Maria

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Last

Beitragvon Last » 22.11.2008, 10:56

Wenn morgens früh, bevor der Wecker klingt,
ein neuer Tag um alten Atem ringt,
sucht sie sich ihre Sorgen aus.
Ein Hahn, der kräht: Ich steh nicht auf!
Weil doch der Himmel einen Abend bringt.


Er kräht zugleich, er sei bereit.
Ein jedes Tier hat seine Zeit.

Bald ziehen helle Flecken auf dem Flur
die ersten Bahnen einer vagen Spur
nach der Gardinen Wunsch und Norm
- den Lichtern geben sie die Form.
Dann ächzt der Boden unter Schritten stur.

Der Boden ächzt, er sei bereit.
Der Hahn kräht zwei, bald kräht er drei.

Sie taucht die Hände in das Becken Pflicht,
greift dabei durch ihr Spiegelbildgesicht
und die Gedanken wehen wirr.
Vom Vortag spült sie das Geschirr,
bevor ein Teller fällt und bricht.





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Änderung: Einen Gedankenstrich aus Vers 11 gestrichen
Zuletzt geändert von Last am 17.04.2009, 23:13, insgesamt 2-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 27.11.2008, 17:53

Hallo Last,
Dabei gibt es wohl zwei Verständnisse von Heiligkeit, die ich zusammenführe damit beide scheitern: ein religiöses und ein a-religiöses.

das ist m.E. genau die Crux an diesem Text. Das Verständnis von Heiligkeit. Du möchtest beide Verständnisse scheitern lassen, das gelingt dir auch, aber - zumindest bei mir - auf eine Weise, die du wohl kaum intentiert hast. Denn:
Beide Verständnisse sind gebunden an eine bestimmte Rhetorik; das Religiöse verblumt das Geschilderte, das A-Religiöse negiert das Verblumte.
Ich versuche nun das Negierte zu negieren, indem ich dem Subjektiven sein Subjekt nehme und dem A-Religiösen damit den Boden der Rhetorik raube.

Dein Versuch, das Verblumte zu negieren, ist m.E. so stark, dass ich als Leser selbst die Negierung nicht mehr erkenne, sondern eine Reduktion bzw. ein Weglassen sämtlicher religiösen Aspekte. Daher können mich deine Zeilen nicht überzeugen, sprich, deine Rhetorik scheitert, zumindest bei mir. Aber das ist ja nicht deine Intention. Du möchtest den religiösen und den a-religiösen Aspekt scheitern lassen.
Aber, vielleicht bin ich ja noch nicht richtig wach? ;-)
Saludos
Mucki

Last

Beitragvon Last » 27.11.2008, 19:22

Gabriella hat geschrieben:Dein Versuch, das Verblumte zu negieren, ist m.E. so stark, dass ich als Leser selbst die Negierung nicht mehr erkenne, sondern eine Reduktion bzw. ein Weglassen sämtlicher religiösen Aspekte. Daher können mich deine Zeilen nicht überzeugen, sprich, deine Rhetorik scheitert, zumindest bei mir. Aber das ist ja nicht deine Intention. Du möchtest den religiösen und den a-religiösen Aspekt scheitern lassen.
Aber, vielleicht bin ich ja noch nicht richtig wach? ;-)


Naja, was soll ich dazu noch groß sagen. Ich kann nur meine Auffassung demgegenüber stellen, dass in dem Text eigentlich alles religiös ist. Damit ist uns beiden leider wenig geholfen.
Ich verstehe nicht ganz, was du hier mit "Weglassen sämtlicher religiöser Aspekte" meinst. Ich gebe dem Gedicht einen bestimmten Titel und pflanze ein religiöses Bild (den Hahn) ein. Damit meine ich: man kann den Text als Religiösität verstehen. Was sollte ich denn sonst noch tun? Reicht es denn nicht seinen eigenen Stoff zu verarbeiten? Wenn ich mein Gedicht "Maria" nenne, referiert es dann nicht auf z.B. der Mariendichtung, auch ohne, dass ich es weiter erwähne?
Wenn ich den Finger auf einen Moment lege und sage: das bedeutet für mich Maria, dann habe ich doch genug getan. Ich muss doch die Sphären der Vergleichbarkeit in dem Gedicht nicht mehr öffnen. Es reicht doch, wenn dieser Kontext von außen mitschwingt; als Leser muss man den ja nicht zwangsläufig raus- oder reinlesen.
Wenn ich sage, der Text lässt zwei Positionen scheitern, dann meine ich damit eben solche Positionen, die durch die Geschichte der religiösen Dichtung mitschwingen. Wenn ich sage, dass ich ihnen die Rhetorik nehme, bmeine ich, dass ich ihnen genau das Argument vorenthalte, mit dem sie meinen Text für sich einnehmen könnten.
Warum lasse ich das außen vor? Weil die Debatten um die Existenz Gottes, um das Leben nach dem Tod, um den Ursprung aller Dinge, um die richtige Moral, etc. für das, was ich für religiös halte, keine Rolle spielen.
Wenn du nun den Text liest und findest, er sei überhaupt nicht religiös, er aber am Rande Religiöses mitschwingen lässt, das du durchaus bemerkst, dann kann das für dich ein Signal sein, muss es aber nicht.
Wenn das für dich eben kein Signal für ein anderes Verständnis von Religiösität, sondern nur für ein Fehlen dieser im Text ist, dann funktioniert natürlich meine Rhetorik nicht. Dann finden wir ja keinen gemeinsamen Ansatzpunkt. Sobald die Vorhandenheit des innertextlichen Sinns in Frage gestellt wird, hat der Text sowieso verloren.

Es ist ja nicht so, dass es mir mit religiösen Texten das erste mal so geht. Auf Verständnis treffe ich damit doch relativ selten. Ich werde es aber weiterhin, von Zeit zu Zeit, versuchen ;-)

LG
Last

Mucki
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Beitragvon Mucki » 27.11.2008, 19:50

Hallo Last,

m.E. haben es religiöse Texte immer schwer. Außerdem schreibe ich dir ja nur meine ganz subjektive Meinung, klar. Vielleicht lesen andere es anders, erfassen deine Rhetorik durchaus. ,-)
Saludos
Mucki

Last

Beitragvon Last » 16.04.2009, 17:22

Als eine kleine Bestätigung habe ich das dieswöchige Focus-Interview mit Peter Sloterdijk empfunden. Der Beitrag trägt den vielheißenden Titel "Die Krise wird Gott", ein Slogan, der für mich symptomatisch für das steht, was ich auch hier anzusprechen versucht habe. Grundlage des Interviews ist Sloterdijks Buch "Du musst dein Leben ändern".

Näher erläutert Herr Sloterdijk dies als Antwort auf folgende Frage:

Focus: Am Ende des Buches kommen Sie auf die aktuelle Krise, von der Sie schreiben, sie sei die einzige Authorität, die heute sagen dürfe: "Du musst dein Leben ändern!" Das heißt?

Sloterdijk: Ein so invasiver Satz braucht einen starken Absender. Dessen Position wäre in einer "religiösen" Kultur evident. Wir hingegen müssen die Stelle des starken Absenders umbesetzen, und darum tausche ich am Ende des Buches Gott gegen die Krise aus. Die Krise hat heute genauso viel Authorität wie in anderen Zeiten ein Gott. Im Übrigen wurde Gott in seinen besten Zeiten immer als etwas vorgestellt, was mit der Stimme des Realen zu uns spricht.


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