frage... nach dem regen

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carl
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Beitragvon carl » 26.05.2006, 17:48

frage... nach dem regen

goldne pyramide lichtgestuft
vom wolkengeröll aus den bergen
und atem feuchter weizenfelder
vom summen der straßen gesäumt:

hat die nasse distel mehr kraft
am rand unsres gewerbegebiets als
eines heurigen ego in buch oder tv-format?

was solls. alle sind ohne aussicht - keiner
wählt den standort selber im asphalt.
wog aber ein regenbogen jemals

mehr?



Version vor Last:

goldne pyramide lichtgestuft
vom wolkengeröll aus den bergen
und atem feuchter weizenfelder
vom summen der straßen gesäumt:

hat mehr kraft die nasse distel
am rand unsres gewerbegebiets oder
eines heurigen ego in buch oder tv-format?

was solls. sind alle ohne aussicht - keiner
wählt den standort selber im asphalt.
wog aber ein regenbogen jemals

mehr?
Zuletzt geändert von carl am 28.05.2006, 08:57, insgesamt 1-mal geändert.

Last

Beitragvon Last » 28.05.2006, 08:27

Hallo Carl,

eine zwielichtige, nachdenkliche Zivilisationskritik, die Probleme zwar anspricht, aber nicht verurteilt. Dieses Urteil überlässt du über die rhetorischen Fragen dem Leser. Das gefällt mir schon thematisch.
Die Bilder hast du meist dabei gut gewählt, besonders die ersten beiden Zeilen mag ich, sie beeinhalten eigentlich die ganze Aussage des Gedichtes und wenn man es genau nimmt geben sie sogar eine Richtung vor, in der die Antworten auf die später gestellten Fragen liegen (wobei ich aber im Zweifel bin, ob es wirklich passt). Die Natur wird gekrönt durch ihre Besonderheit in einer modernisierten Welt, gewinnt an Wert. Ich frage mich jetzt, ob dieses erste Bild nicht die Kausalität anders herum setzt. So erhält hier ja der Fortschritt (goldene Pyramide?) eine Aufwertung durch Sorgen aus dem Naturbereich (Wolkengeröll?). Es könnte dir natürlich auch um die Interaktion von moderne und Natur gehen, jedoch gehen alle anderen Bilder in die andere Richtung (Moderne vertreibt und veredelt Natur), das wäre deshal auch nicht so ganz stimmig.

Sprachlich benutzt du teils eine etwas altertümliche Sprache (z.B. "heurigen"), aber ohne Groß- und Kleinschreibung, damit ist der zwiespalt auch verbildlicht. Dabei sollte man vielleicht an zwei Stellen nochmal über den Satzbau nachdenken.

hat mehr kraft die nasse distel {klingt geschwollen in meinen Ohren, empfinde den Kontrast Alt-Neu aber durch die Wortwahl schon genügend ausgeführt}
hat die nasse distel mehr kraft {wäre dann angenehmer zu lesen}

sind alle ohne aussicht {ebenso, dieser Satz erhält durch den Gedankenstrich schon genug Betonung, da stört der Satzbau eher, als noch aufmerksamer zu machen}
alle sind ohne aussicht

Das Enjambement an der letzten Strophe finde ich übrigens überaus gelungen, was ich auch noch erwähnen wollte :smile:

carl
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Beitragvon carl » 28.05.2006, 08:55

Hallo Last,

Dank für Deine differenzierte und einfühlsame Betrachtung!
Über die Inversionen muss ich nochmal nachdenken. Das Gedicht stammt aus einer Zeit, wo ich damit (noch) keine Probleme hatte (es ist übrigens vor ca. 3 Jahren in "Krautgarten" veröffentlicht, das verführt dazu, vorschnell etwas abzuschließen. Andrerseits ergibt sich die Problematik, dass man seine Lyrik nicht immer dem Jetztstand anpassen kann.)
Deine Vorschläge sind leichte Eingriffe zum Besseren hin...

LG, Carl

P.S.: bei "Heuriger" denke ich an den diesjährigen, noch unausgegorenen Wein. C.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 03.06.2006, 08:21

Hallo carl,

Last hat ja schon serh ausgiebig an diesem Text gearbeit...daher sei es mir erlaubt, einfach nur zu sagen, dass ich diesen Text bildsprachlich sehr sehr stark finde. Das Thema endlich eimal etwas verschachteltet und nicht allzu direkt zu lesen, gibt ihm eine neue Frische, das gefällt mir.

Ich frage mich nur: warum ist das mehr so abgesetzt?

Liebe Grüße,
Lisa

carl
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Beitragvon carl » 23.06.2006, 09:40

Hallo Lisa,

"wog aber ein regenbogen jemals (etwas)?"
ist ja eine mögliche Frage zum Abschluss, in dem Sinne:
Lohnt es sich, dem Schatz am Ende des Regenbogens nachzujagen, oder ist das eine Illusion? Sollte ein postmoderner, lakonischer, ironischer, die Verhältnisse anprangender Dichter, oder was auch immer, das nicht lieber lassen?
"wog aber ein regenbogen jemals
mehr?"
Durch die Fortsetzung des Satzes und das Enjambement wird angedeutet, dass ein Regenbogen heute wichtiger ist, denn je.
Da die beiden vohergehenden Strophen 3 Zeilen hatten,kann jetzt sogar eine 4. Strophe anfangen, die mit dem "mehr?" abbricht.

Liebe Grüße und Dank fürs Lesen, Carl

aram
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Beitragvon aram » 25.06.2006, 22:51

hallo carl!

dein letzter kommentar ist gut nachvollziehbar - beim intuitiven lesen kriege ich diese schnelle doppelte wendung ("aber", "mehr") jedoch nicht hin - deshalb ist der text - ganz persönlich für mich - ohne das 'aber' lyrischer und tiefer - auch wenn das deiner stringenten logik nicht gerecht wird.

etwas verstehe ich nicht und frage dich einfach direkt: "eines heurigen ego" ? (stehe ich auf der leitung?)

die allererste zeile hat mich lang von diesem schönen gedicht "abgehalten" - obwohl ich es bereits mehrmals hier las, kann ich mich erst jetzt ganz hineinsinken lassen - es ist glaube ich dieses stakkato, das spektakuläre an der zeile, das mich vom rest des gedichts "wegspreizt" - verblüffend, denn ich finde sie der eröffnungszeile meines textes 'r. d. schulungsraumes' sehr ähnlich! (die steht dort allerdings für unbemerkte geistige verwirrung -bzw. wird vom rhythmus der folgezeile aufgefangen, das fehlt mir glaub ich hier)

zu guter letzt noch zum titel:
für mich der eindrücklichste im ganzen forum - ausnahmslos jedes mal bleibe ich daran hängen, wenn ich die titelliste der rubrik vor mir sehe - (von daher die 'besten drei punkte seit überhaupt' - wie eine kleine geschichte für sich)

danke für das gedicht!
liebe grüße,
aram

aram
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Beitragvon aram » 25.06.2006, 23:02

ps. das "heurige ego" habe ich mir inzwischen aus deinem oben stehenden kommentar erschlossen -
leider kann ich das beim besten willen nicht so lesen, wie du möchtest,
vermutlich weil ich aus wien stamme - "heurig" steht beim wein für jung, nicht für unausgegoren (most - sturm - /ende der gärung/ - staubiger - heuriger)

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 26.06.2006, 11:59

Lieber carl,
dafür habe ich jetzt das abgesetzte mehr verstanden. Im Grunde erst durch deinen Hinweis in Lavinia :schaem: .

Danke für die gelungenen Ausführungen!
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

carl
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Beitragvon carl » 26.06.2006, 16:59

Hallo Aram!

Dank für Deinen Kommentar!
"aber" hat etwas dramatisches, das erlebe ich inzwischen ambivalent...
"Heuriger", so dachte ich, käme von "heuer" = "diesjährig", und hieße bei uns "Federweißer": hick. Der ist jedenfalls noch nicht ausgegoren...
Wenn Du als alter Wiener das aber anders siehst, müssen wir die "egos" in "heutige" umtaufen!

Liebe Grüße, Carl

aram
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Beitragvon aram » 27.06.2006, 21:38

hallo carl,

dem 'federweißen' würde ziemlich genau der 'sturm' entsprechen - du müsstest also 'richtigerweise' sagen "eines stürmischen ego" :-)
-aber ensthaft: diese zeile finde ich auch in der satzstellung etwas holprig;
und ist "ego" an sich nicht schon deutlich? - dann könntest du z.b. schreiben "ein ego in buch- oder fernsehformat".

liebe grüße, aram


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