Vigilien

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 17.07.2006, 16:21

Vigilien*

Seit dir

schlägt Pik
in meiner Brust

zur Nacht

wild
voll anmutigem Schmerz

bitter getränkt
mit den Tropfen
der Violen

poliert
um den abgesprochenen Sternen
zu leuchten

Der Tag?

Ein Irrlicht



* Vigilien = Nachtwachen

(Titel vorher Leben - Vigilien)
Zuletzt geändert von Lisa am 18.07.2006, 13:20, insgesamt 2-mal geändert.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 18.07.2006, 13:24

Liebe leonie,

danke, das ist sehr lieb...:-)

lichel: nur zu den violen...dass das auch bratschen sind, dafür kann ich ja nichts :-). ich habs genommen, weil Violen ja auch Stiefmütterchen heißen...(auch wenn ich mir das so nicht ausgedacht habe, der begriff, obwohl ich ihn eigentlich gar nicht kenne, kam mir einfach in den Kopf...dann guckte ich nach und er bestand die "Prüfung" :-). Stiefmutter bitte auch wiederum nicht zu wörtlich nehmen, das sind alles Bilder (ich habe keine Stiefmutter). Aber es sind eben bestimmte Tränen/Regen...
zu dem anderen später...wenn diese irren zeichen weg sind :-)
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

aram
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Beitragvon aram » 18.07.2006, 14:42

ist seit dir wirklich so schlimm (es ist zeitlich gemeint...). Über die Stelle diskutiere ich gern noch, sie ist vielleicht noch nicht ausgelotet. Aram, was sagst du zu den Varianten?


also ich finde das absolut klar. mit 2 worten alles gesagt.

dass diese zusammenziehung/ verkürzung schwer verständlich sein soll, kann ich kaum nachvollziehen - ist es außer für gerda noch für andere schwierig?

überhaupt kein vergleich mit der 'alten' variante, die würde so gar nicht ins gedicht passen, finde ich.

die 'mutter' zu nennen empfände ich ohnedies als schwächung, das gedicht ist auf diesen bezug nicht angewiesen, allgemeingültiger.

zu den violen - finde ich nicht tragisch, dass es nicht eindeutig ist (mir war's auch nicht ganz klar ob blumen oder geigen, hat mich nicht gestört), denn von der klangschwingung passen die musikalen violen auch gut ins bild, finde ich.
(interessanterweise nämlich genau dieser klang der viola, also zwischen violine und cello)

"tropfen" finde ich auch gut, es ist schon klar dass dies kein "dummes bildlogisches missverständnis" ist, sondern genau so gesagt sein will
(tja, meister können sich halt mehr erlauben als gesellen :-) :scherz!:

was mich anfangs noch am ehesten etwas 'ab-gehalten' hat von diesem gedicht (um auchmal was 'negatives' zu sagen :-) ist das vielfältig zusammengestellte (im gegensatz zu texten wie colla parte), der anschein von collage - bis ich es wiederholt las und dann der (oben schon beschriebene) eindruck bei mir entstand, das ist die konstruktion des lyr.ich, die da durchschimmert - durchaus mit aufwand zusammen gehalten, durchaus poliert - dies aber mit enormer, 'verzweifelter' energie und hingabe, bis es tatsächlich gelingt, und perfekt da steht, 'um den sternen zu leuchten'.

lichel, @treue: na ja, ohne 'treue' wär das ganze doch gar nicht notwendig...

liebe grüße,
aram

lichelzauch

Beitragvon lichelzauch » 18.07.2006, 15:11

aram, ich weiß auch nicht mehr genau, wie, aber irgendwie war mir beim ersten Lesen deiner Antwort nicht ganz klar, dass sich Treue auf das Ich bezog... dann stimme ich dir natürlich zu.

(Ich finde Viola als Musikinstrument immer noch besser :eusa_shhh: )

Jetzt wo du das mit dem poliert sagst, sage ich doch nochmal, wie man das "abgesprochen" deuten könnte.
Oft kommt es hier ja vor, dass bestimmte Bilder als "abgenutzt" dargestellt werden (Regenbogen, Tränen, Sonnenaufgang, was weiß ich, das Herz in der Brust wäre auch so eins gewesen). Die Stelle lässt sich damit auch als reflexive Aussage über das Gedicht selbst deuten: seht her, so kann man selbst die "abgesprochenen Sterne" anleuchten. Und genau in dem Sinne, wie eine alte Metapher zu neuem Leben erweckt wird (Meta-Ebene), erweckt, wie du sagst, das Pikherz sein tristes Leben wieder mit bitterem Schmerz.

Ist jetzt nicht ganz ernst gemeint, wollte es nur mal so anmerken. So was fasziniert mich eben. Siehe auch den Reimversuch, den Thomas hier eingestellt hat: http://www.blauersalon.net/online-liter ... php?t=2415

Wie sonst ist "abgesprochene" zu verstehen?

Grüße,
l

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 18.07.2006, 15:34

Hallo lichel,

deine Einschätzungen zu abgesprochene sind gar nicht so abwegig. Wenn es mir auch auch eigentlich um die bedeutung (etwas jemandem absprechen...das lyr. Du dem lyr. Ich) geht, so musste ich ehrlich gesagt ziemlich mit mir ringen, die Sterne stehen zu lassen, aber sie wollten es eben :-)....das stimmt schon mit der Metaebene...

Gegen die Konnotationen (ich würdige das jetzt einfach mal als eine solche herab *grins*) der Bratschen habe ich eigentlich gar nichts einzuwenden...denn das mit der Melodie stimmt für mich auch...

zur treue: da fällt mir doch der satz endlich ein, der schon immer in meine sigantur sollte (ja, ich weiß ,aram, ich versuche sie dann bei den texten zu löschen :-))....nur kann ich mich nie zwischen zwei sätzen entscheiden, welche ich nehme...
diesen jedenfalls meine ich (Kierkegaard):

"Den lieben, der einen aus Liebe unglücklich macht. Das ist die wahre Reflexionsformel der Liebe."


So ist es doch auch mit der höchsten Treue...

pandora

Beitragvon pandora » 18.07.2006, 15:37

liebe lisa,
(keinen der vorangegangenen kommentare gelesen)
ein wirklich guter text mit genialen bildern, den man, so glaube ich, wirklich nur über die gefühlsebene aufnehmen kann. oder?
das LYRICH erlebt eine unruhige/schlaflose nacht, in der sich phantastische bilder aneinanderreihen (wie im kino?), aufsummieren, möchte ich fast sagen. der folgende tag - bedeutungslos, noch zu fern.
violen habe ich im übrigen als PHIOLEN gelesen.

lg

p.

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 18.07.2006, 16:11

Sehr interessant, pan, die Assoziation zu Phiolen hatte ich auch gleich.

Ich möchte noch darauf hinweisen, daß in der Wortwurzel von Violen auch die Worte voilent und Violenz stecken, deren Bedeutung mir im Gedicht mitzuschwingen scheinen.

moshe.c

Max

Beitragvon Max » 18.07.2006, 21:12

Lieber Lichel, lieber Zauch, vor allem auch liebe Gerda, lieber Schwanenschrei, liebe Lisa

ich kann Dir nur soooooo recht geben, Lichelzauch, auch ich wäre wirklich nicht auf die Idee gekommen, denn Titel beliebig zu nennen. Ohne Herrn Hoffmann (den E.T.A.) wüsste ich vielleicht nicht, was er bedeutet (insofern verstehe ich das "speziell"), aber einen Text der davon, handelt, dass man (im übertragenen Sinne) in der Nacht lebt nicht mit Nachtwachen in Einklang bringen zu können, finde ich ... irritierend.

Das "Seit Dir" würde ich unbedingt stehenlassen, weil es in einem Wort sagt, was besser 10 Wörter auch nicht sagen können (wenn Du schreibst: seit es meine Mutter gibt, ist das ja auch nicht klarer, es lenkt nur die Interpretation auf Mutter, was aber witzlos ist, denn wenn man nicht weiß, wer und ob jemand genau gemeint ist, ist es auch gleichgültig ob man ihn/sie Mutter nennt).
Allein über das doppelt besetzte Pik könnte man nachdenken. Aber wenn ich es recht bedenke ... gehört es so :-)

Liebe Grüße
max

Gast

Beitragvon Gast » 19.07.2006, 15:17

Liebe Lisa und allen anderen hier, Dank für krit. Erläuterungen, auch meine Einwände betreffend,
Letztlich Lisa entscheidest du, und nicht die Majorität der Stimmen für oder gegen Änderungen in deinem Gedicht.
Ich habe mir die erste Zeile für mich ergänzt bevor du darüber geschrieben hast. Die Ergänzung macht sie keinesfalls besser, da muss ich allen Recht geben, die das auch so sehen.
Ich hatte vorgeschlagen, liebe Lisa, darüber nachzudenken evtl. statt "Seit dir"
"Seit du..." zu nehmen...
Vielleicht hast du es überlesen.
Ich finde, dass das „Du“ in gleicher Unvollständigkeit, allerdings mit 3 Pünktchen, für mich mehr an Möglichkeiten zulässt...
Vielleicht bin ich aber auch nicht modern genug oder der Grammatik zu fest verhaftet, für mich ist das
Du schreibst, dass das Gedicht für dich bildlogisch ist.
Aber transportiert es dieses auch?
Ich mag deine Texte, sie sind außergewöhnlich ja, dennoch glaube ich, dass sie manches Mal nicht das tragen was du intendierst, sondern dass erst nach Erklärungen möglich ist, eigene Gedanken mit deinen Worten zu verknüpfen.
Es ist nicht ein Qualitätsmerkmal wenn ein Gedicht besonders gut verstanden wird, ich weiß, aber auch keines, wenn erst nach langem Überlegen und Erläuterungen, sich herausschält, was gemeint ist…
Du merkst ich lege bei dir die Messlatte sehr hoch, ich hoffe, du weißt weshalb.
Zwar schreibt Trixie "goldig", dass es ja gerade die großen Dinge wären, die man oft nicht versteht…, aber… :confused: ich möchte auch großartige Dinge verstehen, deine Gedichte zähle ich dazu, und ich kann das Gegenteil zu Trixies Spruch als Erklärung abliefern:
Sind nicht die einfachen Dinge, die wirklich kostbaren? (im Sinne von groß und großartig) – oder -
Ist nicht gerade die verständliche Beschreibung komplizierter Dinge und Vorgänge in einfachen Worten eine besondere Kunst? :smile:

Gedichte sollten sich nicht zu karg, oder gar speziell an den Leser wenden... denn dann hat vielleicht, nur der geübte Leser, oder Menschen die dich näher kennen, den vollkommenen Genuss...

Dennoch verneige ich mich, vor deinen Kreationen.

Besonders liebe Grüße
Gerda

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 20.07.2006, 10:15

Liebe Gerda,

Ich mag deine Texte, sie sind außergewöhnlich ja, dennoch glaube ich, dass sie manches Mal nicht das tragen was du intendierst, sondern dass erst nach Erklärungen möglich ist, eigene Gedanken mit deinen Worten zu verknüpfen.
Es ist nicht ein Qualitätsmerkmal wenn ein Gedicht besonders gut verstanden wird, ich weiß, aber auch keines, wenn erst nach langem Überlegen und Erläuterungen, sich herausschält, was gemeint ist…
Du merkst ich lege bei dir die Messlatte sehr hoch, ich hoffe, du weißt weshalb.
Zwar schreibt Trixie "goldig", dass es ja gerade die großen Dinge wären, die man oft nicht versteht…, aber… ich möchte auch großartige Dinge verstehen, deine Gedichte zähle ich dazu, und ich kann das Gegenteil zu Trixies Spruch als Erklärung abliefern:
Sind nicht die einfachen Dinge, die wirklich kostbaren? (im Sinne von groß und großartig) – oder -
Ist nicht gerade die verständliche Beschreibung komplizierter Dinge und Vorgänge in einfachen Worten eine besondere Kunst?

Gedichte sollten sich nicht zu karg, oder gar speziell an den Leser wenden... denn dann hat vielleicht, nur der geübte Leser, oder Menschen die dich näher kennen, den vollkommenen Genuss...


(huh, mein längstes je zitiertes Zitat? :-) )

Zu dem seit du... für mich ist das etwas anderes als seit dir...seit dir ist für mich unumgänglicher...ich denke, da es einige verstanden und lesen können, wage ich es, es stehen zu lassen.

Und der ´Rest: Du hast vollkommen recht mit dem, was du sagst und ich versuche mich von Gedicht zu Gedicht darin zu üben, nicht zu hermetisch zu werden, das ist natürlich ein "Auf" und "Ab". ich mache das sicher nicht bewusst, ich möchte mich nicht absichtlich verschließen, die Wortdichte oder die Bilder entstehen einfach auf diese Art. Ich versuche aber, mich da etwas lesbarer machen (soweit das inhaltlich eben geht). Allerdings muss ich sagen: was aram und lichel herausgelesen haben zeigt mir, dass man auch an diesen Texten schon sehr dicht dran sein kann...vielleicht muss man auch bestimmte Gefühle (also ganz bestimmte Eindrücke) haben, um sie aus den gedichten zu lesen (ich meine nicht gefühle generell, sondern ganz bestimmte formen von gefühlen)...sie in einer bestimmten Art selbst schon erlebt haben, um mit den texten etwas anfangen zu können...das kann ja durchaus sein.

Trotzdem versuche ich stets an diesem Aspekt zu arbeiten und Bild und Inhalt in angemessene Verhältnisse zu setzen.

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 20.07.2006, 13:25

@Lisa:
Darf ich ohne Interpretations-Versuche sagen, dass mich dein Gedicht wieder einmal sehr berührt? Mich in eine unbestimmte Stimung mitnimmt, eine 'poetische Leere' (nicht: Inhaltslosigkeit!) erzeugt? Und eine schöne Traurigkeit in sich trägt? Ich mag sowas einfach...

danke, Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 20.07.2006, 17:47

Lieber Tom,
wow, danke...das freut mich sehr....das ist ja das, worum es in Texten gehen soll...danke!
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
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Gast

Beitragvon Gast » 20.07.2006, 22:38

Liebe Lisa,
dass du deinen außerordentlichen kreativen Gedanken sehr bearbeitest, glaube ich dir gern.
Vielleicht wächst dir ja auch immer mehr das Verstehen deiner Leser entgegen.
Jedenfalls wünsche ich dir das. :daumen:

Liebe Abendgrüße
Gerda

Max

Beitragvon Max » 20.07.2006, 22:48

Liebe Gerda,

das ist eine spannende Frage, die eigentlich allgemeiner diskutiert gehört: Will ein Gedicht/ein Autor Verständnis oder die von Tom beschriebene poetische Leere. Meine analytische Seite, die ich ja mag und die mich immerhin ernährt ;-), hasst es, wenn sie ein Gedicht nicht versteht im herkömmlichen Sinne. Aber umgekehrt: Wenn Du Musik hörst, sei es Beethoven, sei es Rachmaninov, sei es Jarett, was verstehst Du dann?
Wenn Du musikalisch geschult bist, verstehst Du vielleicht, wie der Komponist das macht, eine solche Stimmung zu erzeugen, was harmonieren muss und was gerade nicht etc. aber gewissermaßen Dein tiefstes Verständnis ist eine "poetische Leere". Wenn es jemandem gelingt dies mit Worten zu erzeugen, ohne dass ich wütend werde, weil ich nix verstehe: Chapeau.

Liebe Grüße und bonne soiree, hier wird es langsam kühler
Max

Cornelia

Beitragvon Cornelia » 20.07.2006, 23:41

Hallo Lisa,

erst mal ein großes Lob für den Inhalt und den Ausdruck.

Nur ein ganz kleines Detail würde ich ändern.

Nach mehrmaligen Lesen habe ich "wild" vor "zur Nacht" gelesen.
Also

wild
zur Nacht

voll anmutigem Schmerz


und ich muss sagen, das gefällt mir auch sehr gut


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