Sturm

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
scarlett

Beitragvon scarlett » 11.01.2007, 22:59

Sturm

Die Nacht droht
zu zerreißen die Zeit
fällt aus dem Gehäuse –

Die Zeiger drehen sich
im Kreis geschwärzt
tritt der Mond in mein Gesicht

als tobende Erinnerung


scarlett, 2007
Zuletzt geändert von scarlett am 13.01.2007, 11:52, insgesamt 2-mal geändert.

Niko

Beitragvon Niko » 11.01.2007, 23:08

hallo scarlett!

die zeilenumbrüche in strophe 2 machen mir sinn.(nachtrag: meine version hat nun doch die zeilenbrüche geändert.) in der ersten strophe, die ich als die stärkste empfinde (besonders: die zeit fällt (mach doch hier den bruch!) aus dem gehäuse] kann ich mir nur so sinnentnehmend erklären, dass du damit das zerfallen und zerreissen verdeutlichen wolltest?

der mond als tobende erinnerung. da kann ich schwer etwas mit verbinden.

ich hab mal etwas gebastelt. natürlich ist es meine art zu schreiben und auch nur ein denkanstoss:

Sturm

Die Nacht droht
zu zerreißen
die Zeit fällt
aus dem Gehäuse –

Die Zeiger drehen
sich im Kreis
angeschwärzt
tritt der Mond
ins Gesicht

als tobende Erinnerung

vielleicht könnte man die letzte zeile ganz weglassen?

nächtliche grüße: Niko

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 12.01.2007, 18:31

Liebe scarlett,

Erinnerung als in die Gegenwart hineinbrechend, das Thema hast du schon öfter aufgegriffen, man merkt auch diesem Text deine Nähe zu ihm an. Mich erinnert es von der Stimmung und dem Impressionscharakter des Textes an Trixies neulich gepostetes "Winchester's Ballroom", nur das der Text sich an nichts äußerem erzählt, sondern ganz innen ist.

Was mir ähnlich wie Niko geht, ist die Auffälligkeit der setzung der ersten Strophe.

Ich kann lesen
Die Nacht droht zu zerreißen

und

die Zeit fällt aus dem Gehäuse


Zudem wird durch die Setzung noch

die Nacht droht



einzeln lesbar, was ich wiederum mag.

die zweite Zeile für sich genommen bleibt aber unlesbar (~oder?)

zu zerreißen die Zeit


Da diese Zeile grammatisch für mich sperriger ist als "die Zeit zu zerreißen" weiß ich nicht, ob ich daher die Setzung für die rundeste Lösung halte, zumal dann der Umbruch zu der letzten Zeile des letzten Verses keine Überraschung oder Doppeldeutigkeit bereit hält. Einen Alternativvorschlag finde ich aber auch schwer ~. Nikos ginge durchaus, finde ich aber etwas langweilig.

Die Sprache gefällt mir in beiden Versen gut, der Mond, der ins Gesicht tritt, finde ich gelungen, weil ich einmal an blass werden denke, zum anderen die Planetenrotation sehe, die zur ersten Strophe der Zeit passt, als drücke jemand auf Schnellrücklauf. Ich mag wie ein Moment in bewegten Bildern erzählt wird.

Insgesamt empfinde ich den Text als etwas unsicher. Einerseits scheint er auf eine Impression hinauszulaufen, anderderseits zeigt der letzte Vers, dass es ihm damit doch nicht genug ist. Er steht da mit solchen Nachdruck, als ob der Text etwas sehr konkretes vor Augen hat, was er aber nicht auserzählt. Daher würde ich mir ein "mehr" wünschen.

Liebe Grüße,
Lisa

Ob ich wohl per shadow-Funktion einen Verlinkung dieses Textes zum Thema des Monats machen dürfte? Ich finde, das passt gut...
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

scarlett

Beitragvon scarlett » 13.01.2007, 11:51

Lieber Niko, liebe Lisa

entschuldigt bitte meine späte Antwort, ich hatte zwei sehr stressige Tage und war abends einfach ko.

So wie du, Niko, die Zeilen der ersten Strophe gesetzt hast, ist das Gedicht zu lesen, einerseits. Andrerseits will ich dem Leser eben keinen so glatten Fluss gönnen, den Grund dafür hast du ja auch schon angesprochen: das "Zerreissen" und "Zerfallen", es ist keine "runde" Nacht, kein "Friede, Freude..." usw. Es ist eine stürmische Nacht und das nicht nur in der Natur, nicht nur im Draußen sondern eben auch im Inneren des lyrIch.
Aus diesem Grunde brauche ich auch "mein" Gesicht und nicht "ins" Gesicht und natürlich die letzte Zeile.

Mit dem Mond verbindet man ja im allgemeinen nun eher was Positives, darauf habe ich spekuliert- nun verkehrt sich aber eine evtle. schöne Erinnerung, die nicht ausgeführt ist, in ihr Gegenteil, der Mond ist geschwärzt- was einerseits wieder auch atmosphärisch zu lesen ist (in der Sturmnacht ist der Mond immer wieder von dunklen/schwarzen Wolken bedeckt, vielmehr ziehen die an ihm vorbei, verbergen ihn, geben ihn wieder frei...usw.) andrerseits auch wieder auf das Ich zu beziehen ist- auf seine Empfindung. So verkehrt sich auch das das Reißen in S2 in sein Gegenteil, wird zu etwas Rundem - Kreis-Mond-Gesicht - scheinbar, denn auch das wiederum wird durch die tobende Erinnerung letztendlich zunichte gemacht.

Dein Vorschlag mit "angeschwärzt" hat mich die beiden Tage lang verfolgt, ich bin allerdings zu dem Schluß gekommen, dass mir dabei zu viel Negatives mitschwingt, das ich so nicht gewollt habe (jmden anschwärzen... hinter seinem Rücken Böses erzählen, usw. - du verstehst schon)- die Bedeutung von anschwärzen ist weiter als schwärzen-
Ich denke, ich werde das, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, nicht übernehmen, es bleibt jedoch "gespeichert" :-)

Liebe Lisa, ich kann sehr gut nachvollziehen, dass du dir ein "mehr" wünschst" - ich wollte aber gerade einmal ausprobieren, wie das ist, wenn nicht alles vorgegeben wird, wie ein Text aufgenommen wird, der eine (absichtliche) Leerstelle hat -
Gerade dadurch, dachte ich, wird der Leser in seiner Phantasie nicht gegängelt, er hat alle Freiheit im gebotenen Rahmen und mit den Bildern seine eigenen Gedanken/Empfindungen weiterzuspinnen/zu testen. Und aus den Bildern, die da sind, geht ja einiges...

Zum Formalen: die Zeile
"zu zerreißen die Zeit"
ist grammatisch nciht nur sperrig, alleine, für sich gelesen geht das nicht, da hast du recht.
Wie wärs aber mit "die Nacht droht//zu zerreißen die Zeit//

- und dann kommt wieder dieser Moment, wo man beim Weiterlesen merkt, hoppla, so nicht... oder doch? kann die Nacht aus dem Gehäuse fallen? Kann ich mit diesem Bild arbeiten??? - Wie oben schon gesagt, es war ein absichtliches Stolpern lassen...

Was du zum Bild des MOndes gesagt hast, der ins Gesicht tritt, finde ich Klasse- an die "Schnellrücklauftaste" habe ich natürlich nicht gedacht, wohl eher empfunden- aber ja, so kann man es auch sehen.

Und ja, der Text läuft auf eine Impression, auf einen Moment hinaus, konkret auf eine Sturmnacht (hatten wir doch erst...) aber wenn es ihm damit genug wäre, wär er nicht von mir *bg*. Er will das mit dem Befinden eines Ich verbinden, wobei dieses frei auffüllbar bleiben soll-

Ja, du kannst den Text gern mit dem Thema des Monats verlinken (heißt das, er bleibt auch hier stehen? - du weißt, ich bin eine technische Null...)

Ich werde noch eine kleine Änderung vornehmen, in S2:

"Die Zeiger drehen sich
im Kreis geschwärzt
tritt der Mond in mein Gesicht"

bringt noch eine andere Nuance rein, finde ich...

Ich danke euch beiden ganz herzlich für eure Rückmeldung!

Schönes WE und Grüße,

scarlett

Max

Beitragvon Max » 13.01.2007, 13:42

Liebe Scarlett,

danke für dieses Gedicht, das ja ungewöhnlich gut zur Jahreszeit passt :-).

Dabei lese ich den Sturm nur als Aufhänger für die eigentliche Thematik, das Einbrechen der Erinnerung in den Alltag . Die Kombination ist Dir,. so denke ich, gut gelungen.


Die Nacht droht
zu zerreißen die Zeit
fällt aus dem Gehäuse –


Hier gefällt mir der Zeilenumbruch, der das Zerreißen in sich aufgenommen hat. Die Zeit fällt aus dem Gehäuse ist ein gutes Bild und läutet gleichzeitig sehr schön das Thema des Erinnerns ein.

Die Zeiger drehen sich
im Kreis geschwärzt
tritt der Mond in mein Gesicht


Der zeilenumbruch ist hier nach meinem Gescmack ähnlich geungen wie der in Strophe 1. Auch das Bild gefällt mir. Was mir vielleicht noch überdenksnwert scheint ist die Frage, ob Du schon alle Stärken, die sich in Deinen bildern befinden, ausgereizt hast. Insbesondere scheint mir, dass ja nicht nur die Nacht, sondern auch der Himme, die Wolken zerreißen (und der Mond tritt hervor) und auch die Zeit reißt auf und gebiert das Erinnern. Ich weiß nicht wie, aber vielleicht ließe sich diese Parallele hier oder in der Strophe

als tobende Erinnerung


noch stärker ziehen.

Liebe Grüße
Max

PS: Vermutlich ist es aufgefallen: ich habe die Vorgängerkommentare nicht gelesen :-)

Trixie

Beitragvon Trixie » 13.01.2007, 16:44

Hallo scarlett!

Schön, dich zu lesen :-) ! Ich finde, dass das ein etwas untypisches Scarlett-Gedicht ist, doch es gefällt mir sehr gut! (Lisa zog zurecht die Verbindung zu meinem Winchester's Ballroom, daran musste ich nämlich auch ein bisschen denken).

Ich finde, dass der Zeilenumbruch mit "zu zerreißen die Zeit" gerade deshalb so gelungen ist, weil es genau das zeigt, was du sagst. Klar, die Reihenfolge müsste "Die Zeit zu zerreißen" sein, aber es macht stutzig und lässt mich noch eher das Zerrissene spüren und nachempfinden. Deswegen bin ich unbedingt dafür, das so zu lassen!

Liebe Grüße
Trixie

scarlett

Beitragvon scarlett » 13.01.2007, 19:24

Lieber Max, liebe Trixie,

ja also, ein untypische scarlett-Gedicht ist das allemal, ich bin gerade dabei, mich auf neuem, unbekanntem Terrain etwas "auszubreiten", zu versuchen...

Vielleicht, Max, gibt es irgendwann doch noch eine "Fortführung" der Gedanken und Bilder aus diesem Gedicht- du hast schon recht, der Sturm ist nur Auslöser für was anderes, auch wenn dieses Andere Vieles schuldig bleibt- vielleicht "verzeiht" mir ja der Leser diese Leerstelle, war ja ein Experiment.

Insgesamt bin ich zufrieden, daß der Text doch einigermaßen "ankommt" und daß auch ihr beide, was die Zeilenumbrüche anbelangt, mit mir konform geht.

Liebe Trixie,

dein Ballroom - Gedicht hab ich erst jetzt, im nachhinein gelesen (s. dort).
Es freut mich jedenfalls, daß dir der Sturm auch zusagt, wiewohl ein Walzer dabei unmöglich gewesen wäre... :-)

Danke euch beiden fürs Lesen und eure Gedanken dazu,

Grüße,

scarlett

Max

Beitragvon Max » 14.01.2007, 12:47

Liebe Scarlett,

Du schreibst

auch wenn dieses Andere Vieles schuldig bleibt- vielleicht "verzeiht" mir ja der Leser diese Leerstelle, war ja ein Experiment.


Na klar, ich denke, es war sogar ein gelungenes Experiment - ein Terrain, auf dem es sich zu wandeln lohnt :-).

Liebe Grüße
Max

Niko

Beitragvon Niko » 14.01.2007, 13:33

ich denke, es war sogar ein gelungenes Experiment - ein Terrain, auf dem es sich zu wandeln lohnt .

dem möchte ich mich voll und ganz anschließen!

gruß in den sonntag: Niko

Trixie

Beitragvon Trixie » 14.01.2007, 14:26

Na, aber auf jeden Fall! Ich mag zwar die "alten" Scarlettgedichte auch sehr gerne, aber was Neues ist nicht immer schlecht und in diesem Fall nutzt du deine Erfahrung ja und baust daraus etwas Neues und das finde ich auch sehr gelungen!! (Plus das neue schöne Foto=ganz neue scarlett ,hihi )

Ebenfalls Sonntagsgrüße
Trixie

scarlett

Beitragvon scarlett » 14.01.2007, 15:19

Lieber Max, lieber Niko, liebe Trixie...

das freut mich ungemein, daß ihr mein "Experiment" als gelungen betrachtet!

Trixie, die "alten" scarlett-Gedichte wird es sicherlich auch noch geben (hihi...hab grad noch eines in Arbeit)- und na ja, mal sehen, wohin der Wind mich lyrisch hintreibt.

P.S. Das Foto ist nicht besonders, dadurch daß es so verkleinert werden muß. Vielleicht gibts ja mal ein besseres...demnächst *ggg*

Liebe Grüße an euch,

scarlett

aram
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Beitragvon aram » 15.01.2007, 15:19

liebe scarlett,

der text zählt nicht zu denen, die mich spontan vereinnahmen oder resonanz in mir erzeugen -

vom ersten lesen blieb der eindruck, dass es hier ziemlich "abgeht" - zerreißen, aus den gehäuse fallen, erinnerung tobt ...sehr heftig also - ich finde diese heftigkeit beschrieben, kann sie aber nicht kontaktieren (fühlen)... dadurch bleibt mir das gedicht verschlossen... und ich werde auch ein wenig 'misstrauisch' den 'großen bewegungen' gegenüber

beim zweiten lesen fallen mir die klammern der setzung auf... der text drückt für mich dadurch etwas sperriges, sich sträubendes, unwilliges aus, ein in unfrieden sein - auch ein blockiert sein, denn er klingt, als flössen die empfindungen nicht frei, sondern würden sich gegenseitig "auffressen"... die distanz der beschreibung kann ich nicht spüren. wie ich auch nicht ins gefühl kommen kann...

vom 'kopf' her erschließt sich mir der text (glaube ich) schon [noch keine kommentare gelesen], ich habe keinen 'erklärungsbedarf'... die bilder finden mich nicht.

liebe grüße,
aram
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l. cohen

scarlett

Beitragvon scarlett » 15.01.2007, 15:43

Lieber aram,

hab lieben Dank für deine Rückmeldung.

Du hast sicherlich recht, es ist "heftig" in jeder Beziehung- Inhalt, Form...Das ist gewollt und soll ja dem Titel Rechnung tragen (und umgekehrt).

Daß die Bilder dich nicht erreichen, kein Gefühl auslösen, finde ich zwar schade, aber damit mußte ich rechnen-

Vielleicht nehme ich mir den Text doch noch einmal vor- vielleicht gelingt es mir ja, ihn zu einem späteren Zeitpunkt etwas "sensibler" zu gestalten... wobei ich momentan keine Ahnung hab, wo und wodurch...

Auf jeden Fall, danke für deine Antwort und deine Mühe.

Grüße,

scarlett

aram
Beiträge: 4509
Registriert: 06.06.2006

Beitragvon aram » 15.01.2007, 15:56

liebe scarlett

ich kann nicht beurteilen, ob es um "sensibler" geht - nach meinem [!] gefühl ginge es eher darum, das heftige auch "anzusprechen", statt es bloß "in bilder zu packen"... oder dieses "nicht-aussprechen" auch mit zu reflektieren, es nicht bloß unterschwellig zu lassen.

alles liebe
aram
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l. cohen


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