Ich bin gespannt, was Ben dazu sagt.

liebe Grüße
Flora

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 19.11.2009, 12:14

Liebe Salonfrauen, nun mal meine "Empfindungen" beim Schreiben:

also das lyrische Ich ist bedrückt und trägt schwer im übertragenen Sinne.
Es erlebt diesen Moment im Wald mit dem Lichtflimmern, es ist eine Mischung aus Schönheit und dieser plötzlichen Grellheit, die beim Föhn auftritt. Auch eine winzige Spur "eerieness", wie es im Englischen heißt,
das deutsche "unheimlich" ist zuviel. Eine aufwühlende Szenerie.
Das lyrische Ich beobachtet still, schweigend, geht weiter nach innen.

Später an dem Tisch packt das lyrische Ich wieder die Trostlosigkeit, es klammert sich an das Lichtspiel im Tee.

Aber das Gedicht ist nun nicht mehr meines. Jede Lesart hat ihre Berechtigung.
Zwar versuche ich meine Empfindungen auszudrücken, aber eigentlich ist man sich oft garnicht so klar darüber, was man da geschrieben hat.
Leserassoziationen können viel zutage fördern,

Viele Grüße
Fux


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