Gewöhnung

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Klara
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Beitragvon Klara » 22.04.2010, 13:39

Gewöhnung

Wir werden uns an die Trauerfeiern
gewöhnen und an die Särge
die professionell Betroffenen
die antreibenden Leitartikel,
die verantwortungsvoll umwölkten
Gesichter der Eliten, die schwer an der Verantwortung tragen

Wir werden uns an die Schauermusik gewöhnen,
und an einen Kriegsminister
der in schwarzgegelten Reden
seine eigene Tochter als PR-Anekdote missbraucht
für Propaganda-Tapferkeit
Gewehr bei Fuß oh Freude schöner Kriegerfunken
aus der rasch entstaubten Mottenkiste gekramt wie all die anderen
sinnlosen Erklärungen und sinnlosen Orden für sinnlose Tode

Wir werden uns an die Bereitschaft gewöhnen
weitere Tote in Kauf zu nehmen
im Namen einer verschleierten Sache, und wie diese Sache
die Toten begräbt
als hätte es sie nie gegeben

Wir werden uns an die Worte gewöhnen
die „Gefallenen“
die „feigen Mörder“ auf der Gegenseite, und wie
die toten Helden auf der richtigen Seite liegen
an neue Dolchstoßlegenden und wie Demokratie oder was davon übrig ist
notwendig schrumpft, wenn der Krieg wächst (denn auch das liegt in der Natur der Sache)

Wir werden uns an das Vakuum gewöhnen,
das die frühere Leere verdrängt, derer wir überdrüssig wurden
(Yoga und Latte Macchiato und fünfmal im Jahr Thailand, Borneo oder Fußball kicken nicht mehr
genug), werden unsere Skepsis verlieren, angezogen von der Übermacht
eines Unterdrucks, als wäre auch das sich ausbreitende großmäulige Nichts
eine Frage der Physik, die betörende Verklärung: Das Sterben von Kämpfenden macht mehr
her als Parlamentarierpalaverhäppchen, solang es nur, kriegstrauergoldkantenumrahmt,
aus dem Fernseher tränt

Wir werden uns ans neue Militärische gewöhnen
mit seinen alten Verheißungen und wiedergeborenen Männlichkeiten.
und vergessen, dass Wahrheit oder auch nur die Frage danach die Truppen ins Stocken brächte
und auch Moral nicht ursächlich bewegt, wenn andre Interessen Soldaten zum Schießen bewegen
gutbürgerlich verpackt, damit wir zugreifen, kaufen.

Und werden irgendwann einsehen
dass auch dieser Krieg nur im Nachhinein
unvermeidlich war,
keineswegs „alternativlos“
wie sie uns töricht jetzt weismachen
während sie uns wieder mal (selbst im Dunkeln stochernd)
hinters Licht bringen

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 22.04.2010, 15:22

Hallo Klara,

nichts gegen den treffenden Inhalt im allgemeinen, aber ich habe das starke Gefühl, dass dieser Text irgendwo in seinem Verlauf an den Punkt gekommen ist, wo ein "Mehr" nicht mehr gleichzeitig ein "Besser" ist, und weiter ging, ohne ihn zu bemerkt zu haben...

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Klara
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Beitragvon Klara » 22.04.2010, 16:06

Hallo ferdi, na ich schau's mir daraufhin noch mal an :)

Klara
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Beitragvon Klara » 22.04.2010, 16:09

p.s. aber vielleicht wäre jenes von-dir weiterlesen-ohne-ihn-bemerkt-zu-haben auch genau der punkt...

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leonie
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Beitragvon leonie » 22.04.2010, 16:23

Obwohl ich inhaltlich völlig mit Dir übereinstimme (ich kannte die Trauerrede noch nicht, da kriege ich echt die Krise, noch mehr als ich sie sowieso schon habe, wenn es um dieses Thema geht. Ich würde gerne eine Liste der Menschen machen, die bei jedem dieser Anlässe verlesen werden muss, und auf der die verzeichnet sind, in deren Namen dieser Einsatz ganz sicher nicht geschieht), ist mir der Text einfach zu direkt, ich empfinde ihn eher als eine sehr eloquente und engagierte politische Rede, was er aber ja vermutlich nicht sein sollte in Deiner Intention, oder? Ich denke, das hat viel mit den expliziten Wertungen zu tun, die Du vornimmst. Ich kann mir auch vorstellen, dass man deshalb irgendwann zu lesen aufhört, so wie man den Politikern auch irgendwann nicht mehr zuhören mag. Es ist dann für mich manchmal so, als traue der Autor/Redner den Hörern/Lesern nicht zu, sich ihr eigenes Urteil zu bilden. Mir geht es jedenfalls so...

Liebe Grüße

leonie

Niko

Beitragvon Niko » 22.04.2010, 20:47

klara...-hallo!
als ich den text erstmalig las, dachte ich: wie macht die das blos. sie hat einen schnörellosen trockenen stil und packt mich damit (vielleicht wegen dem stil). doch in etwa ab "wir werden uns an das vacuum gewöhnen" macht der text für mich etwas, was mir das gebannt sein nimmt. "man" (ich) hat das gefühl, dass du dich regelrecht in rage geschrieben hast. es wird mir ein wenig zu dick aufgetragen, zu polemisch.
(denn auch das liegt in der Natur der Sache)
- scheint mir überflüssig. das kann der leser ja für sich erkennen..
(Yoga und Latte Macchiato und fünfmal im Jahr Thailand, Borneo oder Fußball kicken nicht mehr genug)
auch hier: mir ist es zuviel. es ist für mich eins der ersten zeichen, dass es zu polemisch wird.
nur zum besseren verständnis:
ich finde den text insgesamt sehr gut. da sind viele, viele sehr gute abschnitte drin. nur manchmal wirds mir zu dicke. ist vielleicht auch hier weniger mehr?
ich versuch´s mal dreister weise:

Gewöhnung

Wir werden uns an die Trauerfeiern
gewöhnen und an die Särge
die professionell Betroffenen
die antreibenden Leitartikel,
die verantwortungsvoll umwölkten
Gesichter der Eliten, die schwer an der Verantwortung tragen

Wir werden uns an die Schauermusik gewöhnen,
und an einen Kriegsminister
der in schwarzgegelten Reden
seine eigene Tochter missbraucht
für Propaganda-Tapferkeit

Wir werden uns an die Bereitschaft gewöhnen
weitere Tote in Kauf zu nehmen
im Namen einer verschleierten Sache, und wie diese Sache
die Toten begräbt
als hätte es sie nie gegeben

Wir werden uns an die Worte gewöhnen
die „Gefallenen“
die „feigen Mörder“ auf der Gegenseite, und wie
die toten Helden auf der richtigen Seite liegen
an neue Dolchstoßlegenden und wie Demokratie
notwendig schrumpft, wenn der Krieg wächst

Wir werden uns an das Vakuum gewöhnen,
das die frühere Leere verdrängt, derer wir überdrüssig wurden
werden unsere Skepsis verlieren, angezogen von der Übermacht
eines Unterdrucks wie ein sich ausbreitendes großmäuliges Nichts
eine Frage der Physik, die betörende Verklärung: Das Sterben von Kämpfenden macht mehr
her als Parlamentarierscharmützel

Wir werden uns ans neue Militärische gewöhnen
mit seinen alten Verheißungen und wiedergeborenen Männlichkeiten.
und vergessen, dass Wahrheit oder die Frage danach die Truppen ins Stocken brächte
und auch Moral nicht ursächlich bewegt, wenn andre Interessen zum Schießen bewegen
verpackt, damit wir zugreifen, kaufen.

Und werden irgendwann einsehen
dass auch dieser Krieg nur im Nachhinein
unvermeidlich war,
keineswegs „alternativlos“
wie sie uns töricht jetzt weismachen
während sie uns wieder mal (selbst im Dunkeln stochernd)
hinters Licht bringen



nur maximal als anregung gedacht....

lieben gruß: Niko

Klara
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Beitragvon Klara » 23.04.2010, 08:43

Danke für eure Rückmeldungen und Hinweise,

ich werde das erstmal mal sacken lassen.

Herzlich
klara

Klara
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Beitragvon Klara » 23.04.2010, 09:49

dann wär das ein beispiel dafür, wie schwierig es ist, politische gedichte zu schreiben, ohne pathetisch und redundant zu werden.

aber vielleicht muss und will ich das in diesem moment, pathetisch und redundant werden, auch wenn es völlig nutzlos ist.

bring 'em home. mann, ich hab angst.

http://www.youtube.com/watch?v=yApAg0hl490


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