gegen den strom

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
carl
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Beitragvon carl » 07.10.2006, 11:12

wir sind die ausgesetzten dem wind
der grundlos ist
beschliffene vom sog der jahre
richtung meer.
zurück zur quelle kommt nur regen.
unsere häuser
werden perlmuttsplitt am strand.

bleibt noch die wegwarte am ufer
blau wie der mond
dein blick
die gischt von lachsen
beim schnellen gegen den strom.

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leonie
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Beitragvon leonie » 07.10.2006, 11:49

Lieber carl,

Du triffst genau den Ton, den ich mag: melancholisch und doch nicht hoffnungslos. Fast tröstlich. Du lässt Bilder vor meinem inneren Auge entstehen. Überhaupt: diese Bilder!!! Und irgendwie denke ich, ich lese hier auch ein Herbstgedicht ohne dass die dafür typischen Worte (außer „wind“ vielleicht) darin vorkommen.
Bitte komm nicht auf die Idee, nicht mehr zu dichten!

Liebe Grüße
leonie

Nihil

Beitragvon Nihil » 07.10.2006, 12:00

... ich glaube, ich mache mit meiner Interpretation dieses schöne Gedicht kaputt, deswegen nehme ich sie wieder raus ..

LG

Nihil
Zuletzt geändert von Nihil am 07.10.2006, 19:14, insgesamt 1-mal geändert.

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leonie
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Beitragvon leonie » 07.10.2006, 15:42

Hi nihil,

Die ganze zweite Strophe hat für mich etwas Tröstliches, weil sie Gegenbilder gegen die der ersten enthält, finde ich. Etwas bleibt, am ufer ist eine wegwarte, der blick (da es unter Liebeslyrik steht vermute ich: der geliebten), die lachse, die doch gegen den strom schnellen können. Dazu die Farbe blau.

Herbstgedicht, das hat wohl damit zu tun, dass ich hier eine Stimmung empfinde, die mich vor allem im Herbst ereilt (wo Vieles vom vergehen erzählt, wie hier die erste Strophe (beschliffen werden, nicht zurück zur Quelle können, Häuser, die zu Perlmuttsplitt werden) und doch ein wenig vom Bleiben (wie hier die zweite Strophe, s.o.).

Diese Art das Gedicht zu lesen hat ganz sicher viel mit meinen Augen zu tun, so wie Du es mit Deinen liest.

Vielleicht sagt carl ja auch noch selbst etwas dazu.

Liebe Grüße
leonie

Max

Beitragvon Max » 07.10.2006, 16:59

Lieber Carl,

das finde ich ein sehr beeindruckendes Gedicht. Gerade wie Du die Verzweiflung, die für mich den Grundton der ersten Strophe bildet in der zweiten Strophe wieder aufhebst, finde ich bemerkenswert. Hier möchte insbesondere die Zeilen

zurück zur quelle kommt nur regen


herausheben, die du mit

die gischt von lachsen
beim schnellen gegen den strom


der Verzweiflung wieder entziehst.

War sehr schön so etwas zu lesen!

Liebe Grüße
max

cali

Beitragvon cali » 09.10.2006, 06:53

Hallo Carl,

spannende Bilder mit überaschendem Wechsel von fast nüchterner... trauernder Betrachtung der Vergänglichkeit... zur Freude...


lieben Gruß!

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 09.10.2006, 10:01

Hallo carl

Dein Gedicht ist in der Tat beeindruckend, es hat eine beeindruckende Sprache und gelungene Bilder.

Ich hänge etwas an dem Satz "der grundlos ist ". Ich kann das Adjektiv nur auf den Wind beziehen, aber da sehe ich keinen passenden Zusammenhang.

Schönen Tag

Jürgen

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 09.10.2006, 11:22

Lieber carl,

endlich wieder einmal ein Text von dir und dann wieder..."so einer"...ja...leonie trifft es:

Du triffst genau den Ton, den ich mag: melancholisch und doch nicht hoffnungslos. Fast tröstlich. Du lässt Bilder vor meinem inneren Auge entstehen. Überhaupt: diese Bilder!!!


*nickt*...ja...so ist das auch für mich.

Die Setzung habe ich noch ncht ganz verinnerlicht...kann aber auch keine Vorschläge machen, sie wirkt mir allerdings etwas zu unruhig.

Die Lachse erinnern mich dann an die Bachmann (in Erklär mir, Liebe: Der Fisch errötet, überholt den Schwarm und stürzt durch Grotten ins Korallen)...die Lachse haben genau diese Farbe, wenn sie ablaichen, ich habe da mal einen herrlichen Film drüber gesehen...beindruckend...und im Grunde ist es sogar dieselbe Aussage und der gleiche Blick...finde ich also wunderschön! (ist ja mein Lieblingsgedicht von allen, das von Bachmann).

Dann diese weiteren Zaubereien (das grundlos)...

Übrhaupt die Idee dieser Rückreise der Liebe als eigentlichen Reise nach der schon so großen bestandenen...(die der Lachse)...ja, für mich ist das auch so...nicht nur gegen den strom...sondern eben auch gegen den strom der noch mit dem strom jagenden...hier wieder auch der Bezug zur Bachmann, die ja nicht unabsichtlich die Tiere als Beispiele führt und ihnen (ihrem Aussehen, ihren handlungen) Motive unterstellt, die zutiefst anthropologischen Träumen und KOnstrukten entspringen...und damit wieder dem Ich (also Menschen zuredet)...das machst du mit deinem Motiv der zweiten Reise genau so für mich...

Den Regen konnte ich für ich noch nicht dechiffrieren....

Vielleicht würde ich die Punkte weglassen...

Liebe grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 09.10.2006, 17:12

Lieber Carl,

das Sein als Sein zum Tode hin. Eine barocke Träne der Vergänglichkeit. Ein heidnisches Lob an den Augenblick und ein buddhistischer Trost im Kreislauf des Seins. So habe ich Dein Gedicht gelesen. Sehr schön.

Grüße

Paul Ost

carl
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Beitragvon carl » 10.10.2006, 17:25

Liebe Freunde,

ich danke euch für eure sowohl differenzierten als auch pointierten Kommentare!
Es freut mich sehr, dass ihr dies Gedicht gerne gelesen habt ... trotz der verdrehten Satzstellung am Anfang ;-).
Weil schon vieles ausgesprochen wurde, was mich beim schreiben bewegt haben mag, will ich selbst nicht mehr viel sagen: es ist ja auch schön zu sehen, dass das Gedicht offen ist für manche Erfahrung, die ihr als Leser mitgebracht habt (deshalb finde ich es schade, dass Du Deinen Kommentar gelöscht hast, Nihil! Aber dazu unten noch mehr.)
Zu einzelnen Fragen/ Punkten:
Liebe Leonie, das Gedicht ist knapp 4 Jahre alt. Es kommen noch vielleicht 2 oder 3 erwähnenswerte jüngere, so etwa jeden Monat eines...
Lieber Jürgen, der "grundlose Wind" ist so etwas wie ein willkürlich handelndes Subjekt, dem das lyr. "wir" ausgeliefert ist.
Liebe Lisa, das Gedicht von der Bachmann mit dem Lachsmotiv ist "erklär mir liebe"? War mir gar nicht bewusst: ich werde es nachlesen, Dank für den Tipp!
Zur Form: ich hatte eine zeitlang mit Lang- und Kurzzeilen im Wechsel experimentiert. Der kurze Vers als Erläuterung des oder Kontrapost zum vorhergehenden. In der 2. Strophe vom Bleibenden umarmen die Zeilen den Mittelvers "dein Blick" . Das mit der Interpunktion ist zu überlegen, aber grad ist das Gedicht so in Dulzinea 9 erschienen.
Zwischen den Elementen Erde (=beschliffenen, häuser) wasser und Luft (=wind) und wieder absteigend Wolken, Regen und schließlich (muschelbildenedem) Leben liegt als Motor des "Kreislauf allen Seins", wie Paul sagt, das unausgesprochene Feuer.
Und nochmal an Leonie, Charlotta, Lisa, Paul und Max: Eure Rückmeldung, dass die Balance zwischen 1. und 2. Strophe geglückt ist, ist mir sehr wichtig!
Das bringt mich auch zu Nihil: in welche Richtung nämlich die Balnce "gekippt" wird, ist euer Beitrag, die Art wie ihr lest. Deshalb ist Dein Kommentar, Nihil, auch nicht per se zerstörerisch und Du solltest ihn nicht zurückziehen (es sei denn, es liegt ein Missverständnis vor, dass Du beim 2. lesen erst gemerkt hast).
Wenn ich mich richtig erinnere, hast Du von Deiner "Grausamkeit" erzählt, andern ihre Illusionen zu zerstören. Da würde mich jetzt doch intressieren: wo macht sich das lyr. ich Illusionen über das Leben? Und warum ist das Gedicht trotzdem "schön" (Deine Worte)?

Liebe Grüße, Carl

Gast

Beitragvon Gast » 30.10.2006, 19:13

Lieber Carl,

was mich besonders freut hier zu lesen, dass dein Gedicht in Dulzinea erschienen ist.
Uwe Pfeiffer trifft eine feine Auslese für sein kleines Literaturmagazin.
Aber zum Text.
Das Meer und das Leben in und ums Wasser hat große Anziehungskraft für das Schreiben von Lyrik.
Bei diesem Gedicht ist es dir gelungen, ungewöhnliche Bilder aus diesem Bereich zu schaffen, bei denen mir etwas von der unausgesprochenen Sehnsucht nach Ewigkeit anzuklingen scheint, ohne überhaupt ein Wort in diese Richtung zu mühen.

Eindrücklich, für mich besonders das Bild der Gischt der Lachse beim Sprung, für den Blick des lyr. Du, dessen hin- und Herschnellen - vielleicht aber auch die Wiederkehr... ich lese viel hinein um es mitzunehmen.

Fragen möchte ich noch eins: Wieso "Mondblau" für die Wegwarte?, die tatsächlich ein einzigartiges blau hat, aber der Mond???

Dein Gedicht habe ich neulich wohl überlesen, als du es frisch gepostet hattest, heute habe ich es beim Stöbern entdeckt.

Einen schönen Abend und liebe Grüße
Gerda

carl
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Beitragvon carl » 01.11.2006, 16:50

Liebe Gerda,

kennst Du Uwe Pfeiffer persönlich?
Zum "mondblau": das kann ich nicht erklären, natürlich ist der Mond nie blau wie die Wegwarte! Oder heißt es "blau wie der mond dein blick"? Macht auch keinen Sinn... Bei Chagall ist der Mond blau, glaube ich. Und da gibt es so manch blaue Stunde zwischen den Liebenden...

Liebe Grüße, Carl

Gast

Beitragvon Gast » 06.11.2006, 15:28

Danke lieber Carl, es ist ja auch stimmig, das Blau...

LGG
... zu Uwe Pfeiffer, hast du ja die Pn erhalten


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