die nachbarn

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
taiga
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Beitragvon taiga » 29.07.2025, 18:54

die nachbarn


sie waren seit jahren
nicht mehr zu sehen gewesen
der pflegedienst kam
und irgendwann die ambulanz
sie trugen ihn hinaus
bald darauf auch sie
auf seiner stoßstange saß
der weißhaarige sohn
und starrte auf sein mobiltelefon
dann kam der makler
und freute sich schon

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 29.07.2025, 21:21

Liebe taiga, ja, dieses Thema ist ja leider sehr aktuell, und das Bild des weißhaarigen sohns, der auf sein mobiltelefon starrt, finde ich supergut! Wie eine leblose Skulptur! Er-starrt in all den Smartphonejahren ...
Womit ich nicht so ganz klarkomme: auf seiner stoßstange saß ... Es ist ja eher nicht "seine", sondern die seines Autos? Was das Bild aber wiederum abschwächt, denn wenn er Auto fährt, ist das "Erstarrte" für mich irgendwie weg. Wahrscheinlich würde ich, wäre es mein Text, in Richtung "auf der stoßstange des alten autos saß / der weißhaarige ..." gehen, denn dann könnte es auch das Familienauto, das Auto der verstorbenen Eltern sein und würde das Bild der erstarrten / eingefrorenen Zeit und Atmosphäre eventuell noch verstärken.
In der letzten Zeile würde ich das schon streichen, das wirkt dort m. E. zu umgangssprachlich und ist ja auch nicht notwendig. Für mich ginge es sogar ganz ohne die letzte Zeile.

Nicht ganz unproblematisch wirkt auf mich der Titel des Gedichts. Denn: So wie der Sohn aufs Handy glotzt und der Makler ein Geier ist, so wirkt das lyrische Ich aus der Nachbarschaft wie ein neugieriges Wesen, das sich aus sicherer Entfernung das Drama anschaut, es auch kritisch sieht ... aber eben selbst untätig geblieben ist. "Och, man sieht sie ja gar nicht mehr ... ach Mensch, der Pflegedienst ..." – da fehlt es mir, ehrlich gesagt, an einer Art Selbstkritik, denn in einer "normalen" Nachbarschaft würde man doch mal hingehen und nachfragen?
Das Problem wäre getilgt, wenn die Überschrift anders lautete und das erzählende Ich weiter weg wäre.

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birke
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Beitragvon birke » 29.07.2025, 21:54

hallo taiga, ein wichtiges thema, keine frage. aber schwierig lyrisch zu erfassen... mir ist das so etwas zu anklagend... zu pauschal vielleicht auch. wobei ich hier auch neben dem sohn (weißhaarig, schon so alt? und ja, auf welcher stoßstange sitzt er?) schon auch die nachbarn als "angeklagte" sehe. aber es ist mir etwas zu einfach dargestellt ... denn meist ist doch alles komplexer. "die nachbarn" - vielleicht waren sie ja unausstehlich oder schlimmer noch? mal provokativ gedacht. hm. schwieriges thema!
lg, birke
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 30.07.2025, 11:48

"an seinem auto lehnte"

?

taiga
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Beitragvon taiga » 30.07.2025, 19:27

Amanita: Also, der Begriff "Nachbar" beinhaltet doch zunächst einmal nichts weiter als die Tatsache, daß jemand neben einem oder gegenüber wohnt, oder? Daß sich sonst noch Möglichkeiten oder Konnotationen für diesen Begriff ergeben können, ist hoffentlich in diesem Text durch Ausdrucksweise und Tonfall impliziert, Und als Nachbar bekommt man oft unwillkürlich Dinge mit, auch ohne von Neugier getrieben zu sein, oder? Und ist es nicht "seine Stoßstange", weil ihm das Auto gehört? - Aber da auch andere diese Formulierung moniert haben, denke ich über Alternativen nach.

Birke: Das Gedicht ist eine subjektive Darstellung dessen, was ich erlebt und wahrgenommen habe, mehr nicht; es ist keine Erzählung über oder Beschreibung einer gesellschaftlichen Problematik, obwohl dergleichen impliziert sein kann, man lebt ja nicht im luftleeren Raum. Eine Anklage war nicht beabsichtigt und es täte mir ein bißchen leid, wenn das so herüberkäme. Aber bitte, es liegt bei jedem Leser, daraus zu machen, was ihm entspricht. Und ja, es ist alles viel komplexer.

Pjotr:

Nach einiger Überlegung würde ich gern deinen Vorschlag übernehmen, wenn du damit einverstanden bist.

Das Ganze nähme sich dann so aus:

die nachbarn

sie waren seit jahren
nicht mehr zu sehen gewesen
der pflegedienst kam
und irgendwann die ambulanz
sie trugen ihn hinaus
bald darauf auch sie
an seinem auto lehnte
der weißhaarige sohn
und starrte auf sein mobiltelefon
dann kam der makler
und freute sich schon



Danke euch sehr für eure Gedanken!

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birke
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Beitragvon birke » 30.07.2025, 20:44

taiga hat geschrieben:
Birke: Das Gedicht ist eine subjektive Darstellung dessen, was ich erlebt und wahrgenommen habe, mehr nicht;


ja, das nehme ich dir ab, die frage ist nur, wie wirkt das ganze dann als gedicht? es ist interessant, dass es auf mich etwas anklagend wirkt, ich habe überlegt, woran es liegt, zum einen natürlich daran, dass man die nachbarn jahrelang nicht gesehen hat, und sich dann die frage stellt, warum denn nicht, (hat man als nachbarn mal nachgefragt, wie auch amanita schon schrieb), zum anderen liegt es auch an so formulierungen wie "starrt" und "der makler/ ... freute sich schon". naja, es ist mein empfinden, es mag anderen anders damit gehen. aber ja, es ist komplex, darauf können wir uns einigen. ;)
und ja, "an seinem auto lehnte" finde ich auf jeden fall auch stimmiger.
lg, birke
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 30.07.2025, 21:32

Taiga, klar, kannst Du übernehmen. Gehört Dir :-)

Ich denke, wenn eine Katastrophen-Szene kombiniert wird mit einer Aufs-Handy-Gucken-Szene, ist es unvermeidlich, dass der Handy-Gucker subsympathisch wirkt. Je größer die kombinierte Katastrophe, desto unsympathischer wirkt der Handy-Gucker. Aber was soll man machen, wenn man so einen Kontrast erzählt? Die einzige Möglichkeit, den Weißhaarigen sympathischer zu machen, wäre, das Handy und das Autoanlehnen aus der Szene zu nehmen. Aber das ist doch dann Beschönigung durch Auslassung. Unangenehme menschliche Wahrheiten enthalten zwangsläufig Vorwurfs-Potenzial. Und ich denke, der Vorwurf liegt ohnehin im Auge des Lesers. Ein Leser, der in der Haltung des Mannes keine Respektlosigkeit sieht, der liest auch keinen Vorwurf heraus. Ein anderer Leser, der da sehr wohl eine Respektlosigkeit sieht, der liest da einen Vorwurf heraus. Ist der Vorwurf unangenehm? Das kommt wohl darauf an, ob man sich selbst darin wiedersieht und selbst darüber ein schlechtes Gewissen hat. Ist das nicht der Fall, so ist es einfach nur ein Vorwurf, der einen selber nicht betrifft, den man nur zur Kenntnis nimmt. Und dann frage ich: Was spricht dagegen, wenn da ein Vorwurf mitklingt? Warum sollte die Schreibkraft das beschönigen wollen?

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birke
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Beitragvon birke » 30.07.2025, 22:11

ja, im grunde ist das alles beobachtung hier im gedicht, wäre da nicht der titel, da stimme ich amanita zu. die nachbarn sind aus meiner sicht zu nah dran für distanzierte beobachtung, weshalb hier für mich ein vorwurf mitschwingt, der vllt auch mitschwingen darf, der aber gleichzeitig die (beobachtenden) nachbarn selbst mitbetrifft, das ist vielleicht die krux, vielleicht würde wirklich ein anderer titel helfen, mehr distanz hineinzubringen.
edit: vielleicht eher eine verortung, "am rande der stadt" oder etwas in die richtung? dann würde es sich eher um eine art auktorialen erzähler hier handeln.
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OscarTheFish
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Beitragvon OscarTheFish » 31.07.2025, 15:33

Das Thema ist sicherlich wert, beachtet zu werden. Mein Eindruck ist aber, dass es sich aber zu sehr im Kontext einer Zeigefinger-Perspektive wahrnehmen lässt. Lyrik lebt aus meiner Sicht mehr davon angedeutet und umschrieben zu werden, um mehr Tiefe beim Leser zu erreichen und gefallen zu ermöglichen, sonst fühlt er sich ertappt.
Ein paar ausgewählte Werke zur Stillung weiterer Neugier:
AKUTES ABDOMEN, OBWOHL WIR BLIND SIND, SCHMUSEREI, MUCH ADO ABOUT FUJI.
Gedichte von: Der beste Dichter der Welt und XRayFusion.

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birke
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Beitragvon birke » 31.07.2025, 15:56

OscarTheFish hat geschrieben:Das Thema ist sicherlich wert, beachtet zu werden. Mein Eindruck ist aber, dass es sich aber zu sehr im Kontext einer Zeigefinger-Perspektive wahrnehmen lässt. Lyrik lebt aus meiner Sicht mehr davon angedeutet und umschrieben zu werden, um mehr Tiefe beim Leser zu erreichen und gefallen zu ermöglichen, sonst fühlt er sich ertappt.

oscar, "angedeutet und umschrieben zu werden" würde ich jetzt nicht mal sagen, auch kein "gefallen-ermöglichen". lyrik darf auch sehr konkret sein, auch unangenehmes thematisieren, meine ich. allerdings idealerweise möglichst ohne zu werten, ohne „moralischen zeigefinger“, da stimme ich dir zu. eher aus sich selbst wirkend quasi. nicht, dass es einfach wäre! ;) aber das wäre so mein verständnis von lyrik.
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taiga
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Beitragvon taiga » 31.07.2025, 19:12

danke, Pjotr!

Mein Eindruck ist aber, dass es sich aber zu sehr im Kontext einer Zeigefinger-Perspektive wahrnehmen lässt. Lyrik lebt aus meiner Sicht mehr davon angedeutet und umschrieben zu werden, um mehr Tiefe beim Leser zu erreichen und gefallen zu ermöglichen, sonst fühlt er sich ertappt.


Das war meine Absicht, OscarTheFish - die Fakten, der lapidare Tonfall, die Vermeidung von Adjektiven. Wie der "Zeigefinger" zustandegekommen ist, ist mir nicht ganz klar, könnte es nicht auch sein, daß der Leser projiziert? Nur eine schüchterne Frage. Ich glaube, ich habe eure Gesichtspunkte verstanden, kann aber wohl an diesem Gedicht nichts weiter mehr verbessern. Der Titel ist mir wichtig, ich möchte es gern dabei belassen.

Danke vielmals für euer Interesse, das war für mich eine anregende Diskussion! :ah:

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 31.07.2025, 22:18

Ich finde dieses szenische Bild sehr eindrücklich, diese Abwicklung eines Lebens, der Kontrast zwischen existenzieller Tiefe (Tod) und Alltäglichkeit (Handy, Makler).


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