Marguerite Duras

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Xanthippe
Beiträge: 1312
Registriert: 27.06.2008
Geschlecht:

Beitragvon Xanthippe » 28.01.2015, 07:52

Wenn es das überhaupt gibt: ein Zentrum der Geschichte, dann ist es das Meer. Das Meer, aus dem wir hervorgegangen sind. Wassergeister. Undinen. Sirenen. Das uns ausgestoßen und an Land gespuckt hat.

Nach dem wir uns beständig (zurück) sehnen: Die Brandung, die Möwen, der Geruch.

Was um ein derartig (leeres) Zentrum herum entsteht, ist ein Fließen der Unmöglichkeiten, und wie sie sich manchmal aufheben für Momente. Begrifflos und leicht wie der Wind. Leicht und gewaltig. Nicht fassbar. Wie sie. Ihre Sprache. Ihr Gesicht. Bevor es zerstört ist. Bevor sie sagen kann: Ich habe ein zerstörtes Gesicht. Und das ist keine Behauptung.

Sondern das Zentrum der Geschichte.

Und die Zerstörung, das ist die Schönheit. Die Einzigartigkeit. Ein grausamer Zug, der die Gegensätze weder auslöscht noch vereinigt, sie vielleicht nicht einmal erträglich macht, ihnen nur die Klarheit, die Aufrichtigkeit einer kompromisslosen Beschreibung entgegensetzt.

Aufrichtigkeit als einziges Zentrum der Geschichte.

Wer könnte aufrichtiger sein als das Meer?

Oder ein zerstörtes Gesicht?

Quoth
Beiträge: 1853
Registriert: 15.04.2010
Geschlecht:

Beitragvon Quoth » 28.01.2015, 18:14

Ich verstehe den Zusammenhang zwischen Meer und zerstörtem Gesicht nicht. „Nicht fassbar wie sie.“ Mit „sie“ beziehst Du Dich wohl auf die titelgebende Gestalt: Marguerite Duras. Sie ist tatsächlich eine Meisterin schwer fassbarer Verknüpfungen. So hatte sie 1977 einen Film geschrieben und inszeniert mit dem Titel „Le camion.“

Code: Alles auswählen

http://www.plathey.net/livres/francophone/duras.html
etwas runterscrollen!
Sie sitzt mit Gérard Depardieu in einem Zimmer und trägt ihm den Text ihres nächsten geplanten Films vor. Er soll, wenn ich mich recht erinnere, von einer Tramperin handeln. Depardieu sagt kein Wort, die Duras raucht und liest vor … Unterbrochen wird ihr Vorlesen nur durch Bilder eines riesigen blauen Dreißigtonners, der durch verschiedene französische Landschaften fährt. Diesen Film haben wir uns im von Klaus G. Jaeger geleiteten Filmforum von Düsseldorf (Vorläufer des heutigen Filmmuseums) angeschaut. Das muss 1979 gewesen sein. Marguerite Duras war eingeladen, eine kleine rundliche geistsprühende Person, die uns kaum zu Worte kommen ließ. Aber als es um die Deutung des blauen Lastwagens ging, konnte ich mir mit der Theorie Gehör verschaffen, der blaue Camion sei eine Neuauflage der blauen Blume der Romantik. Das war ein Versuchsballon – aber Madame war begeistert! Darauf bin ich heute noch stolz – die Begeisterung einer solchen Kapazität hervorgerufen zu haben. Wir saßen übrigens in einem Düsseldorfer Brauhaus, ich glaube, es war das „Füchschen“. Und Frau Duras vertilgte mit gutem Appetit ein Eisbein mit Sauerkraut!
Ist ein bisschen off topic - ich hoffe, Du verzeihst es mir.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Benutzeravatar
Zefira
Beiträge: 5722
Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 28.01.2015, 19:02

Und heute ist Depardieu selbst ein blauer Dreißigtonner ...
(sorry für den Kalauer, musste jetzt sein!)
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Xanthippe
Beiträge: 1312
Registriert: 27.06.2008
Geschlecht:

Beitragvon Xanthippe » 29.01.2015, 20:24

Lieber Ouoth,
der Zusammenhang zwischen zerstörten Gesicht und Meer liegt doch auf der Hand. Daher habe ich auch gar keine Hemmungen, das hier zu erläutern: weder einem zerstörtem Gesicht noch dem Meer liegt an Täuschungen, sie geben nicht vor etwas zu sein, was sie nicht sind.
Ehrlich gesagt vermute ich allerdings, dass Dir nicht so sehr am Text gelegen war, als daran, Deine Anekdote zu erzählen, die in der Tat sehr mitteilenswert ist. Ich beneide Dich darum, Frau Duras einmal von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben. Also gibt es da auch nichts zu verzeihen, nur hoffe ich eventuell in Zukunft doch noch etwas zum Text selbst zu lesen, ich denke, er hat es verdient.

Benutzeravatar
birke
Beiträge: 5276
Registriert: 19.05.2012
Geschlecht:

Beitragvon birke » 30.01.2015, 10:51

finde ich ganz wunderbar, xanthi.
in den unmöglichkeiten stecken auch die möglichkeiten.
und das meer sowie das zerstörte gesicht sind deshalb "schön", weil sie aufrichtig sind.
echt und wahr.
und weil sie uns so viel erzählen können?

(ich glaube, ich muss mal wieder etwas von der duras lesen!)

lg
birke
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/

Quoth
Beiträge: 1853
Registriert: 15.04.2010
Geschlecht:

Beitragvon Quoth » 30.01.2015, 17:24

Xanthippe hat geschrieben: der Zusammenhang zwischen zerstörten Gesicht und Meer liegt doch auf der Hand. Daher habe ich auch gar keine Hemmungen, das hier zu erläutern: weder einem zerstörtem Gesicht noch dem Meer liegt an Täuschungen, sie geben nicht vor etwas zu sein, was sie nicht sind.

Was Dir auf der Hand zu liegen scheint, Xanthippe, erscheint mir als Konstrukt. Zwischen dem blauen Camion und der blauen Blume gab es ein schlichtes, einleuchtendes „tertium comparationis“: die Farbe Blau. Zwischen einem zerstörten Frauengesicht und dem Meer soll dieses Verbindende die Aufrichtigkeit sein, der Verzicht auf Täuschung? Du kannst so assoziieren – aber ich muss mich aufraffen, Dir dabei zu folgen. Letzten Sonntag war ich an der Ostsee, sie lag da friedlich und flach und blau. Aber ich empfand das durchaus nicht als aufrichtig, weiß ich doch, wieviel biologischer Existenzkampf sich unter der friedlichen Oberfläche verbirgt, wieviel Müll darin schwimmt, wie viele chemische Kampfstoffe, Bomben, gesunkene Schiffe und tote Seeleute aus Jahrhunderten auf ihrem Grund liegen … Ich glaube, es ist eine sehr weibliche Perspektive, das Meer so zu sehen, wie Du es tust, nicht zufällig bringst Du weibliche Gottheiten mit dem Meer in Verbindung (Undinen, Sirenen). Poseidon mit seinem Dreizack würde nicht in den sanften Fluss des Textes passen. Dass dieser in der Aussage der Duras über ihr Gesicht kulminiert, ist auch sehr weiblich. Würde je ein Mann eine solche Aussage über sein Gesicht treffen? Auch Männergesichter werden durch Altern zerstört, Rauchen und Trinken tun ein Übriges – aber Männern sind ihre Gesichter viel gleichgültiger. Auf eine Tonne Kosmetikprodukte für Frauen kommen vielleicht 10 kg für Männer. Von daher fände ich es leichter nachvollziehbar, wenn das Bindeglied zwischen Meer und Frauengesicht die Eitelkeit wäre. Beide täuschen gern mehr Schönheit vor, als in Wirklichkeit da ist. Das zerstörte Frauengesicht hätte für mich auch ein maritimes Pendant: das Schwemmgut von Müll und Tod an einer Küste nach einem Sturm. Freilich: Verglichen mit Deinem rätselhaft vertwisteten Text sind meine Entsprechungen banal.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

pjesma

Beitragvon pjesma » 05.02.2015, 19:17

hab duras vor cca 25 jahre gelesen, weiß nicht mehr was...ich weiß nur, wenn ich den namen höre steigen in mir drei empfindungen: dunkel, tief, verstörend...so empfand ich sie. vielleicht war ich zu jung, und vielleicht trifft es auf meerparabel? sollte vllt. noch mal.....
lg

Xanthippe
Beiträge: 1312
Registriert: 27.06.2008
Geschlecht:

Beitragvon Xanthippe » 06.02.2015, 08:27

Ich weiß gar nicht so recht, wie ich nun reagieren soll auf die eingegangenen Kommentare, die ja alles sehr Marguerite Duras in den Vordergrund stellen, entweder als persönliches Erlebnis einer Begegnung mit ihr, oder eben als Lektüreanreiz (was sich natürlich immer lohnt, Duras zu lesen, meine ich). Ich bin da ein wenig hilflos, wie ich das einordnen soll in Bezug auf meinen Text, heißt das, der Text erreicht niemanden, nur der Name Marguerite Duras? Ist das vielleicht das große Manko des Textes, dass dieser Name alles andere unter sich begräbt, und so gar keine Auseinandersetzung möglich macht?
Ratlos (aber dankbar für jede Wortmeldung)
Xanthi

Benutzeravatar
birke
Beiträge: 5276
Registriert: 19.05.2012
Geschlecht:

Beitragvon birke » 06.02.2015, 09:44

hallo xanthi,

mein oben stehender kommentar bezieht sich ja schon auf deinen text.
(die duras erwähnte ich dann ja nur in klammern ;) )

aber dennoch, ja, natürlich, durch die überschrift steht der text automatisch stark in kontext mit ihr.

lg,
birke
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/

Benutzeravatar
Ylvi
Beiträge: 9468
Registriert: 04.03.2006

Beitragvon Ylvi » 06.02.2015, 09:44

Hallo Xanthi,

mein Problem mit dem Text, oder eher mit einer Rückmeldung dazu ist, dass er vermutlich in sich, in seiner eigenen Logik völlig stimmig ist, und dass ich die Art des Schreibens selbst auch sehr mag, aber er stellt seine Behauptungen so fest und unerschütterlich als Wahrheit auf und türmt sie aufeinander, dass die Fragezeichen am Ende nur noch rhetorisch scheinen und einen unangnehmen Ton hineintragen. Dass das auch noch benannt wird mit "Und das ist keine Behauptung." und du auch das "wir" einsetzt, statt einem "ich" verstärkt dieses Gefühl noch, dass man inhaltlich wohl nur noch ja oder nein sagen kann, entweder Teil dieses "wir" ist, oder (als Ignorant) außen vor bleiben muss, aber kein Raum für Annäherung, Gespräch, oder Anknüpfungspunkte da ist, wenn man die Sichtweise nicht teilt, den Assoziationen nicht folgen kann.
Auch der Titel geht für mich in diese Richtung. Er stellt den Namen voran, als könnte der Text diese Person zeigen, erklären, bestimmen, nicht ein "was ich über sie denke", oder "wie ich sie sehe", sondern "so ist sie", "so sieht sie die Welt", "so ist ihre Sprache", "so schreibt sie", kein Zusatz, der das irgendwie abfedern könnte, oder der Person und anderen Sichtweisen einen eigenen Raum geben würde. Mir ist das zu absolut und zu bestimmend, einengend und irgendwie übergriffig. Aber es passt eben darin zum Text, von daher kann ich auch das schlecht als Kritikpunkt anführen.
Soweit mal der Versuch einer Rückmeldung, ich weiß aber nicht, ob dir das weiterhilft?

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Xanthippe
Beiträge: 1312
Registriert: 27.06.2008
Geschlecht:

Beitragvon Xanthippe » 06.02.2015, 13:21

Liebe Flora,
ganz großen aufrichtigen Dank für diese sehr aufschlussreiche Antwort von Dir. Das erklärt ganz viel, mehr als ich hier schreiben will, über mich, mein Schreiben im Moment und nicht zuletzt auch, dass dieser Text offenbar genau so geworden ist, wie er sein muss.
Herzlichen Dank an Dich, Du hast mir sehr viel weitergeholfen!
Xanthi

Quoth
Beiträge: 1853
Registriert: 15.04.2010
Geschlecht:

Beitragvon Quoth » 26.02.2015, 15:49

Hallo, Xanthippe, Flora hat die Absolutheit, mit der Du gleichsam "ex cathedra" sprichst, recht treffend analysiert. Noch ein Nachtrag von mir, weil ich Dich ja wohl eher enttäuscht habe mit meinen Beiträgen. Ich kenne Marguerite Duras eigentlich nur durch die Spuren, die sie im Kino hinterlassen hat (insbesondere "Hiroshima mon amour") und habe sie einmal wie beschrieben erlebt. Was mir an ihr gefiel und gefällt, ist ihre Fähigkeit, sich dem Entsetzlichen und Unästhetischen zu stellen, das ist eine Kraft, die ich mir oft wünsche, aber zu bereitwillig flüchtet man sich als Schreiber ja in vorgegebene Formen, hübscht klanglich und inhaltlich auf, glättet mit sprachlichem Botox ... Die Meere der Duras sind nicht nur gnadenlos wahrhaftig wie ein alterndes Gesicht, sie trügen auch (stelle ich mir vor) Feuer speiende Schlachtschiffe, sie schaut nicht weg, sie ist unbehütet, schutzlos, preisgegeben und hält stand ... Das ist das, was ich fühle, wenn ich an sie denke - in den Mittelpuinkt dieses Fadens hast Du sie gerückt durch Deinen Titel, der sie wohl in Deine Sprachwelt integrieren sollte - aber so konnte das nicht gelingen, dafür ist sie zu sehr sie selbst.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Xanthippe
Beiträge: 1312
Registriert: 27.06.2008
Geschlecht:

Beitragvon Xanthippe » 26.02.2015, 20:56

Ehrlich gesagt, verstehe ich die Notwendigkeit dieses Nachtrags nicht. Es ist doch wohl hinreichend klar geworden, dass wir uns gründlich missverstehen und unentwegt aneinander vorbei reden. Ich habe aber trotz allem verstanden, dass Dir der Text nicht zusagt. Was mich dennoch veranlasst zu antworten ist die Tatsache, dass ich ganz bestimmt niemals beabsichtigt habe, Frau Duras in irgendetwas zu integrieren, dazu verehre ich sie viel zu sehr. Ich habe einfach einen Text geschrieben, der für mich so einleuchtend gewesen ist, dass er den Leser ausgeschlossen hat, worauf mich Flora gewohnt professionell hingewiesen hat.

Benutzeravatar
birke
Beiträge: 5276
Registriert: 19.05.2012
Geschlecht:

Beitragvon birke » 26.02.2015, 21:15

ich finde eigentlich nicht, dass dein text den leser ausschließt.
mich jedenfalls schließt er nicht aus.
dein text ist aber, wie du selbst in ihm schreibst: "die Aufrichtigkeit einer kompromisslosen Beschreibung" - kompromisslos. und aufrichtig!
ja, das ist er. und das ist es, was mir an ihm imponiert.
vielleicht auch deshalb, weil ich den text irgendwie einfach gut nachvollziehen kann. weil er mir viel sagt.
lg,
birke :)
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 3 Gäste