Die Poetentankstelle

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Chiquita

Beitragvon Chiquita » 23.06.2007, 13:18

(Zum Alte Schluuch)




Vergeblich suche ich die Leichtigkeit
finde etwas Zerstreuung beim Blättern durch die Lyrik
von Nazim Hikmet
weihnachtliche Illumination vor der Kneipentür
die Nacht hat sich den Tag gepackt
ich sitze auf einer abgewetzten Holzbank
das Bier griffbereit vor mir
gäbe es doch eine Poetentankstelle für das Auftanken
unserer leeren Köpfe
zu gegebener Zeit
an dem opulenten Arsch der Bedienung kommen meine
Blicke nicht vorbei
ihre Augen sind ständig entzündet, und ihr lächelnder Mund
wie eine Mondsichel -
die Kneipe ein kurzer Schlauch
Geborgenheit

Vergeblich suche ich die Leichtigkeit
Gedanken huschen wie lästige Fruchtfliegen vor meinem
Geist
die Reise vom Heute in das Morgen
ist Unruhe
bin ich der Gast, der auf der abgewetzten Holzbank sitzt
das Bierglas ansetzend
die Lyrik von Nazim Hikmet vor Augen
wie den opulenten Arsch der Bedienung?
gäbe es doch eine Poetentankstelle für das Auftanken
unserer leeren Köpfe
zu gegebener Zeit
die fremden Menschen rücken in mein Gefühl
als wären sie Kunstwerke einer liebevoll arrangierten
Ausstellung
Öllampen brennen auf den Kneipentischen
der freie Bauchnabel einer Frau, die sich streckt
die Mutter hebt das Baby aus dem Kinderwagen
und wiegt es an ihrer Brust
das kleine Wesen fasst sich einen Finger
unsere Augen leuchten

Die Nacht, die den Tag geholt hat
die Kälte der illuminierten Stadt im Winter
vergeblich suche ich die Leichtigkeit
ich leide unter einem chronischen Katarrh der Seele
gäbe es doch eine Poetentankstelle für das Auftanken
meines leeren Kopfes
zu gegebener Zeit





18.12.2005
Zuletzt geändert von Chiquita am 23.06.2007, 14:30, insgesamt 1-mal geändert.

Gast

Beitragvon Gast » 23.06.2007, 14:09

Hallo Ralph,

dieses war der Text, mit dem du dich vorgestellt hast und ich finde allein schon die Idee der Poetentakstelle, außergewöhnlich gut. Es ist auch anders zu verstehen, als den "Akku aufladen", hat einen andere Qualität, weil es nicht darum geht sich zurückzuziehen, sondern "voll Stoff" weiterzumachen.

Ja, das wäre schön, wenn man einfach an einer Zapfsäule auftanken könnte, aber so einfach geht das nicht ;-)
Man muss sich schon einlassen darauf und warten, dass die Ideen zu einem kommen, offen sei: Es nützt gar nichts wenn man versucht irgend etwas anzuzapfen, dann kommt in der Regel krampfhaft "Verzapftes" heraus.

Du hast die Kneipensituation, die Leere in den Köpfen (und dennoch sind die Menschen alle irgendwie beschäftigt) treffend geschildert, wie ich finde. Atmosphärisch dicht.

M. E. müsste es "abgewetzt" heißen? (Im Sinn von abgerieben)
verwetzt ist Präfix von "wetzen" = rennen.

Liebe Grüße
Gerda

Ps Ich meine, es wäre vielleicht besser, nicht täglich einen Text zu posten, dann kommen Interessierte mit dem Lesen und Kommentieren auch besser nach. Du schriebst ja selbst von Zeitmangel irgenwo, das trifft auf andere auch zu.

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 23.06.2007, 14:26

stimmt stimmt stimmt, gerda - ich werde mich zurückhalten, damit meine texte hier nicht ab-, durch- oder verwetzt werden. nein, im ernst, es sollte abgewetzt heißen. wahrscheinlich hatte ich, als ich es schrieb, bereits einige sprachneuronen ausgeschaltet und darum eine art neklekt/aphasie.

es gibt orte, die besonders inspirierend wirken - und das sind die "poetentankstellen", wenn man denn in der richtigen stimmung dazu ist.

danke für deine antwort

chiqu.

Caty

Beitragvon Caty » 27.06.2007, 10:46

Lieber Chiquita, das ist ein trauriger Text. Genau beobachtete Vorgänge ringsum, Kneipenmilieu.
Nazim Hikmet vor der Nase, es ist, als suchte das LyrIch die reinere, unangetastete Welt. Es ist am Boden, da warten Unannehmlichkeiten, Flucht in die Lyrik - aber schreiben worüber? Aufschreiben, was man sieht. Es geschieht nicht viel, und doch ist es viel. Ein Gedicht ist entstanden. Ein Mensch rappelt sich auf. Noch glaubt er selbst nicht daran, aber es ist ein erster Schritt. Du hast die richtigen, genauen Worte gefunden, das Bild der Kneipe und dieses Menschen steht vor meinen Augen. Ein genauer Text, vielleicht ein bisschen zu sehr ins Einzelne gehend, aber ich zähle die Verse nicht, ich bin in ihnen. a la vida. Caty

Chiquita

Beitragvon Chiquita » 27.06.2007, 11:34

hallo caty, ganz so schlimm traurig finde ich das gedicht nicht. aber es schwingt viel melancholie in den zeilen.
vielen dank für dein einfühlendes lesen.

schönen tag
chiqu.


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