Nachtlichter

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Caty

Beitragvon Caty » 31.12.2007, 08:13

Nachtlichter

Ich lausche. Den Nächten nach
Als alles noch Spiel war, träumerisches
Ernsthaftes Spiel.

Bilder, gaukelnd, flirrend
Steigen auf aus dem Dunkel
Meiner Traumzeiten: Häuser, zerbombte
Straßen, Steine, Sandwege. Der Schrei
Der Jungen, wenn die geborstene
Mauer stürzt. Ein Vogelbeerenbusch,
Geheimer Bienenhort
Der sättigende Holunder im Herbst.
Die prallen Gärten der Glücklichen labten die
Räuberischen Straßenkiebitze. Teergeruch
In den Ritzen des Seidenasphalts.

Die Stube
Weißgescheuerte Fußbodenbretter
Kunstreich gehäkelte Deckchen.
Der Kleiderschrank, das Vertiko
Das wunde ferne Bild des Vaters.
Gerüche der Küche, das ärmliche Mahl
Das immer mundete. Die schönen Hände
Der Mutter in ihrem Schoß.
Das Pappendach unsres Hauses neigte
Sich drüber. Beugte sich allezeit unterm
Krähengehack.

Fluss, schwarzes Gebreste
Hinterm Haus, nahmst das Kind
Mit auf den Grund, wo der arme
Wassermann haust, im
Öligen Gewässer fliegende Fischlein
Erschreckende Scherenkrebse.
Nie schrie ich so sehr, so hilflos.
So ohne Schrei.

Bilder, ruft mich nicht, schlagt mich nicht
Schlafende Jahre, ins Gegenwärtige.
Gütige Nebel, verhüllt, was da war.
Alsbald wird es Frühling.
Wieder und wieder.
Zuletzt geändert von Caty am 01.01.2008, 09:06, insgesamt 1-mal geändert.

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leonie
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Beitragvon leonie » 31.12.2007, 12:59

Liebe Caty,

toll! Wirklich eindringlich, intensiv, Bilder heraufbeschwörend, die schmerzen. Und dann die letzte Strophe, der Versuch, sie zurückzuverbannen, die Hoffnung auf den Frühling mit seinen kürzeren Nächten, in denen die Lichter hinter der Helligkeit verborgen bleiben.

Ich habe ein paar ganz kleine Fragen:

Groß-Und Kleinschreibung am Satzanfang (wieder einmal): hier würde es mir helfen. Da ich aber vermute, dass Du es so lassen wirst: dann das "geheimer" auch groß?

"Kunstreich": ich kenne eher "kunstvoll", daher wirkt das Wort auf mich ein wenig konstruiert, fast gestelzt. Es mag aber auch daran liegen, dass ich "Kunstreich" nur als Nachnamen kenne eines ehemaligen Lehrers.

Hier müsste es für mein Empfinden "als" statt "wenn" heißen:

Der Jungen, wenn die geborstene


(mit "als" wäre für mich ein einmaliges Ereignis, mit "wenn" ein sich wiederholendes)


Wirklich ein Lesegenuss!

Liebe Grüße

leonie

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 31.12.2007, 14:48

Liebe Caty,

ich kann mich dem Lob leonies nur schlicht anschließen. Fast atemlos folgte ich deinen Zeilen und dem Bau der Bilder.

Unglaublich, wie du die findest und fügen kannst.

Lieben Gruß und Prosit 2008
ELsa
Schreiben ist atmen

scarlett

Beitragvon scarlett » 31.12.2007, 15:13

Liebe Caty,

ein sehr beeindruckendes Gedicht! Chapeau!

LG und Prosit 2008!

scarlett

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 31.12.2007, 19:01

Ich kann mich hier ohne Frage in den Chor der Lobenden einreihen.

(Hast du schonmal daran gedacht ein Theaterstück zu schreiben?)

Mit bestem Gruß fürs neue Jahr

Moshe

:daumen:

Caty

Beitragvon Caty » 01.01.2008, 09:05

Das Jahr ist sehr jung noch, keine neun Stunden alt, und ich wünsche euch allen: das Gute, das Schöne, Intaktheit des Leibes und der Seele, nicht zuletzt den Reichtum des Worts.

Der Text: eine Kindheitserinnerung, unschwer zu erraten. Schön, dass er zu euch spricht. Ich danke euch für eure Kommentare.

Leonie, deine Fragen: Klar, "geheime" auch groß, da hab ich nicht aufgepasst. Schon korrigiert. Danke vielmals.

"Kunstreich" ist eine übliche Wortbildung, ähnlich "wortreich" u. a. Es gibt ja viele Zusammensetzungen mit "reich".

Nein, nicht "als" statt "wenn". Setze ich "als", dann ist der Vorgang abgeschlossen. Ich will aber zeigen, dass die Bilder wieder aufsteigen, noch einmal erlebt werden, "zweite" Gegenwart sind.

Moshe, das Gegenwartstheater liegt mir nicht, das rauscht mir am A... vorbei. Ich schreib da lieber Prosa, wenn ich ausgesprochen Dramatisches gestalten will. Sowieso, ich glaub, der Alltag hat Drama genug.

Nun denn, auf die nächsten 365!

Caty


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