Seichter Sonntag

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Last

Beitragvon Last » 24.07.2008, 12:07

Seichter Sonntag

Irgendwo auf dem Hügel
fehlt dem Morgen sein Horn.
Niemand bläst und niemand hört.

Das Schweigen liegt auf der Wiese.
Ein erster Tau. Wir schlafen.
Vor dem offenen Fenster
wiegt sich der dünne Stoff der Gardine
und erzählt nicht, was ihn stört.



-------------------------------------------------------------------------------------

[Edit]: Z. 6 'Hinter' geändert in 'Vor'
Zuletzt geändert von Last am 26.07.2008, 14:06, insgesamt 1-mal geändert.

Last

Beitragvon Last » 05.08.2008, 01:51

Hallo Lisa und Aram,

es freut mich, dass ihr den Text genießen konntet. :-)

An den zwei Streichungsvarianten denke ich nun schon ein paar Tage herum. Momentan sehe ich dabei das "irgendwo" im Kern aller Kürzungsgelüste. Etwas hemmt mich aber dieses Wörtchen zu streichen. Ich bin mir noch unsicher ob dafür einfach Stolz oder ein anderes Empfinden, das näher am Ton des Gedichts liegt, verantwortlich ist.

Mein Gefühl sagt mir, dass dieser Text eher durch seinen Ton wirkt, als durch seine Bilder. Die Bilder sind weder besonders neu noch besonders elegant. Der Ton in dem sie gesprochen werden verleiht ihnen eine ungewöhnliche Perspektive, die den Reiz des Textes ausmacht.

Wenn ich also diesen Ton getroffen habe, frage ich mich natürlich: Woran liegt das? Man trifft ja nicht immer, aber würde gerne...
Eine Ursache sind sicherlich die Verstrickungen zwischen den benachbarten Versen vor allem in der zweiten Strophe (in der ersten Strophe befinde ich sie für etwas 'plumper').
Trotzdem sehe ich in der ersten Strophe -obwohl sie ja die deutlich kritisiertere ist- wichtige Funktionen verankert, ohne die auch die zweite Strophe an Wirkung verlieren würde.
Erstens trägt da dieser Reim hört/stört seine Wurzel. Er schenkt der Schlusszeile eine besondere Betonung(?).
Inhaltlich liefert sie zum einen eine bildliche Vorbereitung zur zweiten Strophe in Form einer Kamerafahrt, die das Idyll mitträgt, zum anderen steht nur dort, dass auch niemand hören, was niemand sagen wird. Das ist für mich ein wichtiger Punkt.
Dann sind da die gehauchten Endlaute der ersten Strophe (Hügel, Horn, hört). Sie geben dem Text einiges an "Seichtheit", auch in der Melodie des Zeilenflusses, die ich evtl. durch Streichen des "irgendwo" zerstöre(?).
Letztlich hemmt mich also die ursprüngliche Absicht, beiläufig ein selbst- und einverständliches Idyll zu schaffen und seinen Preis zu nennen, der gleichzeitig sein Wert ist. Das Streichen der gesamten ersten Strophe schließe ich deswegen schonmal aus. Obwohl das natürlich die bereits von Trixie, Ferdie und Perry genannten Probleme auf einen Schlag lösen würde.

Beim "irgendwo" zögere ich noch. Es hat durchaus den Charakter eines Füllworts und ist deshalb schon prinzipiell ein Streichkandidat. Sicherlich nutze ich hier auch diese Füllworteigenschaft. "Auf dem Hügel/..." hört sich in meinen Ohren noch abgehackt an (vielleicht in ein paar Tagen/Wochen nicht mehr).
Meine Lösung, mit der ich mich auch noch nicht abfinden kann, lautet erstmal: Auf einem Hügel. Damit kommt das unbestimmte Element, das sehr wichtig für den Text ist wieder in den ersten Vers. Leider ist es ein allgemeines Unbestimmtes, während das "Irgendwo auf dem Hügel" ein allgemein unbestimmtes, aber in der Erzählperspektive bestimmtes Unbestimmtes ist.

Besonders der letzte Satz verrät vielleicht meine Verwirrung.^^ Für eine Antwort wäre ich deshalb sehr dankbar und wenn sie auch aus einem kurzem "Nein" besteht.

LG
Last

Max

Beitragvon Max » 05.08.2008, 10:25

Lieber Last,

mir gefällt die Diskussion um das "irgendwo" hier, denn von meinem ersten Sprachempfinden her hätte ich auch für "weg daamit" gestimmt. Dann aber kommt es mir vor als sei mit dem "irgendwo" ein kleiner Trick verbunden, der mir an sich gut gefällt. In dem "Irgendwo" steckt nämlich ein Stück Erwartungshaltung, dass da doch ein Horn erschallen sollte, denn eigentich funktioniert "irgendwo" ja nur in einem Satz wie

Irgendwo auf dem Hügel
erschallt ein Horn.


Dann gibt es ein Horn, das sich nur nicht genau auffinden (Germanisten mögen neuerdings "verorten" - grässlich) lässt. Bei

Irgendwo auf dem Hügel
fehlt dem Morgen sein Horn.


gibt es ja gar kein Horn, es fehlt also streng genommen überall - durch das "irgendwo" wird für mich, stärker noch als durch "fehlen", die Erwartungs ausgedrückt, es möge doch eines geben.

Liebe Grüße
Max

Last

Beitragvon Last » 05.08.2008, 11:13

Hallo Max,

danke für den Kommentar. So hab ich das noch gar nicht betrachtet. Ich verstehe aber was du meinst. "Irgendwo" ist ein Adverb, während "auf dem Hügel" eine Präpositionalphrase ist. "Irgendwo" fungiert also nicht nur als Ortsangabe sondern auch als Verstärker des Verbs.

Schön deine (etwas mathematisch anmutende) Erklärung, wie sich das irgendwo klammheimlich in ein überall verwandelt. Daran kann man -wenn man mich denn in diese Tiefe interpretieren möchte- den Stimmungswandel festmachen, der ja die Aussage trägt.

Ich fühle mich jetzt etwas gestärkt darin das Wörtchen zu behalten. Die Streichungsgedanken scheinen mir eher in die Richtung zu gehen, dass es sich um eines von den Worten handelt, die in einem lyrischen Text normalerweise nichts zu suchen haben, weil es zu allgemein und zu sehr Füllwort ist um Teil eines eleganten Sprachgebrauchs zu sein.
Ist es aber dem zum Trotz ein Bedeutungsträger, dann ist das ein Argument es doch zu behalten. Man könnte sicher immer noch streichen, wenn diese Bedeutung überlesen oder als nebensächlich eingestuft wird. In dem Fall wäre ja die sprachliche Eleganz wichtiger. Nun ist aber ein Leser gefunden, der die Bedeutung liest (und obendrein noch besser ausdrücken kann als der Autor selbst). :-)

LG
Last

Max

Beitragvon Max » 05.08.2008, 11:20

Nun ist aber ein Leser gefunden, der die Bedeutung liest (und obendrein noch besser ausdrücken kann als der Autor selbst).


Der Autor hat ja den guten Text geschrieben, das muss langen ;-)

Lieeb Grüße und merci
Max

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 13.08.2008, 13:23

Lieber Last,

etwas spät, aber klar meld ich mich auch nochmal zum "Irgendwo" zurück. Meine Kritik am "Irgendwo" kam gar nicht aus der Füllwortecke, sondern eher daher, dass ich "irgendwo" und das Bild das dem/einem Hügel das Horn fehlt als Konkurrenzprinzip empfinde - sie zielen nämlich meiner meinung nach darauf, das gleiche zu evozieren - dadurch ist das Irgendwo für mich tautologisch. Aber auf was zielen sie? Du hast das Wort selbst genannt: das Unbestimmte, das Weite würde ich auch sagen - die Weitung des Textes, die seine Treffsicherheit ausmacht, weil sich ein Gefühl (wie) räumliche Wehmut einstellt, das ist die Stärke des Textes. Und deshalb finde ich, dass das Irgendwo die Kraft des Bildes einschränkt, da es dieselbe Funktion hat.
Und mir gefällt auch nicht, dass das Irgendwo das Geräusch an einem bestimmten Ort auf dem Hügel verortet, wo es dann fehlt, ich sehe das Bild eher so, dass es zwar schon irgendwo auf dem hügel ist, aber wie man auch nicht weiß, wo ein tier, das auf dem hügel lebt, sich gerade befindet, es aber doch immer an einem bstimmten ort ist, so verstehe ich auch den ort, wo das horn fehlt..

"Auf einem Hügel" finde ich besser, aber noch nicht perfekt, warum überhaupt "auf"? Vielleicht ohne? Vielleicht Plural? Ich überlege noch..

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: Bing [Bot] und 6 Gäste