Ein Grab

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
moshe.c

Beitragvon moshe.c » 12.06.2006, 19:34

Als ich hinabstieg ins Grab
warf ich einen Schatten
und legte mich hinein.

Er wollte mich nicht
so stand ich wieder auf
und war ohne ihn.
Zuletzt geändert von moshe.c am 13.06.2006, 17:33, insgesamt 1-mal geändert.

claire.delalune

Beitragvon claire.delalune » 12.06.2006, 22:59

hallo moshe c.
deinen text habe ich schon mehrfach gelesen. zunächst las ich ihn an anderer stelle und nun versuche ich, ihn unabhängig von dem dortigen zusammenhang zu sehen. er spricht mich an - doch fällt es mir trotzdem schwer, ihn zu interpretieren. oder gar meine gedanken in worte zu fassen.
so belasse ich es damit: ein text, der mich zum nachdenken bringt. den ich sicher auch noch eine weile bewegen werde.

lieben gruß,
kathrin

Gast

Beitragvon Gast » 13.06.2006, 07:49

Guten Morgen Moshe,

so habe ich dein Gedicht verstanden:
Das lyr. Ich ist sterbenskrank, bereit zu sterben, hat die Schwelle zum Tod eigentlich überschritten, schon hoffnungslos, erfährt Besserung, Heilung und lebt!

Oder:

Eine Unfallsituation, in der sich das lyr. Ich dem Tode nahe weiß, bzw. nur noch den Tod vor Augen hat...
Doch es erfolgt Rettung.

Ein Geheimnis des Lebens und des Sterbens, welches mir schon des öfteren bei Menschen begegnete.

(Wir wissen weder Tag noch Stunde... manche Menschen sagen auch, der Tod [Gläubige: Gott] hat mich noch nicht gewollt).

Sehr sorgsam, gut in Worte gefasst, das Todesahnungsbild als Schatten im Grab, es entbehrt nicht einer gewissen Ironie und Leichtigkeit und vermittelt dadurch ein Stück Lebensweisheit.

Sehr gern gelesen.

Liebe Grüße
Gerda

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 13.06.2006, 09:30

Hallo Gerda und moshe,

das ist interessant - ich lese das Gedicht thematisch (davon ab halte ich es für ebenso gelungen) ganz anders...

Allerdings kann man das Thema analytisch beschreibend für mich nur platt wirkend anschneiden und schafft damit nicht, was das gedicht schafft.

Für mich geht es um eine Art eigenen Tod/Ablegen sterben, um man selbst zu bleiben/werden....bzw. gar kein bewusstes Handeln sondern ein geschehen (wie der Lauf der Sonne , der ja auch (noch :grin: ) von den Menschen unabhängig geschieht).

Was der Schatten genau ist, und was das Nicht-wollen muss meiner Meinung unkonkret bleiben, weil man das gar nicht wissen kann.

Moshe: Deine Texte haben für mich oft etas philosphisches, zudem ich anfangs dialektisch sagen wollte, ich weiß aber inzwischen (für mich), dass es dieses Wort nicht trifft, da es eine Art Auflösung gibt.

ich weiß - ich habe inhaltlich nur angeschnitten, mich serh vage geäußert, aber ich wollte nur schreiben, dass für mich das gedicht nicht vom Tod selbst erzählt (als Fokus), sondern eher von einem Vielfachen gleichen...

Liebe grüße,
Lisa

PS: Keine Formkritik, für mich so völlig geschliffen.

Last

Beitragvon Last » 13.06.2006, 09:52

Hallo Moshe,

das (Gedanken anregende) Gedicht ist wohl so allgemein gehalten, dass jeder seine eigene Empfindsamkeit hineintragen kann (was auch der Grund sein dürfte warum es so schwer fällt Worte zu finden.

Jemand lebt, beschäftigt sich aber mit dem Tod, weil er nicht Probesterben kann missbraucht er seinen Schatten als Vorhut, dem er sich dadurch auch zu entledigen scheint. Es macht den Eindruck, als sei der Schatten negativ gewertet, ist er aber nicht zwangsläufig. Das lyr. Ich kann gestärkt aus dem Prozess hervorgegangen sein, oder auch etwas verloren haben (oder beides). Dieses etwas (der Schatten) besteht aus den Konturen des Individuums, sowie einer Komponente des Unbekannten, hier ist also der Leser persönlich gefragt, den Schatten zu füllen.


Vorschlag:

Als ich hinabstieg ins Grab
warf ich einen Schatten
und legte mich hinein.

Er wollte mich nicht
so stand ich wieder auf
und war ohne ihn.

Der Parallelismus hat auf mich keine emotionale Auswirkung, daher kann man das "und" m.E. getrost streichen, zwei "Füllwörter" hinter einander (und und so) klingt nicht sehr anspruchsvoll.

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leonie
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Beitragvon leonie » 13.06.2006, 10:27

Hallo moshe c.,
ich habe Dein Gedicht eher in Lisa Sinne verstanden. Gerda, Deine Interpretation finde ich auch interessant. Auf jeden Fall habe ich viel zum Weiterdenken in Deinem Gedicht:
Wenn ich davon ausgehe, dass es sich noch nicht um den endgültigen Tod handelt, ist für mich die Frage, wofür genau der Schatten steht. Denn man kann ja seinen Schatten nie ganz hinter sich lassen.
Entsteht der Schatten erst als das lyrIch ins Grab steigt? Legt es sich in den Schatten oder ins Grab oder beides?
Interessant auch die Formulierung „er wollte mich nicht“. Meistens ist es ja umgekehrt, dass man selbst den Schatten nicht will.
Bin gespannt, was Du selbst dazu sagst!
Liebe Grüße
leonie

Louisa

Beitragvon Louisa » 13.06.2006, 14:01

Hallo moshe.c!

das ist sehr schön!

Ich glaube es geht um die Loslösung der Seele vom Körper und vom Schatten, wenn man gestorben ist.

Richtig?

Grüßlein, louisa

steyk

Beitragvon steyk » 13.06.2006, 15:13

Hallo moshe,
tolle Worte. Ein Text, der viele Interpretationen zuläßt - bis hin zum pantastischen. Ich tendiere allerdings zu Gerdas Meinung. Der Schatten ist eine Krankheit.

Gruß
Stefan

Max

Beitragvon Max » 13.06.2006, 16:46

Hallo Moshe,
spannend, Dein gedicht und die vielen Interpretationen, die man hierzu findet. Ich würde es weniger direkt auf Tod hin interpretieren, sondern eher auf Trauer, das Überleben einer schwierigen Phase und das leichte, schattenlose Leben danach.
Formal - das soll ja hier wichtig bleiben - stimme ich Lasts Vorschlag zu.


Liebe Grüße
Max

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 13.06.2006, 18:04

Hallo, und danke für eure Auseinandersetzung!

Daß dieses Gedicht verschiedene Interpretation zuläßt, ist für mich ein Gütezeichen.
Für mich gibt es nicht DIE Sichtweise der Welt und deren Umstände.
Für mich gibt es verschiedene Meinungen über diese Welt, die meist mit den Lebensumständen des/der Betreffenden zu tun haben.
Für mich gibt es verschiedene Wahrnehmungen dieser Welt. Z.B. nimmt jemand, der nicht hören kann, diese Welt auf ein spezifische Art war. Jemand, der nicht sehen kann, auf eine andere, usw..
Für mich gibt es verschiedene Auslegungen dieser Welt, die mit dem jeweiligen Bewußtsein der Person zu tun haben. Z.B nimmt ein Kind, welches die gängige Zeit-Beschreibung noch nicht kennt, diese Welt auf spezielle Weise war.

Ich werde in diesem Falle mal meine Interpretation dieses Gedichtes nicht schreiben, weil die dann zu leicht zu DER Interpretation würde und eure eigenen beeinflußen könnte.
Mir gefällt folgendes Bild: Mein Gedicht ist ein Kreis und eure Interpretationen sind auch Kreise, die jeweils eine Schnittmenge mit meinen Gedicht bilden.

last: deinen Vorschlag habe ich gern angenommen und ediert.

Leonie: Man kann den Schatten nicht hinter sich lassen im täglichen, aber ich habe gelernt, daß man ihn unter sich lassen kann: In südlichen Gefilden steht die Sonne des Mittags genau über einem und dann hat man auf keiner Seite mehr einen. Im Moment habe ich mittags auch fast keinen Schatten mehr, er ist unter mir.

moshe.c


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