Szenerie

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Caty

Beitragvon Caty » 15.03.2008, 07:34

1.

Szenerie

Wankelmütig, die Hände voll Schlaf,
Steigt Morgen auf über der Stadt.
Gefesselt, trunken noch vom Nachtlied,
Der Himmel über den Dächern.

Sternentanz, Wolkengebrüll.
Ein Streif hinterm Haus, die Vogelwelt,
Diese verrückte Vogelwelt, erwacht
Zuerst. Baumgerippe, schwarz, bedächtig,

Stehn gegen Frühlicht, erzittern unterm Stoß
Des Dämmerwinds. Den die Nacht
Auslöschte, der hundertfenstrige Häuserblock,
befreit, ungebärdig, schickt Menschenlaut

Auf die Straßen. Ich seh dich, gefangen
In Träumen, Feuerhimmel, über den
Hohen Ahornbäumen, steigen und steigen,
Hauch der Erde im Schweif.



2.

Louisas geschrumpfte Version:

Szenerie

Die Hände voll Schlaf,
steigt der Morgen über die Stadt.
Betrunken der Himmel über dem Dach.

Sterne, Vögel, Verrückte
erwachen zuerst.

Baumgerippe zittern im Frühlicht
Der hundertfenstrige Hausblock,
spuckt Menschenlaute aus.

Du bist im Traum. Im Feuer.
Über den Ahornbäumen
steigt die Erde Dir nach.

Louisa

Beitragvon Louisa » 16.03.2008, 23:20

Guten Abend Caty!

Mm...schwierig... Beim Titel habe ich mir ein Filmbild vorgestellt. Sehr genau, pikant und klar.

Aber das hier ist eigentlich keine "Szenerie" für mich... Eine Szenerie ist ja wie ein Bühnenbild, eine Kulisse...sehr strukturiert und deutlich.

Für eine "Szenerie" hätte es nicht so viele Worte benötigt...und das ist auch mein Problem bei diesem kleinen Werk. Es hat zuviele Worte. Aram ist ja Meister im Verknappen, aber hier würde ich es auch gerne versuchen.

Wenn man in den Strophen alles (für mich) unnötige streicht, würden sie lauten (die artikel verändere ich auch mal ein bisschen...)

Szenerie

Die Hände voll Schlaf,
steigt der Morgen über die Stadt.
Betrunken der Himmel über dem Dach.

Sterne, Vögel, Verrückte
erwachen zuerst.

Baumgerippe zittern im Frühlicht
Der hundertfenstrige Hausblock,
spuckt Menschenlaute aus.

Du bist im Traum. Im Feuer.
Über den Ahornbäumen
steigt die Erde Dir nach.



Das sind natürlich extreme Streichungen und vielleicht gefällt es Dir so nicht mehr, weil Du glaubst etwas anderes sagen zu wollen, weil der Sinn sich verändert hat (oder auch nicht!?), weil zuviel fehlt...

Aber meiner bescheidenen Meinung nach wäre es so, in diesem Stil (es muss nicht GENAU SO sein) näher am Titel einer "Szenerie" und auch weitaus zeitgemäßer, poetischer.

Wenn Du Dich auf die einzelnen Bilder konzentrierst, auf deine penible Vorstellungskraft... und diese dann in genaue Worte übersetzt :smile: ... So ein bisschen wie die Inhaltsangabe eines Filmes ist das... Dann brauchst Du Worte wie:

"Wankelmütig" oder "vom Nachtlied" oder "schwarz, bedächtig" (bei den BAUM-GERIPPEN) etc..das brauchst Du alles nicht.

So ein einzelnes Wort wie "Der Morgen" besitzt schon mal sehr viel Kraft und Assoziationsmöglichkeiten... Genauso ist es bei den "Baumgerippen" - Das ist ein gutes Beispiel... "Baumgerippe" - Das Wort an sich löst schon so viele Adjektive im Leser aus, dass Du ihn damit alleine lassen kannst... Du brauchst die ganzen Adjektive nicht.

Bei einer Filmszene sagen die Darsteller ja auch nicht: "Setz Dich auf mein bequemes, rotes Sofa!"

Sondern entweder nichts oder: "Willst ein Glas Sherry?"

...und dann setzen sie sich... Jeder weiß oder ahnt schon, was das Sofa erdulden wird :smile: ... Aber niemand spricht darüber... Es ist Fantasie. Es wird nicht erwähnt welche Polstergarnitur es trägt...

Vielleicht kannst Du diesen Hinweis auf dein Gedicht übertragen.

Wie gesagt: ich bin sehr überrascht, wieviel Stärke und Wortgewalt es eigentlich besitzt, hinter den Wortgardinen... Wenn man die aufreißt, mag ich es sehr gerne!

Dasselbe meinen wahrscheinlich auch die Kritiker, die einem sagen: "Die Idee ist gut." :smile:

Nein, hier sind es eben nur die Wortanhäufungen, die die Szene verstecken...

Schönen Abend!
l

Caty

Beitragvon Caty » 17.03.2008, 07:50

Danke, Louisa, das ist nett, dass du dich mit meinem Gedicht beschäftigst. Ich bin eine Freundin des Opulenten, das Knappe, das Karge ist mir zu trist. Wirst du ja schon bemerkt haben. Selbstverständlich kann man das Gedicht auch knapper schreiben (ob Aram dafür geeignet ist, weiß ich natürlich nicht, ich habe noch nichts von ihm gelesen, aber dann wäre es eben Arams Gedicht und nicht meines). Es ist schon so, dass man die Eigenart eines Autors akzeptieren muss, auch wenn man selbst das alles ganz, ganz anders schreiben würde. Ich für meinen Teil würde so manch knappem Text ganz gern etwas Lebendigkeit einhauchen, halte mich da aber zurück. Denn man kann, es ist wohl so, nicht alles zugleich haben. Den Titel "Szenerie" habe deshalb gesetzt, weil morgens, wenn sie gerade erwacht, die Stadt wie auf einer Bühne vor einem liegt.

Wenn es dir recht ist, setz doch deine Fassung neben/unter meine. Überschrift: Wie man es besser macht. Das ist nicht bös gemeint, ich bin aber der Meinung, in deinem jugendlichen Eifer bist du doch etwas sehr radikal. Deine Fassung ist gut zu lesen, sie gibt sich einen "modernen" Anschein, aber im Grunde, Louisa: Die Jugend, die Jugend, die die Kargheit liebt, ist bedauernswert, sie ist alt, bevor sie gelebt hat. Konzentration auf das Wesentliche, worin sich Kargheit ja ausdrückt, ist eine Erfahrung der Reife, und die ist nicht angeboren. Und ich habs gern, wenn junge Menschen jung sind und schon mal über die Stränge schlagen, die Strenge bringt die Erfahrung mit sich, sie kommt von selbst. Mir gefällt deine Radikalität, ist sie doch ein Zeichen von Jugend. Und doch, Louisa, hätte ich gern meine Eigenart und die "Seele" des Gedichts gewahrt.

lg Caty

Louisa

Beitragvon Louisa » 17.03.2008, 08:40

Mmm....hihi....ich weiß nicht, ob das Stilmittel "Reduktion" ein Anzeichen von jugendlicher Frische ist, denn auf den Berliner Theaterbühnen wird Heutzutage ebenso abgebaut wie in der neusten literarischen Strömung. Ich möchte da niemand zwingen sich einem "Trend" anzuschließen, aber ich finde es auch nicht falsch sich damit auseinanderzusetzen, was später einmal in den Geschichtsbüchern über unsere Epoche stehen wird.

Natürlich können sie dann auch schreiben: "Einzelne Dichterinnen, wie Caty XY bevorzugten dennoch einen pompöseren, barockartigen Stil und weigerten sich wehement sich der Reduktionsströmung anzupassen." :smile:

Ich finde das ja mutig. Aber für mich liegt der Ansporn immer darin: "Fein, jetzt haben wir diese Strömung, bei der alles auf den Kern geschrumpft wird... Was kann man damit Neues schaffen? Was lässt sich daran noch spannender machen?"

... Aber die traditionelle Dichtung ist natürlich auch ein Pfeiler dieser Brücke, klar :smile: ...

Ich finde nicht, dass meine Version "besser" ist :smile: ... Nur klarer und "aufgeräumter" kommt sie mir vor. Deine Bilder wirken so besser, habe ich gedacht...

Hihi...aber ich stelle sie gerne daneben aus :smile: !

Danke für deine Antwort und einen schönen Montag!
l

Caty

Beitragvon Caty » 17.03.2008, 09:47

Da hast du völlig recht, Louisa, die Reduktion ist kein Anzeichen von jugendlicher Frische, solltest du das so gelesen haben, hast du mich missverstanden. In jungen Jahren eher ein Anzeichen dafür, dass da niemals ein Aufbruch war, ein Welterobernwollen, man hat "alles schon hinter sich". Was die Theater angeht, hier meine ich vor allem das Regietheater, so interessiert es mich nicht mehr. Das ist bedenklich, nicht für mich, sondern fürs Theater, sie spielen nur noch für sich selbst und für ein Publikum, das letztlich nichts mehr versteht. Theater halte ich aber auch nicht für den Maßstab, an dem sich Lyrik messen sollte.

Ich weiß nicht, wie du das meinst: außer Caty XYZ? Ich spitze nicht darauf, in irgendeine Schublade namens "Postpostmoderne" gesteckt zu werden. Ich maße mir überhaupt keine Schublade an. Ich schreibe Gedichte, und zwar so, wie mir um Herz und Schnauze ist, nach bestem Wissen und Können. Was nach meinem Tode ist, interessiert mich nicht das Schwarze auf der Grabschaufel. Ich finde es reichlich lächerlich und anmaßend, mit Blick auf den Nachruhm schreiben zu wollen, verehrte Louisa.

Besser finde ich deine Version in keinem Fall, wenn sie sich auch so unkompliziert liest wie eine Gebrauchsanweisung. Nimmt sie dem Gedicht doch Atmosphäre und somit den Leser nicht mit. Ein Gedicht, das darauf verzichtet, die Emotionen des Lesers nicht anzusprechen, verpufft wirkungslos, so übersichtlich (hier muss ich an Loriot im Restaurant denken) es auch geschrieben sein mag. Deine Version ist mit der linken Gehirnhälfte geschrieben, die rechte lag brach, und das merkt man ihr eben an. Zum Gedichtschreiben aber braucht man beide. Sowieso, das Nachschreiben eines Gedichts hat viel mit Dilettantismus zu tun.

lg Caty

Louisa

Beitragvon Louisa » 17.03.2008, 16:25

Mmm....so meinte ich das nicht mit dem "Nachruhm" - Ich dachte nur es ist nützlich sich mit der Zeit zu beschäftigen, in der man lebt.

Abgesehen davon ist das, was ich sage nicht so narzistisch wie es klingt :smile: .... Ich denke nur wie viele Existenzialisten, die ihr Leben aus der Perspektive des Todes betrachten, so meine ich.

Wie kann ich in diesem Leben Handeln, um das Bestmöglichste aus meiner Existenz zu schöpfen?

Ich habe mich dafür entschieden großen Wert auf Worte und Liebe zu legen :smile: - ich weiß nicht wie es Dir dabei geht -

...und wenn ich "Wert auf Worte lege", finde ich es wichtig, nicht zuviel auszusprechen, sondern in der Dichte zu bleiben ("Ge-DICHT")... was auch mir oft schwer fällt.

Das ist dann für mich keine Frage der Postmoderne oder der Mode mehr, sondern eher die Frage: Was kann ich erreichen?

Es wird mich persönlich nicht sonderlich interessieren, was ist, wenn ich tot bin, denn ich bin ja tot :mrgreen: ... Aber ich möchte dennoch etwas erreichen, dass länger lebt, als ich. Etwas, dass andere Menschen ergreift/erfreut/berührt... Ich finde das gar nicht so albern oder arrogant, aber vielleicht täusche ich mich. Ich finde einfach die Kreativität ist neben der Liebe eines der wenigen Dinge, die eine Existenz wesentlich werden lassen.

Mm....welches Gedicht nun "besser" oder "schlechter" ist, interessiert mich nicht :smile: ... Ich weiß nur, dass meines dichter ist und das mir das persönlich wichtiger ist, als ein "Feuerwerk an Herzensworten" :smile: ...

Das ist gar nicht bös´gemeint, ich finde Dein Gedicht hat einen anderen Stil und Du sicher andere Lebensansichten, als ich... Aber es macht mir Freude mit Dir darüber zu diskutieren und zwei unterschiedliche Formen nebeneinander zu präsentieren...

Das ist ein angenehmer Austausch für mich, ohne "besser" und "schlechter" - Sie stehen beide auf demselben Treppchen, wenn Du so willst.

Bis bald :blumen:
l


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