ich esse

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
moshe.c

Beitragvon moshe.c » 11.06.2008, 20:20

ich esse
also bin ich

schwankend aus
dem grund

doch geworden
eine verdauung

jetzt
und dann?

wieder ein Tor
für die anderen

Mucki
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Beitragvon Mucki » 18.06.2008, 01:14

Hi Moshe,

verstehe ich deinen Text richtig, wenn ich ihm die Evolution des Menschen lese und dass diese in dem Sinne weitergehen wird, dass der Mensch wiederum für andere Nahrung sein wird?
fragt sich
Mucki

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 18.06.2008, 09:23

Ich muss zugeben, dass ich auch ratlos bin.

Niko

Beitragvon Niko » 18.06.2008, 10:00

hi moshe!
guter inhalt. geschickt zerfranselt mit zeilenbrüchen. essen ist nahrung aufnehmen. hier ist nicht speise gemeint oder brot. obwohl....metaphorisch gesehen würde brot hier gut reinpassen.
ich nehme auf, also bin ich - schwankend aus dem grund doch geworden...... ja.....alles, was man aufnimmt, muss verarbeitet werden. bis es soweit ist, ist ein prozess in gang. es arbeitet und macht unsicher, wirft alte werte aus der bahn, sich selbst aus der spur........ aber dann (geschickt gesetzt) : doch geworden. trotzdem oder eher . gerade deswegen wird etwas aus einem. es formt und prägt den menschen. "eine verdauung jetzt - und dann?" deutet darauf hin, dass es ein prozess ist, von dem lyrich ahnt, dassder niemals aufhört im leben. "wieder ein tor für die anderen. ich mag darin den tor sehen (thor?) aufnahme macht nackig. gibt die sichere deckung preis. und schon ist man spielball für die mitmenschen. da angreifbar.

gefällt mir, was ich mir daraus lese!
gern verdaut: Niko

Mucki
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Beitragvon Mucki » 18.06.2008, 11:58

das
"wieder ein Tor
für die anderen" könnte man auch im Sinne von Reinkarnation verstehen, also aus einem Leben, dass stirbt, entsteht ein Neues, fällt mir gerade so ein.
Saludos
Mucki

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 18.06.2008, 17:15

Hallo!

Ich gebe zu, daß dies ein sehr schwieriger Text ist, sehr persönlich noch dazu.
Niko hat ihn jetzt so gelungen seziert und auf den Punkt gebracht, daß ich da nichts weiter Erhellendes beitragen kann, als den Umstand, hier einen Tor gemeint zu haben.

Liebe Mucki!

Du denkst hier zu weiträumig. Es ist ein introvertierter Vorgang im Zusammenhang mit der Umwelt, mit unserer Kultur.

MlG

Moshe

Last

Beitragvon Last » 22.06.2008, 09:18

Guten Morgen Moshe,

ein -meiner Meinung nach- durchwachsener Text. Starker Beginn "ich esse/ also bin ich" (wahrscheinlich die Ausgangsidee?) dann kontinuierlich abnehmend, oder es wird in eine Richtung gelenkt mit der ich weniger anfangen kann.
Den Toren habe ich nicht selbstständig gelesen, aber dadurch, dass du es ansprichst kann ich den Text schon etwas besser aufnehmen. So lese ich nicht nur die eine Redewendung sondern auch eine andere "da steh' ich nun, ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor!" Also ein Bezug zum Faust, der doch zu meiner anfänglichen Deutung passt.

Ich lese als Kritik am Informationszeitalter. Das cartesianische cogito wird auf einen Verdauungsprozess reduziert. Gekürzt um den schöpferischen Aspekt und in der Bildebene des Essens präsentierst du ein derberes, ja ein plumperes (bildlich gesehen sogar molliges) Menschenbild, dessen res cogita (=das Geistliche) zum bloßem res extensa (=das Physikalische) verkommt.
Resultat dieser Beschränkung sind Entscheidungsschwierigkeiten ("schwankend aus dem grund") und Probleme des Werdens, "jetzt und dann?", ja, was ist dann? Was soll nur werden?
Mit dem Tor, der nur durch Konsum lebt, und deshalb wenig gesellschaftliche Achtung erfährt schließt du diesen Kreis. Für meine Lesart verwunderlich, dass hier diese Kritik auftaucht und sich der Tor nicht mustergültig in die Gesellschaft einfügt. Er hat sich rausgegessen. Seine mangelnde Konsequenz macht ihn zum Gespött (wieder das Bild eines dicken Menschen). Damit beginnt aber der Zirkel von neuem. Nur in einem anderen Verständnis (Fresssucht). Der Konsum schließt sich als Problemlösung an. Ein Teufelskreis.

Was mich etwas stört ist die Entwicklung des Textes, aus der allgemeineren in eine speziellere Lesart (vielleicht vollzieht sich dieser Wechsel aber nur in meinem Kopf?). Prinzipiell ist diese Entwicklung zwar nicht abzulehnen, hier steht sie aber nicht so, dass eine allgemeine Gegebenheit auf eine Person angewendet wird, die daran leidet oder profitiert. Hier lese ich einfach ein kleineres Allgemeines. Die persönliche Schiene, die du angesprochen hast, finde ich nicht.
Gut gefällt mir aber, wie durch diese zwei Lesarten ein Zirkel antsteht. Formal ist das gut gemacht. Auch die stark reduzierte Sprache ist passend zum stark resultierten Menschenbild.

LG
Last

[Edit]: Ich finde auch eine psychologische Ebene. In einem Buch über Carl Gustav Jung habe ich mal gelesen, dass er meint, die Psyche sei mehr als Erziehung genau so wie der Körper mehr sei als alles, was wir essen. Daran habe ich mich hier auch etwas erinnert gefühlt.

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 23.06.2008, 20:43

Lieber Last!

Niko hat eine sehr gute persönliche Lesart beschrieben, du zeigst eine etwas weitere auf, die auf eine 'Kritik der Informationsgesellschaft' und den daran beteiligten Personen verweist.
Information wird konsumiert, ohne Frage. Man fühlt sich informiert und als selbstbewußter Mensch dadurch, kann man dann mitreden. Man weiß so viel, daß man ganz dick ist davon, und immer alles besser weiß als andere.
Toll.
Das dumme ist nur, daß diese Informationen, auch gerade wenn sie mit dem Siegel 'Wissenschaftlich' oder 'Heilig' daher kommen, beständig wechseln.
Aus meiner Perspektive wird man dadurch zum Toren: Das, was heute als 'wahre' Information' beim Konsumenten ankommt und gegessen wird, stimmt morgen nicht mehr.
Und eben selbst im Bereich der Ernährung geht das so: Was vor fünfzig Jahren als gesund galt, wurde vor dreißig Jahren verworfen und etwas Neues behauptet, und was vor dreißig Jahren als gesund galt, wurde vor zehn Jahren verworfen und etwas Neues behauptet, und.....

Du ahnst den schwankenden Grund, aber sicher ist der nicht, nicht mehr?
Niko kennt ihn. Ich meine ihn auch zu kennen: Ein festes Subjekt.
Das ist aber in diesem Wirrwar nicht so einfach herzustellen.

(Nebenbei: Es gibt ne lange Debatte über die Subjekt - Objekt- Beziehung. Ich bin durch die Frankfurter Schule, Bloch, und durch die nachfolgenen Diskussionen im französichen Raum geprägt.)

Danke für deine Gedanken.

MlG

Moshe

Last

Beitragvon Last » 23.06.2008, 22:13

Lieber Moshe,

Du ahnst den schwankenden Grund, aber sicher ist der nicht, nicht mehr?
Niko kennt ihn. Ich meine ihn auch zu kennen: Ein festes Subjekt.
Das ist aber in diesem Wirrwar nicht so einfach herzustellen.


Ich bin mir gerade nicht einmal sicher, ob ich den schwankenden Grund überhaupt ahne. Ein festes Subjekt, was soll das sein?

LG
Last

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 23.06.2008, 22:49

Lieber Last!

Na eben, man ist sich seiner Selbst nicht mehr sicher und so kommt es zu der Frage: Ein festes Subjekt, was soll das sein?

Das Subjekt hat sich in der vorgeblichen Objektivität verirrt, und nun wird es zum Spielball.

Einfach: Ich bleibe bei meiner Methapher hier und ziehe sie in den Alltag: Was schmeckt dir? Weißt du noch, wie dies und das vor zwanzig Jahren schmeckte. und dir damals gut?

Was ist davon noch übrig?

Wie fühlte sich ein Tag damals an, und was ist heute?

Ich bleibe weiter einfach: Weißt du noch, wie eine Himbeere im Wald schmeckte? Und wie schmeckt das heute im Himbeerjoghurt der Firma XYZ?

Und was ist aus dem Begriff Liebe geworden?
Man bekommt den Begriff Liebe heute im Zusammenhang zu Objekten serviert, und eine Frau kann man sich aus einem Katalog auswählen. Toll.
Hier wird aus der Subjektivität auch noch der letzte Winkel in
Objektivität umgeschrieben.

'Ich bin objektiv,
also lebe ich'

'Ich bin Objekt,
also lebe ich'

In der Schweinezucht führt man die ertragreichsten Paare schon seit langem zusammen, und nicht nur dort, um ein Optimum zu erreichen, welches deffiniert ist.

Genug

MlG

Moshe

Last

Beitragvon Last » 24.06.2008, 09:48

Lieber Moshe,

Und was ist aus dem Begriff Liebe geworden?
Man bekommt den Begriff Liebe heute im Zusammenhang zu Objekten serviert, und eine Frau kann man sich aus einem Katalog auswählen. Toll.
Hier wird aus der Subjektivität auch noch der letzte Winkel in
Objektivität umgeschrieben.


Du bist nicht der Einzige, den das befremdet. Und weil es welche gibt, die anders denken, sind wir fern vor dieser Art der Objektivität.
In deinem Gedicht begrenzt du ja den Menschen auf seine Sinne, seine Wahrnehmung, seine Perspektive. Du zeigst Folgen auf und kritisierst somit diese Objektivierungsmode.
Ich stimme insofern zu, dass es diese Mode wirklich gibt. Aber ich sehe das wohl etwas gelassener. Veränderung ist nicht prinzipiell schlecht und objektives Denken ist in vielen Bereichen notwendig. Es wird momentan damit übertrieben, aber das wird nicht ewig so bleiben.
Ein Subjekt ist ja nicht seine Perspektive, seine Situation oder seine Wahrnehmung. Ich bin nicht Eltern, meine Bildung oder meine Meinung. Das Himbeerjoghurt anders schmeckt als früher finde ich gut. Daran merke ich, dass ich lebe.
Einem Subjekt kommt immer noch der aktive Part in einem deutschen Satz zu: Subjekt-Prädikat-Objekt. Selbst in dein lyr. Ich ist selbst aktiv. Es isst. Diese Aktivität beschreibt das Subjekt, was es denkt, was es sagt, was es tut.
Diese Aktivität richtet sich aber niemals primär an Objekten aus. Im Fokus der eigenen Aktivität steht imer ein anderes Subjekt. Wenn wir mit Dingen sprechen, werden sie subjektiviert (z.B. Stofftiere bei Kindern oder der Volleyball, mit dem Tom Hanks als moderner Robinson Crusoe in "Cast Away" spricht).
Das moderne Subjekt, dem deine Kritik gilt, steht im Einfluss einer Welt in das wissenschaftliche Denken im Vordergrund steht. Dieses wissenschaftliche Denken ist aber zunächst selbst ein aktiver Eingriff in das Weltgeschehen bevor er -lediglich als Modell, als Hilfestellung- das Wahrgenomme radikal objektiviert. Die religiöse Gegenposition, die ich persönlich -zum Glück- größtenteils nur an der Kreationismusdebatte miterlebe, tut nichts anderes. Der Gottesbegriff hat aber, im Gegensatz zum wissenschaftlichen Wahrheitsbegriff, den Vorteil, dass er ein Subjekt bezeichnet. Leider bemerken das viele Gläubige (scheinbar) nicht mehr.

Hmm, ich muss mich jetzt Niko anschließen: "guter Inhalt." :smile:

LG
Last

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 24.06.2008, 18:53

Lieber Last!

Mein Gefühl sagt mir, daß du jemand bist, mit dem ich trefflich nächtelang an einem Lagerfeuer debatieren könnte.
So könnte es auch hier weiter gehen. Aber da es ein Lyrikforum ist und der Inhalt meines Textes verständlich wurde, schmeiße ich lieber demnächst einen neuen Text in die Runde, an dem die Diskussion weitergehen kann.
OK?
Wenn nicht, schreibe ich auch gern ne neue Replik hier.

Sei gegrüßt von

Moshe

Last

Beitragvon Last » 25.06.2008, 17:43

Mein Gefühl sagt mir, daß du jemand bist, mit dem ich trefflich nächtelang an einem Lagerfeuer debatieren könnte.
So könnte es auch hier weiter gehen. Aber da es ein Lyrikforum ist und der Inhalt meines Textes verständlich wurde, schmeiße ich lieber demnächst einen neuen Text in die Runde, an dem die Diskussion weitergehen kann.
OK?


Ok.


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