Fremd (Berlin IV)

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 28.09.2006, 15:43

Fremd Dein Blick
und fern die Hand,
die mich berührt.

Mein Schoß ist grau
und meine Lippen schmal.
Nichts tut sich
in mir auf.

Ich kann den Atem
Deiner Lungen spüren,
sie pumpen, pressen
gierig Luft.

Nur die Risse
in der Wand
geben mir Halt.


Str. 4, Z. 1: "aber" auf Vorschlag von Lisa gestrichen.
Nachträglich hinzugefügt: Berlin IV; jetzt stimmt die Chronologie
Zuletzt geändert von Paul Ost am 27.10.2006, 21:20, insgesamt 4-mal geändert.

Perry

Beitragvon Perry » 29.09.2006, 14:16

Hallo Paul,
die Sehnsucht aber auch Verbitterung ist gut zu spüren. Ich vermute mal es ist ein Selbstgespräch, den das Pumpen der Lungen eines anderen wäre wohl schwerlich zu spüren. Ein wenig zu allgemein empfinde ich die Wand (welche), obwohl sie sich natürlich als inneres Gefängnis interpretieren lässt.
LG
Perry

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 29.09.2006, 14:20

Lieber Perry,

danke für Deinen Kommentar. Ich hatte beim Schreiben eine etwas andere Situation vor Augen. Vielleicht kommen ja noch andere Kommentare, bevor ich mich genauer erkläre.

Grüße

Paul Ost

pandora

Beitragvon pandora » 29.09.2006, 14:36

lieber herr paul,

da sie erklären dies sei miriam's perspektive, lese ich ihre verse als die wahrnehmung einer frau, der ihr mann fremd geworden ist. seine gegenwart, die sie duldet/erträgt, tangiert sie nur am rande und von leidenschaft, bzw erotik, kann - aus ihrer sicht!!!!! - keine rede mehr sein. ("mein schoß ist grau...") sie zählt die risse in der decke, während der mann auf ihr liegt. es sind endlich viele, so wie auch die minuten endlich sind, die der mann noch schwer atmend auf ihr liegt.

p.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 29.09.2006, 14:46

Lieber Paul,
also für mich ist es klar...aber soll ich es verraten?

Ich kenne Dame und Herr (Figuren, ich weiß! ;-)) ja schon....

..die Frage ist für mich nur, wo dieses Gedicht seinen Raum einnimmt...hast du der Figur dieses Empfinden hinterher allgemein ins Herz gelegt? Oder ist es gar ihre explizite Aussage? Und gilt diese Aussage für immer rückwirkend? oder erst nach ihrem Entschluss?

....ein bisschen wie mit dem kleinen Abschied...da ging es ja auch nicht um den konkreten abschied....so ist das hier für mich auch nicht in erster Linie ihre Perspektive...aber ich glaube, das ist auch nicht gewollt....

Sprachlich wieder einmal schlicht und doch berührend...(gierig...muss das?)

allein das "aber" brauchst du für mich nicht...das ist "klar"....

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 29.09.2006, 15:00

Liebe Frau Pandora,

Sie lesen genau das heraus, was ich hineinschreiben wollte. Vielleicht kann man sich mit Sprache ja doch verständlich machen.

Liebe Lisa,

dies scheint mir fast ein innerer Monolog zu sein. Natürlich wäre auch denkbar, dass der Mann irgendwann fragt: Hey, was ist los? Dann könnte sie auch so antworten. Die Trennung würde offenbar. Allerdings ist Miriam, die Du ja schon kennst, keine Frau der vielen Worte.

Miriam stoßen die Dinge eher zu. Sie macht sich keinen Reim auf ihre Stellung in der Welt. Vielmehr reagiert sie im Bezug auf sich selbst eher analysierend und verwundert... Sie steht sich selbst wie einer Fremden gegenüber. Es ist dieses Gefühl, dass man plötzlich ganz weit von sich entfernt ist, obwohl man hellwach ist. Das eigene Leben erscheint plötzlich ganz fremd...

Deine beiden Anschlussfragen könnte so nur mein Geschichten-Paul stellen. Und wie er sie stellt! Und meinst Du er würde darauf je eine Antwort bekommen? Und wäre diese Antwort tatsächlich rückwirkend gültig? Gibt es - juristisch gesprochen - ein Rückwirkungsverbot in der Liebe?

Das Wort "gierig" muss sein. Schließlich ist doch die (Be-)Gier(de) die Schattenseite der Leidenschaft.

Das "aber" ist mir beim Tippen so unter die Finger gerutscht. In meinem Notizbuch findet es sich nicht. Ich lasse es jetzt mal probehalber weg, bis sich jemand beschwert.

@ alle,

vielen Dank für die Lektüre. Vielleicht erklärt sich durch Pandoras Kommentar auch Deine Frage, Perry?

Grüße

Paul Ost

P.S.: Ursprünglich dachte ich tatsächlich an Risse und Löcher in der Decke. Aber das Wort fand ich hier unschön... Frau Pandora, Sie verfügen geradezu über hellseherische Fähigkeiten.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 29.09.2006, 15:21

Lieber Paul,
mein gott, heute bin ich vielleicht zu schnell mit meinen Antworten aber zu allem von dir: ja...

Zu dem gier: Natürlich muss es hier Gier sein, aber brauchst du das adjektiv. Denn wozu dienen dann diese Worte:

Ich kann den Atem
Deiner Lungen spüren,
sie pumpen, pressen
gierigLuft.

Durch das Adjektiv nimmst du der Stelle ihre poetische Bedeutung...du machst die Ausführungen durch das erklärende gierig überflüssig.


"Ebenenwechsel" (entschuldige diesen Diebstahl ;-)): Außerdem ist das gierig (siehe Neid von dir bei pan eben) für mich nicht wirklich das Wort, was alles beschreibt. Selbst wenn nur diese eine Seite ausgeleuchtet werden soll, traue ich mich zu behaupten, dass es nicht nur Gier ist (ich weiß, ich bin kein Mann...)...aber gut, ich weiß, ich habe hier letzlich nur (aber zumindest sehr mit mir ausgemachte!) Phantasie als Argument anzuführen...

Im Gegensatz zu pandora dachte ich, dass die Risse wirklich in der Seiten/Rückwand seien und sie sich auf das Gefühl konzentriert diese an ihren Händen zu spüren...

wie wäre daher:

Nur die Risse
in/an der Decke
geben mir Halt.

...
Liebe grüße,
die schnelle Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
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Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 29.09.2006, 18:50

Liebe Lisa,

das Wort "gierig" bewertet die Lust des lyrischen Du. Unsere Miriam, denn aus ihrer Perspektive wurde das Gedicht ja geschrieben, unterstellt offensichtlich ein solches negatives Begehren. Würden einfach nur die Atemfunktionen beschrieben, wäre mir das zu neutral.

Aber Du bist eben eine freundliche Leserin, die vielleicht letztlich eine andere Bewertung treffen würde als mein lyrisches Ich. Damit siehst Du aber, dass ich durch das "gierig" nicht den Interpretationsspielraum einenge, sondern den Lesern vielmehr die Möglichkeit gebe, sich kritisch von der Position Miriams zu distanzieren.

Das Wort "Decke" klingt mir in diesem Gedicht zu "hell". Wand ist einfach dunkler. Deshalb lasse ich das stehen.

Grüße

Paul Ost

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Beitragvon leonie » 29.09.2006, 21:10

Lieber Paul Ost,

vieles wurde schon gesagt, mir ist noch eine Kleinigkeit aufgefallen, nämlich: Würde sie von sich selber sagen, dass ihre Lippen schmal sind? Sieht sie sich im Spiegel? Nimmt man das nicht eher als Gegenüber wahr als an sich selbst? Ich blieb an dieser Stelle jedenfalls hängen...

Besonders stark finde ich die letzte Strophe und ihren symbolischen Gehalt!

Liebe Grüße

leonie

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 30.09.2006, 17:12

Liebe Leonie,

die schmalen Lippen sind ein Bild, das mir eigentlich ganz gut gefallen hat. Ein Gefühl, als hätten man so großen Hunger, das der Mund immer schmaler wird. Auch bei bestimmten Gefühlen neigt ja Mund dazu, schmal zu werden. Man presst die Lippen aufeinander.

Dagegen stehen volle, durchblutete Lippen ja für Erregung und Sinnlichkeit. Übrigens ist der Begriff Ambivalent. Aber da müssen wir nicht drüber reden...

Beste Grüße

Paul Ost

steyk

Beitragvon steyk » 02.10.2006, 14:10

Lieber Paul,

eindrucksvolle Bilder hast du gezeichnet.
Ich glaube, besser kann man die Situation, des sich ungewollt -
schon fast quälend - der Kälte
hingebend, nicht beschreiben.

Gruß
Stefan


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