Hänsel und Gretel

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 21.06.2014, 11:09

2. Fassung:

Ach Hänsel,
in welches Raunen
hat uns der Vater entlassen.
Die flüsternden Bäume
spenden Vernunft,
wiegen die Kieselsteine in deinen Taschen
mit Dunkelheit auf.

Auf unseren leeren Plätzen am Tisch
sitzt der Hunger,
liegt die Erinnerung der Notwendigkeit
schwer im Magen.

Das Beharren auf Güte
muss man sich leisten können.
Wir aber
fallen einander ins Gewicht.
In unseren Mienen Kummer
und unerklärliche Zuversicht.

Die Macht der Brüche,
und wie wir aus Worten
Brücken schlagen.
Süß wie Kuchen.



Ach Hänsel,
sagt Gretel,
draußen flüstern die Bäume von Vernunft.
Wir wissen nicht mehr, wohin wir uns wenden.
Auf unseren Plätzen am Tisch
sitzt der Hunger,
zwinkert uns zu,
während du Kieselsteine in deine Taschen steckst,
und dich fragst, ob die gütigen Gedanken,
die mit unserer Mutter gestorben sind,
dem Himmel schwer im Magen liegen.

Später am Feuer,
fallen wir einander ins Gewicht.
In unseren Gesichtern liegt Kummer,
aber auch eine unerklärliche Zuversicht.
Der Glaube daran, dass man aus Keksen Häuser errichten
und aus Geschichten ein neues Leben weben kann.

Was uns im Wald zurückgelassen hat
war gar nicht unser Vater,
sondern der Glaube an die Unteilbarkeit der Angst.
Zuletzt geändert von Xanthippe am 15.07.2014, 10:59, insgesamt 1-mal geändert.

RäuberKneißl

Beitragvon RäuberKneißl » 21.06.2014, 17:03

Hallo Xanthi,
den Stoff finde ich reizvoll, aber du hast es recht explizit ausgedeutet. Ich würde, glaube ich, dem Leser mehr zumuten. Z.B.:

Ach Hänsel, wohin hat uns
der Vater verlassen?
Die Bäume flüstern voll Vernunft.

Am Tisch sitzt der Hunger.
Ob die gütigen Kieselsteine in deinen Taschen
dem Himmel schwer im Magen liegen?

Wir fallen einander ins Gewicht.
Wir werden aus Keksen ein Haus bauen
und aus Geschichten ein neues Leben weben.

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 22.06.2014, 09:10

Du hast vollkommen Recht. Dieses Gedicht spricht alles zu deutlich aus. Danke für die Rückmeldung.

ecb

Beitragvon ecb » 22.06.2014, 18:14

Mir gefällt das Gedicht so sehr, Xanthippe, es hat so einen ganz eigenen Ton, daran darf für mich nicht groß geändert werden.

Nur ein paar Dinge, die mir aufgefallen sind:

-
die mit unserer Mutter gestorben sind,

hier frage ich mich, ob es, um des leicht gehobenen Sprachduktus willen nicht lieber heißen sollte:
"die mit unserer Mutter starben"

- leicht stoße ich mich an dem Wort "Kekse", es fällt für mich ein wenig aus dem Ton, und ich frage mich, ob hier nicht eventuell "Kuchen" besser wäre?

- die "Unteilbarkeit der Angst" ist mir ein wenig zu abstrakt, könnte man zur Charakterisierung des Gemeinten vielleicht einen anderen Begriff oder eine andere Umschreibung finden?

Sonst würde ich das Gedicht gern so beibehalten sehen, wie es ist, es spricht mich sehr lebendig an, und ich finde auch nicht, daß es zuviel ausspricht. Warum sollte es hinter dem Berg halten, wenn es eine Lage beschreiben will, für die es keinen Ausweg gibt? Die Darstellung des Konflikts sollte schon einige Deutlichkeit haben.

Das wären so meine Gedanken dazu.
Liebe Grüße
Eva

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 24.06.2014, 13:05

Herzlichen Dank für Deinen Widerspruch, Eva, und besonders für die Vorschläge, die auf jeden Fall Verbesserungen sind.
Ich arbeite an einer Überarbeitung, die das Gedicht weniger deutlich machen soll, ohne den Ton allzu sehr zu verändern, nur Sätze wie "Der Hunger saß an unseren Plätzen am Tisch" sind wirklich redundant, in einem Gedicht, das auf Hänsel und Gretel anspielt.
Viel mehr Kummer bereitet mir ja die Tatsache, dass der Schlussvers, den ich für den Clou (und einzigen Berechtigungsgrund) des Gedichtes gehalten habe, offensichtlich nicht ankommt. Du empfindest ihn als zu abstrakt, während er beim Vorschlag des Räubers gleich ganz weggefallen ist.
Daran muss ich noch kauen.
Bis das verdaut ist, noch einmal herzlichen Dank für eure Anregungen!
Xanthi

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 30.06.2014, 20:08

Liebe Xanthippe,

ich weiß nicht, ob es zu explizit ist - wenn es tief genug ist, lese ich das eigentlich gern, wie wir dieses Gedicht gezeigt hat:

"sondern der Glaube an die Unteilbarkeit der Angst"

ich lechze nach solchen ...wie man es auch immer nennt, es fühlt sich dann gerade danach an, als müsse man das nicht glauben - und darum geht es ja.

Ich glaube eher, dass der Text an einigen Stellen seinen Rhythmus noch nicht gefunden hat, weil es natürlich mit einem Gedanken entstanden ist...Verstand, dem Himmel schwer im Magen, fallen einander ins Gewicht sind zu beschwerliche Phrasen, weil sie im Gegensatz zum Analogen (Hänsel und Gretel) gedacht sind...

Liebe Grüße
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 12.07.2014, 13:40

Danke Lisa, für diese Mischung aus Ermutigung und hilfreichen Hinweisen.

Klara
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Beitragvon Klara » 13.07.2014, 12:32

Liebe Xanthippe,

hier bin ich schon öfter dran vorbeiwandert und stehen geblieben...
an Hänsel und Gretel und den Verhältnissen, die so nicht sind, die sind.

Ein starker Text, den lese ich. Offenbar differieren die Lesarten und Geschmäcker hier völlig.
Ich könnte mir eine noch engere Verschränkung mit religösen Bildern produktiv vorstellen. "Mein Gott, warum hast du mich verlassen"

oder mit dem Volkslieggut:

Wo soll ich mich hinwenden in dieser schlechten Zeit
An allen Orten und Enden ist nichts als Hass und Streit
Rekruten fanget man, soviel man haben kann –
Soldat muss alles werden, sei einer Knecht oder Mann
Soldat muss alles werden, sei einer Knecht oder Mann

Der Kaiser hat beschlossen, zu ziehn in fremdes Land
Viel Krieger werden erschossen, getroffen von Feindes Hand
Das ist der Kriege Lauf, Regenten steigen auf –
Vieltausend von uns müssen ihr Leben geben drauf
Vieltausend von uns müssen ihr Leben geben drauf

Ade nun Vater und Mutter, ade mein lieber Freund
Muss mich zur Reise bequemen, noch auf die Festung heut
Denn es regiert die Welt nur Falschheit und das Geld –
Der Reiche kann sich helfen, der Arme muss ins Feld
Der Reiche kann sich helfen, der Arme muss ins Feld
Ach Hänsel und Hänsel und Gretel, Ade

Die schweren Steine (statt Wolken?) am Himmel (im Magen) finde ich toll. Wuchtig. Ein schwieriges Bild, ganz knapp an der missglückten Metapher vorbei, aber eben doch nicht: GEFÄLLT MIR. Lässt mich innehalten.

Die Adjektive: Stimmen sie alle? Oder brauchst du sie alle? (unerklärlich z.B. ist, glaube ich, unnötig)
Die Kieselsteine - reichen auch Steine?

zwinkert uns (ohne zu) würde mir reichen.

Hach, und so schön diese zwei Verse (ich glaube, ich würde nach Kummer direkt anschließen, ohne Zuversicht, Glaube reicht: liegt Kummer, doch auch der Glaube...)


Der Glaube daran, dass man aus Keksen Häuser errichten
und aus Geschichten ein neues Leben weben kann.


Das klingt so gut, so gut!

Statt unser (Mutter, Vater) würde ich vielleicht DER und DIE schreiben (Mutter, Vater)
aus dem Perfekt des zurückgelassen hat das (potenziell nicht endende) Präteritum machen: zurückließ.

Den letzten Vers verstehe ich nicht, weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist. Oder sich noch ändert.
Zum Duktus insgesamt passt er, obwohl er auch arg schwerfällig wirkt in seiner Gedankenlastigkeit - das nun wiederum passend zu den Steinen, an denen der Himmel sich womöglich verschluckt hat wie Rotkäppchens böser Wolf, der vielleicht bei Hänsel und Gretel zum Hunger wurde, zum GEgenteil, zur unsterblichen Angst?

Danke für den tollen, tollen Text.
(Falls du änderst oder neu schreibst, bin ich neugierig aufs Ergebnis)

klara

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 15.07.2014, 11:04

Viele vielen Dank Klara, für Deine weitreichenden Gedanken zu meinem Versuch. Angereichert mit Volksliedgut und so vielen Ideen. Der letzte Satz, an dem ich immer noch sehr hänge, ist nach langer Überlegung jetzt gestrichen. In diesem Gedicht. Vermutlich hat er sich einfach verirrt, aber ich bin ganz zuversichtlich, dass er seinen Platz in welchem Gedicht auch immer, noch finden wird.
Herzlichen Dank für den tollen Kommentar.
Xanthi

Klara
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Beitragvon Klara » 15.07.2014, 12:06

:)

Hm... das ist ja jetzt ein ganz anderes Gedicht.
Hab im Moment keine Zeit für erneute Beschäftung, - es ist jedenfalls, scheint mir auf Erstblick, was völlig anderes.
Interessant...

herzlich
klara


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