in diesen herbst

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
scarlett

Beitragvon scarlett » 12.11.2009, 07:59

in diesen herbst
legt der wind ein requiem

messingtöne im blätterfall
über offener erde*

es gilt
sich einzurichten

diesseits der glaswand

und das splittern der luft
bunt zu atmen

gegen fallendes licht


*der offenen wunde


© Monika Kafka, 2009
Zuletzt geändert von scarlett am 18.11.2009, 07:27, insgesamt 2-mal geändert.

Rosebud

Beitragvon Rosebud » 12.11.2009, 10:46

Hallo scarlett,

manchmal stehe ich in diesen Tagen hinter dem Fenster und sehe davor und fühle dabei und denke bei mir eben das, was Du in Deinen Zeilen eingefangen hast - im fallenden Gegenlicht (m)ein Stimmungs(ab)bild.

Gefällt mir sehr.

Gruß
Rosebud

Mucki
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Beitragvon Mucki » 12.11.2009, 19:01

Liebe Monika,

dein Gedicht bewegt mich. Vor allem, wie das "fallende gegenlicht" mit dem "requiem, das der wind legt" (--> klasse!) miteinander "spricht". Da ist viel Trauer beim LI und zugleich ein sich selbst auferlegtes Zusammenreißen, damit klarkommen, eben weiter zu machen ("es gilt sich einzurichten", "bunt zu atmen").
Erst stolperte ich ein kleines bisschen über die "messingtöne", da mir hier dunklere Töne stimmiger schienen (in Bezug zum Requiem), doch das "im blätterfall" dahinter stimmt den Messington dann wieder richtig ein, sprich: der "blätterfall" lässt auch die Töne tiefer fallen.
Ich finde dein Gedicht sehr gelungen.

Chapeau!
Mucki

Lydie

Beitragvon Lydie » 12.11.2009, 19:24

Liebe Monika,

Das weckt sinnlich ganz vieles in mir "diesseits der trennenden glaswand": Kirchenfenster, Licht in Kirchen, Musik, Blättertanz und Herbstluft, bunt, dann wieder nass und trübe, November, ein Aufruf die Trauer umzuwandeln, ein Aufruf, zu verwandeln, atmend, lebend, ohne dass das Splitternde, Fallende, Trennende dabei verloren ginge. Gerade das fallende Gegenlicht am Ende sagt mir sehr zu.

Sehr, sehr schön. Ich werde es noch weiter lesen und mitnehmen.

Herzlichst, mit Dank für dieses Gedicht,

Lydie

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 12.11.2009, 19:59

Hallo scarlett,

hier finde ich wieder beides, Dinge, die mir sehr gefallen... das requiem des windes, die messingtöne (das ist Klang und Farbe, schön!) im blätterfall, das sich einrichten müssen, die trennende ...wand, das fallende gegenlicht...
also fast alles... :-)

Was mich jedoch auf der Bildebene irritiert, sind die offenen Wunden, auf die Blätter fallen? Ich weiß auch nicht, ob es nach dem Requiem noch die Benennung der Wunden braucht? Ich dachte dann, ob es nicht auch „über offener/aufgewühlter/aufgebrochener... Erde“ sein könnte?

diesseits der trennenden glaswand

und das splittern der luft
bunt zu atmen

Wenn da die Glaswand ist, und danach das Splittern der Luft, dann sehe ich die Glaswand splittern, das Trennende würde aufgehoben... war das so gedacht? Ein Splittern der Luft kann ich mir auch irgendwie schlecht vorstellen.
(Ein bisschen gruselig finde ich diese Glaswand im Zusammenhang mit dem Requiem, als könnte man irgendwie hinüberschauen? Oder es wäre ein gläserner Sarg? Vielleicht auch nur meine seltsame Assoziation... :rolleyes: )
Vielleicht könntest du auch nochmal einen musikalischen Bezug zum Requiem herstellen und die nüchterne Sprache aus: „es gilt, sich einzurichten“ weiterführen. Denn ich weiß nicht, ob ich das „bunt atmen“ dem Gedicht glaube, ob diese Kraft es so zu sehen schon da ist, im Gedicht begründet ist, und ich glaube das allgemeine "bunt" kann für mich im Vergleich mit den wunderbaren Messingtönen nicht mithalten.

in diesen herbst
legt der wind ein requiem

messingtöne im blätterfall
über aufgebrochener erde

es gilt
sich einzurichten

diesseits der trennenden wand

die luft zwischen den Sätzen
im fallenden gegenlicht
zu atmen

Weißt ja, wie immer nur Anregungen und Gedanken. ;-)

Liebe Grüße
Flora

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 12.11.2009, 20:33

Hallo Scarlett!

gefällt auch mir gut :-) Lediglich beim "trennenden" frage ich mich, ob es wirklich sein muss... "Diesseits der Glaswand" würde für mich schon vieö trennendes enthalten, und ein Partizip reicht in einem so kurzen Text ja auch - jedenfalls für meinen Geschmack ;-)

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Lydie

Beitragvon Lydie » 12.11.2009, 23:20

Nun, Ferdi, eine Glaswand muss ja nicht unbedingt als trennend empfunden werden. Sie schützt ja auch, gewährt Einblick und so... Ich empfinde es nicht als Doppelung, zumal nicht im "Reigen" der Adjektive des Textes.

LG

Lydie

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 12.11.2009, 23:41

Hallo Lydie,

ich habe aber auch "diesseits der Glaswand" geschrieben - und das diesseits, dem ein unausgesprochenes jenseits zur Seite steht, hat in Zusammenhang mit einer Wand (aus welchem Material auch immer) doch etwas deutlich trennendes. Aber das ist nur meine Sicht, jede/r darf das anders sehen :-)

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

scarlett

Beitragvon scarlett » 16.11.2009, 08:10

Hallo in die Runde!

Ihr habt sehr viel Nachdenenswertes und Kluges zu meinem Gedicht gesagt und mich damit gezwungen, es nochmal gründlich zu hinterfragen.

Es stimmt, es ist ein Stimmungsbild, in dem das LI von sehr viel Trauer geprägt ist und gleichzeitig will es nicht in dieser Trauer verbleiben. Es gilt, diese Trauer umzuwandeln, so wie ihr Lydie und Mucki das formuliert habt, auch die Assoziationen zu Kirchenfenster, Licht in Kirchen sind ganz in meinem Sinne. Schön, das dass funktioniert.

Flora, du hast zielsicher die Stelle mit der "offenen wunde" angesprochen, bei der mir auch etwas "mulmig" war.
Und du hast Recht, durch das Requiem und ja, eigentlich auch das Splittern (unabhängig davon, wie man das nun verstehen mag), wird der Kontext geschaffen, der das direkte benennen eigentlich überflüssig macht - vielmehr gefällt mir der Vorschlag mit der "aufgerissenen erde" (zunächst sollte der Text den Titel "friedhof" tragen ... )

Das "splittern" hingegen werde ich nicht abändern, ich will es auch nicht groß weiter erklären, ich glaube nur, dass sich damit sehr Vieles verbinden lässt.
Und ja, die "glaswand" - "als könnte man irgndwie hinüberschauen" ... genau, Flora, warum nicht?

Das "bunt atmen" - LI nimmt ja die Herbstfarben wahr, optisch. Es gilt aber, diese Farben nicht nur als etwas Äußerliches zu begreifen, sondern sie sich trotz allem zu eigen zu machen, den Schmerz, der durch das Splittern entsteht, umzuwandeln und durch das Splittern hindurch wieder etwas Ganzes, Rundes, Buntes zu erkennen ... auch wenn das im fallenden Gegenlicht sicherlich schwierig ist.

Hallo Ferdi,
auch du hast Recht, was das "trennende" bei der Glaswand anbelangt. Durch das "diesseits" wird ein "jenseits" suggeriert, ganz klar, und somit ist das Partizip eigentlich überflüssig. Ich werde es mal ohne probieren ...

Liebe Rosebud, es freut mich, dich mal unter einem meiner Gedichte zu lesen, und dank dir für das gefühlvolle Mitgehen.

Merci euch allen vielmals - und sollte etwas ganz Wesentliches unberücksichtigt gebleiben sein, bitte nochmals melden.

Liebe Grüße

scarlett

Max

Beitragvon Max » 16.11.2009, 10:11

Liebe Scarlett,

ich mag den Ton, in den Du uns mit Deinen gedichten versetzen kannst. Das ist sehr gekonnt.
Schön sind auch die synästhetischen Passagen etwa

legt der wind ein requiem

messingtöne im blätterfall


Die einzige Stelle, an der mein Lesen hängen bleibt ist

und das splittern der luft
bunt zu atmen


Das "splittern" und "bunt" ist mir gefühltsmäßig einfach ein Adjektiv zu viel. Ich weiß, dass mein Vorschlag

und die splitternde
luft zu atmen


einen anderen Ton erzeugt, weniger hoffnungsfroh, aber für mich wäre der Text dann noch ein wenig stimmiger (aber ich bin ja auch nur der Leser ;-) ).

Liebe Grüße
Max

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 16.11.2009, 15:40

Liebe Scarlett,

habe nix zu meckern, das Gedicht berührt mich und gefällt mir. Habe schon mehrfach alles gelesen,

Viele Grüße
Fux

aram
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Beitragvon aram » 16.11.2009, 17:46

liebe scarlett,

diesen text finde ich ebenfalls schön.

die vollzogenen änderungen sagen mir zu - darauf hätte bzgl. 'trennende' und 'wunde' seinerzeit nach dem ersten lesen auch meine rückmeldung gezielt - allerdings hatte ich nicht kommentiert, da ich dem eindruck unterlag, dass dich änderungsvorschläge von meiner seite, die immer wieder an ähnlichen punkten ansetzen, eher 'nerven' würden -

nun freut mich, dass meine befürchtung, jedenfalls was die sachebene betrifft, offenbar unbegründet war.

zur jetzigen form des textes -


in diesen herbst
legt der wind ein requiem

messingtöne im blätterfall
über aufgerissener erde

es gilt
sich einzurichten

diesseits der glaswand

und das splittern der luft
bunt zu atmen

im fallenden gegenlicht



- habe ich noch drei anmerkungen:

(a) 'über offener erde' gefiele mir deutlich besser als 'aufgerissener' - hat mit assoziationsgehalt, klang und mehrsilbigkeit zu tun.

'über offener erde' wirkt auf mich wunder, körperlicher und berührter; es läßt die assoziation zum offenen grab eher zu - 'aufgerissen' berührt nur scheinbar heftiger

die analogie 'viersilbigkeit mit kurzem vokal+doppel-s' zwischen 'messingtöne' und 'aufgerissen' steht im gegensatz dazu, dass das damit evozierte unterschiedlichen bereichen angehört

(b) 'im fallenden gegenlicht' als letzte zeile scheint mir zu viele attribut-informationen zu enthalten, um zum ende des textes ruhig zu werden/ zum punkt zu kommen. ich bevorzugte 'im fallenden licht' oder 'im gegenlicht' - ersteres sagt mir für sich genommen mehr zu; für letzteres spräche der bereits vorhandene 'blätterfall'

(c) ich würde eine etwas dichtere setzung zu s3/s4 bevorzugen, weiß aber nicht wie


in diesen herbst
legt der wind ein requiem

messingtöne im blätterfall
über offener erde

es gilt
sich einzurichten

diesseits der glaswand

und das splittern der luft
bunt zu atmen

gegen fallendes licht




'das splittern der luft bunt zu atmen im ... licht' ist (trotz der blumigkeit) ein ausdruck, mit dem ich im kontext unmittelbar verbinden kann, gefällt mir.


sehr gern gelesen. liebe grüße.

Herby

Beitragvon Herby » 17.11.2009, 23:49

Liebe scarlett,

nach all den Vorkommentaren fällt meiner nun eher mager aus. Aber mit jedem Lesen gibt dein Gedicht mir mehr. Besonders die ersten beiden Verse haben es mir angetan.

Herzliche Nachtgrüße
Herby

scarlett

Beitragvon scarlett » 18.11.2009, 07:22

Lieber Max, Ben und Herby

danke euch für die Rückmeldungen. Es freut mich, dass dieser kleine Text offenbar für jeden etwas transportiert, auch wenn dir, Max, das "bunt" ähnlich wie Flora als etwas "zu viel" erscheint. Aber als Hoffnungsträger brauche ich dieses kleine Wörtchen, es entsteht tatsächlich ein anderer Ton, ließe ich es weg.

Hallo aram,

ich habe mir jetzt absichtlich etwas Zeit gelassen, um über deine Anmerkungen nachzudenken, die mir sehr schlüssig erscheinen. Ich habe das Gedicht in deiner Version auf mich wirken lassen, habe versucht, nachzuspüren, in mich hinein zu horchen, ob die vorgenommenen Änderungen noch meinen Absichten entsprechen.
Ich habe das Gefühl, dass es genau diese beiden Änderungen sind, die mir - natürlich unbewusst - offensichtlich irgendwo gefehlt hatten.

Vor allem die "offene erde" kommt meiner - anfangs doch etwas zu direkt formulierten "offenen wunde" näher als die "aufgerissene erde", die mir jetzt doch als zu heftig erscheint und sich auch sonst nicht so gut dem allgemeinen Duktus des Gedichtes einfügt.
Zwar hatte Flora dieses Wort auch schon vorgeschlagen, aber da ich wohl noch zu nah am Text dran war, hab ich das überlesen, bzw. hab mir dasjenige rausgepickt, dass mir in der Situation näher an der Wunde dran war.

Ich werde daher deine Version gerne übernehmen und denke, dass ich den Text nun als abgeschlossen betrachten kann.

Lieben Dank!

Grüße an alle

scarlett


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