An Lavinia

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 18.06.2006, 17:53

<center>An Lavinia
oder: Hoffnungsvoller Brief an das Theater

Auf dem Schatten
deines Geliebten

nahmen sie dich
nahmen sie dir

Zunge und Hand

als dein Vater dich fand

stellte sich die Frage
ob du so leben wolltest

für dich nicht

Davon erzählt die Glut
in deinen Eisenarmen

Möge das Theater
vielen deiner Kinder Zuhause sein

Ophelia und ihre Schwestern
haben es allzu lang
bewohnt

</center>

Das Gedicht bezieht sich auf die Aufführung: Schändung, die derzeit im Schauspielhaus Bochum läuft:
http://www.schauspielhausbochum.de/asp/ ... perform=17

Die Figur der Lavinia stammt aus Shakespeares "Titus Andronicus", das ganze Stück Schändung ist eine Adaption dieses Stückes von Shakespeare, rückt aber die Figur der Lavinia in den Mittelpunkt.

Ich habe noch nie solche eine solch kraftvolle und zugleich anrührende Dramenfigur auf der Bühne gesehen und ihr Schicksal nimmt (endlich einmal) eine völlig andere Wendung als all die anderen weiblichen Figuren, die dem Untergang geweiht sind.

Trotz des Leides, das ihr widerfährt, bleibt sie ein Mensch voller Lust und Wünsche. Mich hat sie sehr berührt. Daher dieses Gedicht.
Zuletzt geändert von Lisa am 23.06.2006, 10:51, insgesamt 1-mal geändert.
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Max

Beitragvon Max » 18.06.2006, 20:14

Liebe Lisa,

da ich das Stüc k ja auch kenne und besonders die eindrückliche Szene als der Vater (gespielt von Bruno Ganz) die Tochter fragt, ob sie denn so leben wolle, kann ich beurteilen, dass das Herz des Stücks wunderbar getroffen ist. Ich finde sowohl den Anfang

Auf dem Schatten
deines Geliebten


mit dem Schatten des Geliebten sprachlich wunderbar gelöst, als auch das Umschalten in

nahmen sie dich
nahmen sie dir
.

Ich könnte mir in der Folge aber vorstellen, die Kernfrage noch stärker herauszuarbeiten, vielleicht etwa so:
die Frage
ob du leben wolltest
ob du
so
leben wolltest


allerdings ist dann die Zeile

für dich nicht


problematisch.

In der Strophe

Davon erzählt die Glut
in deinen Eisenarmen


würde ich darüber nachdenken, das "erzählt" durch "weiß" zu ersetzen, was denkst Du?

Liebe Grüße
Max

aram
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Beitragvon aram » 22.06.2006, 02:32

hallo lisa,

ich kenne das stück nicht und komme (zumindest ohne diesen hintergrund) nicht so in resonanz mit dem gedicht -
nur eine kleine formale anmerkung: den zweiten zeilenumbruch in der vorletzten strophe finde ich problematisch - kann der unbestimmte artikel nicht entfallen? oder betonst du ihn hier bewusst - dann müsste er wohl in die nächste zeile, oder?

liebe grüße,
aram

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 22.06.2006, 09:37

Hallo aram,

ja, wer das Stück nicht kennt, hat sicher Schwierigkeiten, das Gedicht ist auch mehr oder weniger für mich als Erinnerungsglas dieses Stückes geschrieben.

Vielleicht, um ein wenig Berührungspunkte zu schaffen: Du kennst sicher Hamlett und dort Ophelia, oder Emilia Galotti als Theaterfiguren. Ophelia hat ein ganzes Wasserleichenmotiv nach sich gezogen...bis in die Lyrik (Rimbaud, Benn, Heym, bis Brecht es gewissermaßen verabschiedete). Auch Emilia kann als Figur ihre innersten Werte (den Emilia-Kern) nur durch ihren Tod emanzipieren (moralische Emanzipation des Bürgertums gegenüber dem Adel, etc...)...sehr oft ist die klassische Form nach einer Verletzung des weiblichen Ichs einer Figur also der Tod oder das Dahinsiechen oder das Wahnsinnigwerden, etc.

Lavinia ist völlig anders (in dieser Aufführung). Obwohl sie von zwei Männern auf dem Leib ihres zuvor getöteten Verlobten vergewaltigt wird und, damit sie nicht daon erzählen kann, Zunge und Hände abgeschnitten werden, sagt sie unmittelbar nach dieser Tat, als ihr vater sie findet, !Ja" auf die Frage, das sie leben wolle (besser sie tönt es, sprechen kann sie ja nicht mehr)...ihr Vater kommt damit nicht klar...das solch ein verunstaltetes, geschändetes Wesem weiter leben will. Doch Lavinia spürt in sich, die Lust haben sie ihr nicht genommen (die Lebenslust, aber auch die sexuelle) und versucht wieder und wieder ins Leben zurückzukehren...

Dadurch hat sie mich angerührt und ich finde die oben genannten Theaterollen sollten mehr lavinias Platz auf der Bühen machen :grin:

Mir gefällt diese Wendung, sie ist neu und weniger europäisch kränkenld...
daher das Gedicht.

Was den Zeilenumbruch angeht, kann ich dir folgen, dann sehe ich das gleiche Problem aber auch für die letzte Strophe, oder?

Wie sieht es denn so aus?

Möge das Theater
vielen deiner Kinder ein Zuhause sein

Ophelia und ihre Schwestern
haben es allzu lang bewohnt


Was sagst du denn zu max Vorschlag, was die betonung der einen Stelle angeht?
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Gast

Beitragvon Gast » 22.06.2006, 10:38

Liebe Lisa,
ich habe die Kommentare und deine Erläuterungen nur überflogen, statt dessen dein Gedicht 3x in kurzen Zeitabständen gelesen:

§blumen§

WUNDERBAR, unabhängig vom Theaterstück, wirkt es auf mich, so als wenn du die Kraft eines unbändigen freidenkenden Geistes, dem die körperliche Versehrtheit nichts anhaben kann, beschreibst.

Nur die Eisenarme... sind für mich keine Metapher, die ich mit Glut (innere Kraft) in Verbindung bringen würde...
Gibt es da einen Ausweg?

Liebe Grüße
Gerda

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 22.06.2006, 10:56

Liebe Gerda,

danke :grin: .

Zu der Eisenarm-metapher: Lavinia bekommt in dem Stück Eisenarme (übergestülpt)....mit denen sie versucht ihren neuen Liebhaber (übrigens einer ihrer Schänder) zu umarmen, was diesen aber (natürlich) abschreckt...

ich wollte daher ihre Lust in diesem künstlichen Körperteil ansiedeln, weil sie selbt mit dieser prothese versucht, ihre Lust auszuleben und sich dem anderen zu öffnen...

Die Eisenarme würde ich also gerne behalten....allerdingsd über die Formulierungart (Satzstellung, das Wort Glut) lässt sich sicher reden, falls du also einen Vorschlag hast, nur her damit :grin: . Du hast recht, das klingt noch nicht nach dem, was ich bezwecken wollte.

Liebe grüße,
Lisa
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carl
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Beitragvon carl » 23.06.2006, 09:55

Liebe Lisa,

ich finde das Gedicht wunderbar!
Auch ich kenne "Lavinia" nicht, aber das Gedicht ist selbsterklärend. Vielleicht ist mit "Schatten deines Verlobten" das Geschehen etwas schwach angedeutet, aber es reicht.
Die neuen Zeilenumbrüche gemäß Arams Kritik finde ich besser, allerdings teile ich Max's Auffassung nicht:
"für dich nicht"
ist die Fortsetztung des Fragesatzes, ob sich denn nach dem Unglück ein Weiterleben lohne?, der ihn zu einer Antwort ummünzt.
Sehr gelungen!
(Und nebenbei derselbe stilistische Trick, den ich in "Frage nach dem Regen zum Schluss anwende, bis hin zur eigenen Strophe. Soviel als Antwort auf Deine dort gestellte Frage.)

Liebe Grüße, Carl

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 23.06.2006, 10:51

Lieber carl,

das ist herrlich:

(Und nebenbei derselbe stilistische Trick, den ich in "Frage nach dem Regen zum Schluss anwende, bis hin zur eigenen Strophe. Soviel als Antwort auf Deine dort gestellte Frage.)


Das ich Kniffe verwende, die ich gleichzeitig nicht verstehe ( :-$ O:) ).

Mit dem Zeileumbruch habt ihr recht. Ich habe es geändert, aber sollte dann nicht auch die letzte Strohe zum Zweizeiler werden?
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