Totengräber ( an H.Hesse gerichtet)(geändert)

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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leonie
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Beitragvon leonie » 04.07.2006, 10:00

Totengräber

Still!
Ich will
deine weichgespülte Weisheit
nicht hören.

Mein Salzregenfaß ist leer,
der Zauber schmeckt fade;
mein Herz liegt brach,
der Bindungen müd.

Die ihr Freunde
sein könntet,
haltet euch
fern von mir.

Ich will keine
Worte mehr sagen,
die meinen Mund
als Kugeln verlassen.
Keine Liebe gebären
für den Allesfresser.

Ach, dürfte ich
mich an
Ewiges gewöhnen!

Ich bin erschöpft,
die Arme baustammschwer.
mit Fingern
gleich ausgerissenen Wurzeln.

Ich will nicht mehr
Gräber zuschaufeln
über denen,
die ich liebe.

Zuviele.
Sie warten
täglich
auf mich.

Du aber stehst abseits,
lächelst mild und erbarmungslos,
reibst deine feinen
Schriftstellerhände.

Wendest dich heiter,
um mühelos
eine weitere Stufe
zu meistern.



Erstfassung:

Totengräber

Still!
Ich will
deine weichgespülten Worte
nicht hören.

Mein Salzregenfaß ist leer,
brach liegt mein Herz.

Die ihr Freunde
sein könntet,
haltet euch
fern von mir.

Ich will keine
Worte mehr sagen,
die meinen Mund
als Kugeln verlassen.

Keine Liebe gebären
für den Allesfresser.

Ich bin müde,
die Arme so schwer.
Die Finger
gleichen ausgerissenen Wurzeln.

Ich will nicht mehr
Gräber zuschaufeln
über denen,
die ich liebe.

Zuviele. Und sie warten
täglich
auf mich.

Du aber stehst abseits,
lächelst mild und erbarmungslos,
reibst deine feinen
Schriftstellerhände.

Wendest dich heiter,
um mühelos
eine weitere Stufe
zu meistern.
Zuletzt geändert von leonie am 07.07.2006, 10:16, insgesamt 5-mal geändert.

Bloodbrother

Beitragvon Bloodbrother » 07.07.2006, 13:33

Hallo leonie, Hesse würde sich über dieses Gedicht sicher freuen.
Gruss

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Beitragvon leonie » 07.07.2006, 21:44

Lieber Michael,
erst mal herzlich willkommen! Meinst Du das ernst, dass Hesse sich freuen würde? Da bin ich mir nicht so sicher....
Liebe Grüße
leonie

Louisa

Beitragvon Louisa » 07.07.2006, 22:04

-Ich denke auch, dass er sich eher die dünne Haare raufen würde...

Schau, er guckt schon ganz zweiflerisch: http://www.atmann.net/alpaction.htm

Dein Kompromiss, sowie die weichgespülten Worte (auch schön für jede Hausfrau zu lesen) gefällt mir sehr gut! Ein schönes Gedicht, leonie!

Liebe Grüße, louisa

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Beitragvon leonie » 08.07.2006, 15:12

Liebe Louisa,
ja, da krieg ich ja richtig Angst....Zum Glück weilt er ja nicht mehr in diesen Sphären...
Liebe Grüße
leonie

Gast

Beitragvon Gast » 08.07.2006, 15:29

Ach leonie, jetzt muss ich mich doch noch einmal zu Wort melden, ich bin ja kein Hessefan und mir hat das so richtig gut getan, das es ihm garantiert nicht gefallen würde.
Ich finde Hesse nämlich mehr als scheinheilig, deswegen kann ich auch seiner Dichtung nicht viel abgewinnen.

Liebe Grüße
Gerda

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Beitragvon leonie » 10.07.2006, 15:35

Liebe Gerda,
freut mich, wenn mein Gedicht Dich gefreut hat!
Mich nervt vor allem, dass dieses Gedicht „Stufen“ bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten zitiert wird als der Weisheit letzter Schluss über Abschied und Neuanfang. Da wollte ich doch mal gegenhalten.
Liebe Grüße
leonie

Max

Beitragvon Max » 11.07.2006, 14:35

Liebe Gerda, liebe Leonie,

on Hesse nun wirklich scheinheilig ist, kann ich nicht mehr gut nachvollziehen, aber viele waren wohl nach dem Weltkrieg der Meinung. Dass allerdings der Hesse nun ständig zitiert wird und welche Bedeutung ihm dabei beigemessen wird, dafür kann er ja nichts. Dazu erinner ich noch mal daran, dass das Gedicht Stufen im Glasperlenspiel auftaucht, also noch nicht einmal Hesses volle Meinung wiederspiegeln muss ...

Übrigens finde ich Hesse als Romancier viel stärker als als Lyriker.

Liebe Grüße
Max

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Beitragvon leonie » 11.07.2006, 15:40

Lieber Max,
ja, da hast Du recht. Es ist ein ungerechtes Gedicht. Vielleicht trägt zu meiner Entschuldigung bei, dass ich es in einer Nacht geschrieben habe, in der ich geträumt habe, ich müsse das Grab meines Sohnes zuschaufeln. Das war ziemlich schrecklich. Und dann fiel mir auch noch dieses Stufen-Gedicht dazu ein und hat mich wütend werden lassen. Ich habe diese Antwort noch in derselben Nacht geschrieben...
Das Risiko, aus dem Zusammenhang gerissen zititert zu werden, mißverstanden und ungerecht behandelt zu werden, geht ein Schriftsteller vermutlich ein, sobald er etwas veröffentlicht...
Ich verstehe meinen Text auch als Momentaufnahme, nichts Endgültiges. Nach einem versöhnlicheren Traum hätte ich vielelicht etwas völlig anderes geschrieben oder werde es vielleicht noch tun (hoffentlich irgendwann einmal wieder).
Liebe Grüße
leonie

Julek

Beitragvon Julek » 16.07.2006, 10:51

Hi Leonie,

ich freue mich, dass ich jetzt, im neuen Forum, doch noch was zu diesem Gedicht schreiben kann...ich wollte das nämlich schon tun, doch sah mich dann einer Sperre gegenüber, diesmal nicht der Eigenblockade, die häufig am Schreiben hindert, sondern technischer Natur.

Erst einmal großes Lob, ich finde dieses Gedicht stark, egal, ob nun der Bezug zu Hesse erkennbar ist oder nicht. Diese außerwerklichen Bezüge
machen es interessanter.....aber nicht besser. Ich mochte diese sprachlich
packende Auflehnung sofort, auch als der Hesse-Bezug von Dir noch nicht ausgedrückt worden war. Es kam hier die Kritik, er müsse, wenn schon, deutlicher geknüpft werden...finde ich nicht, das Werk soll doch auch noch unabhängig davon funktionieren. Und das tut es ja auch.
Sicher weißt Du auch, dass Hesse überhaupt nicht so innerlich ausgeglichen war, wie sein Stufen-Gedicht nahelegt.....daher ist deine in Verse gegossene Kritik schon berechtigt, und Hesse selbst hätte sie sicher richtig aufgenommen.

Einen Kritikpunkt habe ich doch: Ich stolperte beim Lesen über "baumstammschwer" - das ging - und geht - mir überhaupt nicht runter. Ich war nicht überrascht, dass dieses Wort neu ins Gedicht gesetzt wurde, denn genau so hört es sich an. Die alte, schlichte Form gefiel mir da entschieden besser, obwohl ich anerkenne, dass dadurch eine Verbindung zu "Wurzeln" hergestellt wird.

Aber das ist meiner Ansicht nach alles, sonst nur ehrliches Lob und Staunen.

Grüße
Julek

Max

Beitragvon Max » 16.07.2006, 15:53

Liebe Leonie,

jetzt erst, spät, hoffentlich nicht zu spät, ein flinker Kommentar auf Deine Antwort: ich wollte nie sagen, dass Dein Gedicht ungerecht ist, ich bin nur ein wenig für den alten Hesse in die Bresche gesprungen, den ich mal - trotz aller Fehler - für seine Einsichten (z.B.im Siddhartha) verehrt habe.

Liebe Grüße
Max

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Beitragvon leonie » 16.07.2006, 16:32

Hallo Julek,
danke, dass Du Dich noch zu diesem Gedicht gemeldet hast. Ich habe nicht ganz verstanden, ob Du die erste Version besser findest. Ich habe mir beide noch mal durchgelesen. Ich bin mir nicht sicher, onb man, wenn man nur die neue kennt, merkt, dass sie nachgerüstet wurde mit Bezügen zu dem Gedicht. Ich habe für mich beide Versionen gespeichert und bin im Moment an dem Punkt, wo ich alles noch mal sacken lassen muss, um selbst Abstand dazu zu bekommen und es dann noch mal mit neuen Augen anzusehen.
Dir noch mal Danke!!!

Hallo Max,
ehrlich gesagt finde ich selbst, dass das Gedicht ungerecht ist, auch, wenn Du das gar nicht sagen wolltest. (hihi). Ich meinte ja eigentlich nur das Stufen-Gedicht, aber der Teil mit den „Feinen Schriftstellerhänden“ geht ja von der sachlichen Kritik an einem Gedicht sehr ins Persönliche. Dabei weiß ich gar nicht, wie seine Hände aussahen, hab das nur phantasiert, dass sie nicht gerade von harter Arbeit wie Gräberschaufeln gezeichnet waren. Das ist schon ungerecht von mir...
Ich hoffe, Du denkst nicht, ich hätte die Kritik in den falschen Hals bekommen oder übel genommen, gar nicht.

Liebe Grüße
leonie

Max

Beitragvon Max » 16.07.2006, 17:00

Liebe Leonie,

nein, das habe ich nicht gedacht, ich wollte nur selbst vorsichtig sein (außerdem kenne ich Deinen falschen und Deinen richtigen Hals ja agr nicht ;-) - hast Du zwei Hälse ;-)?)

Liebe Grüße
max

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Beitragvon leonie » 16.07.2006, 17:06

Hallo Max,

ja klar, bin schließlich im Atomkraftzeitalter aufgewachsen. Die viele Strahlung machts möglich! Mit allem, was im falschen hals landet, kann ich mich gelegentlich dann gründlich ausko...Sehr praktisch, reinigt, die Seele gleich mit...

Strahlend (über Deinen netten Humor!)

leonie

Julek

Beitragvon Julek » 19.07.2006, 19:08

Hallo Leonie,

keine Ahnung, ob man das "Nachrüsten" allgemein merkt. Mich hat jedenfalls nicht verwundert, dass "baumstammschwer" im Original noch nicht stand. Nachdem ich mein allererstes Gedicht in diesem Forum eingestellt hatte, wurde ich ebenfalls auf ein in den Augen des damals Kommentierenden störendes Wort aufmerksam gemacht. Und tatsächlich handelte es sich um ein Versatzstück, das ich kurz vorher noch eingefügt hatte. Das fand ich schon verblüffend! Also, ich denke, man kann es manchmal schon spüren.
Und ja: Ich finde die erste Version deswegen besser, weil mich dort nichts stört. Das soll dich aber nicht beunruhigen, deswegen ist die zweite Version ja dennoch gelungen, und möglicherweise im Urteil der Mehrheit die "gültigere".

kritische Grüße :-)

Julek


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