Zuhause

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Chiquita

Beitragvon Chiquita » 15.07.2007, 15:57

Zuhause




Als ich zurückkam, war das Haus leer
Außer den Wänden erinnerte nichts
an mein Leben
Die Worte hallten wider
Von der Gegenwart zur Gegenwart zur
Gegenwart
Der Putz war eine Kraterlandschaft
Tuchfetzen hingen in den Fensteröffnungen
So saß ich an die Wand gelehnt
mein Gesicht im Schatten
viele Stunden
ohne das Leben vor der Türe zu hören
bis mich eine dünne Staubschicht bedeckte
graue Haare, graue Augenwimpern
graue, nackte Zehen
Ich ließ mein Wasser gehen
und starrte auf die Lache zwischen meinen
Beinen
wie sie vor sich hinschrumpfte
Das Haus hatte kein Dach, so dass mich der
Regen wusch
Ich wünschte, ich wäre naß von meinen
Tränen
Wie lange war es schon dunkel?
Die Dunkelheit war ein großer Trost





07.06.2003

Caty

Beitragvon Caty » 15.07.2007, 16:44

Ja, Chiquita. Da ist einer nach Hause gekommen in ein Haus, das keines mehr ist. Sitzt und wartet, worauf, weiß er nicht. Will vielleicht nur mal ausprobieren, wie es sich in der Ruine wohnt, vielleicht aber hat er kein anderes Zuhause. Ich sehe da durchaus eine zweite Ebene, das ist gut. Großartige inhaltliche Verbesserungsvorschläge habe ich nicht, aber ein paar stilistische:

"Die Worte hallten wider/von der Gegenwart zur Gegenwart zur/Gegenwart": Welche Worte, mit wem spricht das Ich? Mit sich selbst? Ich schlag vor zu schreiben: von Gegenwart zu Gegenwart zu Gegenwart.

"ohne das Leben vor der Türe zu hören" - ist das wichtig? Dass da draußen Menschen sind, setze ich voraus.

"wie sie vor sich hinschrumpfte" - besser: wie sie schrumpfte.

"Das Haus hatte kein Dach, sodass mich/der Regen wusch": Besser zwei Hauptsätze: Das Haus hatte kein Dach, der Regen wusch mich.

"Die Dunkelheit war ein großer Trost": Hier bin ich im Zweifel, ob dieser Vers überhaupt noch notwendig ist. "Wie lange war es schon dunkel?" ist ein guter Ausklang für meine Vorstellungen.

Ein gutes Gedicht, Chiquita.

Herzlich Caty

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 16.07.2007, 12:55

hallo caty - zu deinen stilistischen verbesserungsvorschlägen:
"zur gegenwart zur gegenwart zur gegenwart" weil es sich um die verfluchte selbe gegenwart handelt: von der gegenwart zu der gegenwart zu der gegenwart. es gibt keine entwicklung mehr.
"die worte" müssen nicht gesprochen sein, sie können auch für die gedanken des "heimkehrers" stehen. sowie das ganze haus nicht unbedingt als reales szenario betrachtet werden muß.
"das haus hatte kein dach, so dass mich der regen wusch" den kausalen zusammenhang möchte ich gerne beibehalten. obwohl ich sagen muß, daß die zwei hauptsätze evtl. noch eindringlicher wären. mal sehen.
"die dunkelheit war ein großer trost" ist eine entscheidende aussage über das innenleben des lyr-ichs, das i-tüpfelchen des gedichts. würde ich diese zeile weglassen, hätte ich ein anderes gedicht.

besonders gut finde ich mein gedicht nicht, caty. ich stellte es ins forum, weil es sehr viel gefühl transportiert.

gruß
chiqu.

Caty

Beitragvon Caty » 16.07.2007, 17:39

Das Gedicht ist schon gut, denke ich. Mir jedenfalls gefällt es. Naja, und was das Gefühl angeht: Kein Gedicht lebt ohne Gefühl. Also ich finde es gut. Herzlich Caty

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 16.07.2007, 18:28

vielleicht habe ich mich da falsch ausgedrückt. die kunst lebt vom gefühl - sie wird aber mal mehr und mal weniger vom verstand in szene gesetzt, und wird auch mehr oder weniger vom verstand ausgelegt. dieses gedicht gehört zu jenen, wo ich den verstand weitgehendst ausknipste.

gruß
chiqu.

Edith

Beitragvon Edith » 16.07.2007, 22:27

Ja, ich glaube, ich fühle es!

Hallo Chiquita,
grundsätzlich kann ich mir das Gedicht vor Augen führen. Ich sehe die Trauer vor mir, weil das Zuhause verloren ist, unwiderbringlich und sich deshalb nichts mehr entwickeln kann. Ich sehe das lyrische ich da stehen, völlig in sich selbst verloren.

Diese Zeilen
Ich ließ mein Wasser gehen
und starrte auf die Lache zwischen meinen
Beinen
wie sie vor sich hinschrumpfte


geben mir persönlich nichts. Sie wären für mich verzichtbar. Es ist für mich auch nicht realistisch in einem sonst sehr realen Gedicht. Mich reißt es eher raus und ich denke mir: warum denn jetzt das? Und dann verzieht es mir das Gesicht ein wenig, weil ich mich ekle. Und das, finde ich, braucht das Gedicht gar nicht für seine Stimmung.
Aaaber: das ist (wie so oft) bestimmt Geschmackssache.

Insgesamt finde ich das Gedicht sehr gelungen - besonders, was die Stimmung angeht!

Herzliche Grüße,
Edith

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 17.07.2007, 18:04

danke für deine antwort, edith.
daß das lyr-ich das wasser unter sich läßt, ist etwas zutiefst menschliches und führt die tragik der situation noch deutlicher vor augen. das paßte sehr gut in mein bild. es ist denkbar, daß das lyr-ich verwundet ist und stirbt ...

gruß
chiqu.

Edith

Beitragvon Edith » 18.07.2007, 00:05

Natürlich chiqu., da hast du recht.
Und soeben hast Du mich noch an eine ganz andere Perspektive herangeführt und mir verdeutlicht, dass ich das Gedicht völlig anders verstanden habe...

Macht ja nichts. Das ist ja das Schöne an Gedichten :-)!

Grüße,
Edith


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