Deutsche Arbeiterfrau 1936-1945

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Caty

Beitragvon Caty » 29.07.2007, 08:19

Deutsche Arbeiterfrau 1936-1945

Großmutter, als sie deinem Mann endlich
Arbeit gaben nach sieben schrecklichen Jahren,
Zog kleines Glück ein in die armselige Stube, es gab
Wieder nen Happen im Magen, sonntags auch Kuchen,
Mal rausfahren an den Wannsee, Damenwahl
Beim Ball verkehrt, ein gestreiftes Kostüm,
die Bluse mit Rüschen. In den Arbeiterstraßen marschierten
Proleten in strammen Uniformen, dir taten sie nichts
Zuleide, du warst keine wie die Goldstein von nebenan,
du fragtest dich nichts, deine Welt war wieder in Ordnung.
Später kamen die Nachtbomber. Der Alte hatte noch immer
seine Drückebergerstelle, musste nicht an die Front.
Es hätte so schön sein können. Wäre da nur nicht
Der Krieg gewesen. Und als sie dir den Brief schickten,
Weintest du nicht, du warst eine stolze Mutter in Schwarz.
Nur manchmal fragte die Enkelin nach dem Vater,
Das ging vorüber. Sein Stahlhelmbild jedenfalls
Stand auf dem Vertiko. Und während der Alte schlief,
Wühltest du dich aus dem Bett, fielst auf die Knie,
Rangst die Hände. Womit meingott hattest du das verdient.

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 29.07.2007, 10:56

Hallo Caty,

Ich habe jetzt beide Texte mit großem Interesse gelesen und finde das Großelternpaar anschaulich dargestellt. Eigentlich wirkt der Text auf mich schon wie Prosa, aber die nüchterne, beschreibene Sprache formt ein passendes Bild von Mitläufern im Dritten Reich, die froh waren nach der Wirtschaftskrise wieder Arbeit gefunden zu haben.

Da es um ein bestimmtes Paar geht, macht die Jahreszahl 1936 ihren eigenen Sinn, vermute ich, vielleicht die Einstellung des Mannes.

"In den Arbeiterstraßen marschierten
Proleten in strammen Uniformen"


Klar, das Paar stammt aus der Arbeiterklasse. Bei diesen Aufmärschen marschierten aber nicht nur Proleten, auch in Arbeitervierteln. Wenn Prolet hier im Sinne von Primitivlinge gemeint ist, halte ich ihn nicht für passend, da das Wort Prolet gerade in dem historischen Zusammenhang für Arbeiter steht.

Noch ein bißchen Kleckerkram:
Mein Gott im letzten Vers auseinander schreiben und nochmal die Groß- und Kleinschreibung checken, die dir vermutlich Word durcheinander gewirbelt hat.

Über die Setzung brüte ich noch.

Schönen Tag

Jürgen

Caty

Beitragvon Caty » 30.07.2007, 06:21

Lieber Jürgen, danke für den Kommentar. Ich will diesen Text zu Moshes Projekt geben. Ich habe bewusst eine sachlich-nüchterne Sprache benutzt, der Text fordert sie heraus. Prosa ist es aber nicht.

Hier geht es nicht um Mitläufer, das ist zu einfach gedacht. Es geht darum, wie sich die Mehrheit des deutschen Volkes, und das waren eben Arbeiter, gegenüber denen verhalten hat, die ihnen alles genommen haben, wie sie sich von ihnen aufs Glatteis haben führen lassen und wie sie am Ende bezahlten, und dass auch nach diesem Desaster viele noch nichts begriffen hatten. Dass ich die Zeit ansetze auf 1936, hat damit zu tun, dass in diesem Jahr Hitlers "Wirtschaftsboom" einsetzte, das Rüstungsprogramm lag auf dem Tisch. Man sprach ja davon, dass Hitler die Arbeitslosigkeit beseitigt habe. In der Rückschau wurde von den "goldenen Jahren" Hitlers gesprochen (bis 1938). Ein Wort zum Wort "Prolet": Das war zu dieser Zeit das übliche Wort für den Arbeiter, ohne alle Wertigkeit. Heute hat es den Beigeschmack des Primitiven, war aber damals nicht so.

Dass ich darauf abhebe, dass Arbeiter in braunen Uniformen durch Arbeiterstraßen marschierten, ist kein Zufall. Denn es waren in der Mehrzahl Arbeiter, die den Nazis die Toten in ihren Kriegen stellten, ohne dass sie begriffen, wofür sie ihr Leben einsetzten und wofür sie missbraucht wurden.

Meingott lasse ich zusammengeschrieben, weil es sich hier um eine Redewendung handelt und nicht um die Anrufung Gottes, auch wenn dies dem Duden widerspricht. Die Groß- und Kleinschreibung ist in Ordnung und von mir so gewollt, ebenso die Setzung.

Nochmal schönen Dank.

Herzlich Caty

Orit

Beitragvon Orit » 05.08.2007, 21:36

Liebe Caty!

Was mir an deinen beiden Gedichten 1936-1945 gut gefällt, ist die PERSÖNLICHE Auseinandersetzung. Es geht nicht um Fakten und Analysen im Geschichtsunterricht, um irgend welche Menschen in einer "historischen Zeit" ... sondern um die eigenen Großeltern, mit denen jeder wohl etwas zu tun hat. Auch wenn ich nicht zwingend Lyr.Ich und Autorin gleichsetze, bedarf es doch der eigenen persönlichen Auseinandersetzung, um diese Gedichte so schreiben zu können.
Du bist nicht "sentimental", was ich nicht als "Mangel, Fehler" empfinde. Sondern die persönliche Sicht auf die Großeltern, die deshalb nicht "richtiger oder falscher" ist.

Liebe Grüße
Orit

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 06.08.2007, 19:50

LIebe Caty!

Ein unbestechlich klarer Blick, der sehr gut gesetzt ist bis in die Details.
Bestimmt eine Reflektion, die nicht allzugern gesehen wird.

Mit bestem Gruß

Moshe

Caty

Beitragvon Caty » 19.08.2007, 08:19

Liebe Orit, obwohl ich die Großeltern in beiden Gedichten anrede, so sind doch nicht wirklich nur sie gemeint, ich hätte sonst einen anderen Titel gewählt. Sams Vorwurf der Nestbeschmutzung trifft es darum nicht. Heute stehen wir vor wenn auch nicht denselben, so doch ähnlichen Entscheidungen, aber sie sind noch viel schwerwiegenderer, denn was uns heute erwarten würde, wäre noch schrecklicher. Ich sehe die Leute gerade in Kleinstädten und auf den Dörfern in Scharen den Nazis zulaufen (auch wenn in vereinzelten Städten größere Volksfeste gegen Aufmärsche stattfinden), die Administration reagiert halbherzig wie damals, wir haben eine furchtbare Arbeitslosigkeit (sie wird durch Minijobs und "Arbeitsgelegenheiten" bewusst kleingeredet, man wagt es sogar, vom Abbau der Arbeitslosigkeit zu sprechen), weitgehend politische Apathie - das Feld ist den Nazis bereitet. Aus diesem Grunde habe ich mich noch einmal daran erinnert: Wie war es denn damals? Nicht, dass ich wirkliche Angst hätte, zur nächsten Wahl könnten wir hier den Faschismus haben (dazu fehlen einfach bestimmte Voraussetzungen), aber der Marsch geht in dieselbe Richtung, er ist eben (und das ist nicht meine eigene Erkenntnis) in der Mitte der Gesellschaft angekommen, ohne dass man sie als Faschismus etikettieren müsste. Sicher gefällt ein klarer Blick nicht allen Leuten, Moshe, es schmerzt, wenn man auf Versagen angesprochen wird, man wehrt ab, man redet von "Nestbeschmutzung" (welch eine Dummheit, denn gerade das eigene Nest sollte doch am saubersten sein), falls jemand den Finger darauflegt. Die beiden Gedichte sind - pfui! - politische Lyrik, nicht vergleichbar mit sonstigen "Familiengeschichten". Habt Dank, dass ihr euch die Texte angesehen habt.

Herzlich Caty

Sam

Beitragvon Sam » 21.08.2007, 12:08

Hallo Caty
Sams Vorwurf der Nestbeschmutzung trifft es darum nicht.

Von Netzbeschmutzung habe ich nicht gesprochen. Dir muss mein Kommentar ja nicht gefallen, aber lies ihn wenigstens genau.
Meine Stellungnahme in dem anderen Ordner war eine rein auf die literarische Umsetzung deines Themas bezogene und keine politische/inhaltliche.



Bestimmt eine Reflektion, die nicht allzugern gesehen wird.


Sicher gefällt ein klarer Blick nicht allen Leuten, Moshe, es schmerzt, wenn man auf Versagen angesprochen wird, man wehrt ab, man redet von "Nestbeschmutzung" (welch eine Dummheit, denn gerade das eigene Nest sollte doch am saubersten sein), falls jemand den Finger darauflegt. Die beiden Gedichte sind - pfui! - politische Lyrik, nicht vergleichbar mit sonstigen "Familiengeschichten".


Eine solche Gleichsetzung von Ablehnung der literarischen Umsetzung (gerade bei politschen oder zeitgeschichtlichen Themen) mit der Ablehnung des Inhalts, unterdrückt - wenn auch nur im sehr kleinen Rahmen eines Forums - genau jenen Geist der Meinungsfreiheit, Toleranz und Demokratie, die der AutorIn so gefährdet sieht und vehement meint verteidigen zu wollen. Macht sie doch aus der rein subjektiven Meinungsäußerung zu einem literarischen Text eine politische oder gesinnungsoffenbarende Stellungnahme.

Von daher, immer fein vor der eigenen Haustür kehren!

LG

Sam

Caty

Beitragvon Caty » 21.08.2007, 20:07

Sam, ob du es nun denunziatorisch nennst oder Nestbeschmutzung - es kommt auf dasselbe heraus. Und dein Statement ist auch keine Meinungsäußerung lediglich zur literarischen Umsetzung, sondern durchaus zum Inhaltlichen. Aber wie du darauf kommst, dass ich den Geist der Meinungsfreiheit unterdrücke - Himmel hilf. Wusste ja gar nicht, was ich fürn Ungeheuer bin.
Caty


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