Detroit

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 30.10.2010, 15:47

Detroit

Dass auch Beton, der Baustoff der Moderne,
vergänglich sei, bewies mir jüngst das Bild
einer Fabrik, die ungesprengt verfällt,
der Schwerkraft nachgibt, die sie niederzieht.
Hier wurden einst die stählernen Karossen
gefertigt, die wir angestaunt, als wär’n
von fernen Sternen sie herabgesunken,
wenn sie am Sonntag vor dem Kurcafé
mit off’nen Dächern in der Sonne brieten.

Wie duftete es aus dem Inneren
nach Juchten und Virginia, Nina Ricci,
nach Männlichkeit und zärtlicher Verführung!
Wir prägten uns die Namen der Gefährte
wie Götternamen ein, die wir verehrten:
der Buick, zähnefletschend, und der Pontiac
mit dem Indianerkopf auf hohem Kühler,
der Studebaker und der Chevrolet,
der Packard und der Dodge, der Cadillac,
verhießen Allgewalt, Allgegenwart,
auch Allmacht und Allgüte! Nur allwissend,
das war’n sie eher nicht, sie hätten sonst
geahnt zumindest und uns wissen lassen,
dass ihre Zeit begrenzt, auch ihre Dämm’rung
beschlossen war, ihr allgewalt’ger Sitz
am Lake St. Claire dem Untergang geweiht.

O ihr Ruinen des Bewegungstraums,
den nur ein schimmerndes Renaissance-Center
verzweifelt weiterträumt, aus euch erhebt
sich keine Botschaft zukunftsträcht’gen Geists.
Durch Trümmer, starrend von Armierungseisen,
ziehn Rudel von Coyoten ihre Bahn,
im Zentrum wachsen Heide, Schilf und Distel,
den Boden nimmt der Landmann untern Pflug.

In leeren Lofts wird sich zusammenfinden
ein buntes Völkchen von Artisten, die
aus korrodiertem Schrott den Thron errichten,
auf dem der Häuptling Pontiac residiert:
Sein trunknes Lachen gellt mir in den Ohren,
denn an sich selbst ging dieser Wahn zugrunde.
Graugänse ruhn auf eingefallnen Dächern,
wo ehedem vieltausend Sklaven wrackten.
Aus blinden Fenstern wachsen frohe Büsche,
Natur holt sich zurück, was ihr gehört,
und Himmelsstille deckt die Stadt, in der
die maschinelle Hölle nicht mehr tobt,
seit sie, so sagte mir ein Bürgerrechtler,
nach Asien umzog. To the happy few!



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http://diepresse.com/home/kultur/kunst/ ... teportrait
http://www.stylepark.com/de/news/detroi ... l-1/300525



(Erste Version)

Dass auch Beton, der Baustoff der Moderne,
vergänglich sei, bewies mir jüngst das Bild
einer Fabrik, die ungesprengt verfällt,
der Schwerkraft nachgibt, die sie niederzieht.
Hier wurden einst die stählernen Karossen
gefertigt, die wir angestaunt, als wär’n
von fernen Sternen sie herabgesunken,
wenn sie am Sonntag vor dem Kurcafé
mit off’nen Dächern in der Sonne brieten.

Wie duftete es aus dem Inneren
nach Juchten und Virginia, Nina Ricci,
nach Männlichkeit und zärtlicher Verführung!
Wir prägten uns die Namen der Gefährte
wie Götternamen ein, die wir verehrten:
der Buick, zähnefletschend, und der Pontiac
mit dem Indianerkopf auf hohem Kühler,
der Studebaker und der Chevrolet,
der Packard und der Dodge, der Cadillac,
verhießen Allgewalt, Allgegenwart,
auch Allmacht und Allgüte! Nur allwissend,
das war’n sie nicht, sie hätten sonst
geahnt zumindest und uns wissen lassen,
dass ihre Zeit begrenzt, auch ihre Dämm’rung
beschlossen war, ihr allgewalt’ger Sitz
am Lake St. Claire dem Untergang geweiht.

O ihr Ruinen des Bewegungstraums,
den nur ein schimmerndes Renaissance-Center
verzweifelt weiterträumt, aus euch erhebt
sich keine Botschaft zukunftsträcht’gen Geists.
In euren Lofts wird sich zusammenfinden
ein buntes Völkchen von Artisten, die
aus korrodiertem Schrott den Thron errichten,
auf dem der Häuptling Pontiac residiert:
Sein trunknes Lachen gellt mir in den Ohren,
denn an sich selbst ging dieser Wahn zugrunde.
Graugänse ruhn auf eingefallnen Dächern,
wo ehedem vieltausend Sklaven wrackten.
Aus blinden Fenstern wachsen frohe Büsche,
Natur holt sich zurück, was ihr gehört,
und Himmelsstille deckt die Stadt, in der
die maschinelle Hölle nicht mehr tobt,
seit sie, so sagte mir ein Bürgerrechtler,
nach Asien umzog. To the happy few!


(Ergänzte Version erstellt 08.11.2010)
Zuletzt geändert von Quoth am 08.11.2010, 10:10, insgesamt 1-mal geändert.
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 31.10.2010, 22:00

Lieber Quoth,

gerade habe ich meinen ganzen PC durchforstet nach einem Foto, das ich von einer im Zerfall begriffenen Textilfabrik hier in der Region geschossen habe - leider ohne Erfolg. Mich faszinieren zerfallene Gebäude, die Texturen, die Farben, die plötzlichen Einblicke ins Innenleben, in die Bauweise. Das Unerhörte dieses zugelassenen Zerfalls, wo doch sonst immer alles aufgeräumt, instandgehalten, modernisiert wird. Daher fand ich hier den Link zu den Fotos sehr interessant. In deinem Text geht es mir ein bisschen zu schnell fort von dem zerfallenen Gebäude (und den sich darin tummelnden Artisten) und hin zu den Erinnerungen an die Luxuskarossen, aber das ist eben hier dein Schwerpunkt. Die Autos und ihre klingenden Namen, das ist auf jeden Fall eine sehr schöne Passage dieses Gedichts (wenn auch manchmal metrisch etwas verzwickt). Letztendlich erfährt man, dass der Bau der Luxuskarossen wohl gar nicht eingestellt, sondern nur verlagert wurde. Läuft dadurch nicht das vorher Gesagte ins Leere? Man hatte irgendwie schon von dieser Ära Abschied genommen und erfährt nun, dass es sich einfach um ein Standortpoker in der globalisierten Welt handelt.

Alles in allem ein großer Entwurf, in dem du alles verarbeitet hast, was sich rundherum gruppieren lässt, einschließlich des Indianerhäuptlings aus der Vergangenheit. Dafür ist das Gedicht noch erstaunlich kurz geraten - ich fand es sehr interessant zu lesen, bin mir aber nicht ganz sicher, ob es nicht besser gewesen wäre, einen ganzen Zyklus daraus zu machen, damit die einzelnen, von dir gekonnt herauf beschworenen Bilder sich noch besser entfalten können.

Viele Grüße
fenestra

Quoth
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Beitragvon Quoth » 01.11.2010, 20:10

Liebe fenestra,
vor Ruinen stehend, fragt man sich ja, welche Botschaft sie uns vermitteln. Das hat sich auch Poe gefragt, als er sich vorstellte, er stünde vorm oder im Kolosseum in Rom (er war nie da): "The Coliseum". Während er aus dem Zerfall eine Botschaft herausdestilliert, die ich nicht lesen kann, ohne dass vor meinem inneren Auge die schwarzen Kohorten durch die ewige Stadt defilieren, fiel es mir schwer, aus dem Anblick der Ruinen Detroits etwas heraus zu holen - und da erinnerte ich mich an die grenzenlose Bewunderung, die wir als Jungen für die Schlitten der Neureichen des Wirtschaftswunders hatten, und es war wirklich ein Gefühl von Götterdämmerung, das mich ergriff ... Natürlich weicht der Schluss die Botschaft etwas auf - aber es wäre zu opti- und zugleich zu pessimistisch, wollte man glauben, dass mit dem sich abzeichnenden Untergang Detroits der Traum von der unbegrenzten automobilen Freiheit ausgeträumt wäre - die "neuen Autos" sind ein bisschen kleiner, that's all. "BYD" heißt eine chinesische Automarke: Build your dream!
Mit Dank für Befassung
Quoth
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 08.11.2010, 10:13

Hab den Text ergänzt (er sollte nicht kürzer sein als der von Poe), eine der von fenestra erwähnten "metrischen Verzwicktheiten" geglättet und einen Link hinzugefügt.
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 09.05.2016, 08:39

Habe mit Freude (mit Angst?) gelesen und Einiges dazu gelernt.


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